Die Wucht des Missbrauchskandals hat die deutsche Kirche erfasst. Dass kaum etwas so bleiben kann, wie man dachte, wird vielen klar. Das gilt auch für die Frage nach der Kirchenerneuerung. Martin Brüske spürt dieser Lage nach. Teil 2 unserer Monatsserie zu diesem Thema.
Die Logik der reinen Selbsterhaltung erwies sich – nicht zum ersten mal – als tödliche Falle. Die Institution, die in ihrer Selbstaussage von sich behauptet Sakrament der anbrechenden Gottesherrschaft zu sein, wurde für Opfer und Öffentlichkeit zum Diabol – wie man es im Anschluss an den Pastoralpsychologen Hermann Stenger formulieren kann.[1] Und auch dieses Diabol war ein höchst reales, Realdiabol, und nicht nur ein wahrgenommenes. Denn es hat höchst real Menschen zerstört – allerdings ist auch seine Fratze jetzt offenbar geworden: Die oberste Priorität des institutionellen Selbstschutzes erzeugte ihr Gegenteil.
In den Mechanismen des Selbstschutzes zeigt die Institution ihre Fratze.
Hätte man doch nur schlicht das Evangelium gehört, unmittelbar und direkt und einfach: Wer sein Leben bewahren will, der wird es verlieren, wer es aber um meinetwillen verliert, wird es bewahren in Ewigkeit. Aber raunt es da im Hintergrund nicht schon: Unterkomplex! Biblizismus! Fundamentalismus!? Denn die Klugheit dieser Welt wird immer behaupten, dass nur der eine Chance habe, der selber vorsorgt, um das zu erhalten, worin er sein Lebenskapital investiert hat.
Natürlich: Auf einer zweiten Ebene gibt es tatsächlich Klugheitsregeln. Die Institution muss sich nicht systematisch selbst beschädigen. Aber priorisiert sie die Logik der Selbsterhaltung, dann macht sie sich zu ihrem eigenen Götzen. Es gibt sie, die Mischung aus Idolatrie und ekklesialem Atheismus bis in höchste Kirchenkreise. Solch idolatrischer, ekklesialer Atheismus ist in der Lage, ein vollkommen orthodoxes, „korrektes“ Credo aufzusagen und ist doch in Wahrheit ohne Gott. Wer es konkret haben will, der recherchiere bei Google „birthday“ und „Cardinal Burke“. Ich gestehe, dass ich das, was ich sehe, für widerwärtig und für Blasphemie halte.
Es gibt einen ekklesialen Atheismus – bis in die höchsten Kirchenkreise.
Die Anbetung solcher Idolatrie gilt einem inneren Bild der Kirche. Und selbstverständlich gibt es das ebenso auf der anderen Seite des kirchenpolitischen Spektrums, wie auch in massvoller Mitte. Nicht nur Restaurations- sondern auch Reformprogramme können idolatrisch und ekklesial atheistisch sein, folgen sie einer prioritären Logik der institutionellen Selbsterhaltung. Dies also ist das erste Kriterium einer ekklesialen Unterscheidung der Geister [2].
Umgekehrt und positiv: Nur wer bereit ist die Kontrolle abzugeben, auch dann, wenn die Folgen unabsehbar und tödlich sein können, zeigt damit greifbar an, dass er auf den Gott Israels, der der Gott Jesu ist, der ihn aus Toten erweckt hat, vertraut. Dominus providebit, Gott sieht vor – und nicht der Vorsitzende der Bischofskonferenz, ebensowenig wie die, die jetzt zu wissen meinen, wie die Kirche der Zukunft auszusehen hat, seien sie altgediente Praktiker oder die intellektuellen Heroen des akademischen Oberseminars.
Der Herr selbst sieht vor für seine Kirche – und das heißt: Kontrolle abgeben!
So stellt die Missbrauchskrise – und zwar genau in dieser Konkretion und nicht in leerer Abstraktion – nichts anderes als die Gottesfrage. Es geht hier um den praktischen Monotheismus des ersten Gebots, der tagtäglich Gott und Welt und Gott und Götze unterscheidet. Und so zu reden bedeutet dann keine Spiritualisierung (als Form der Flucht), sondern die Nennung des alles entscheidenden Kriteriums jeder Reformdebatte, die auf eine wirkliche Erneuerung der Kirche zielt. Um es ganz konkret zu machen: Es war gut, dass die Kirche im Blick auf den deutschen Missbrauchsbericht die mediale Kontrolle verloren hat – und es hängt viel daran, ob sie einen solchen Kontrollverlust theologisch und geistlich zu lesen lernt.
Hat man nicht den Mut so weit zu gehen, dann wäre es wirklich besser, man beschränkte sich sehr konkret und nüchtern auf alles, was im Bereich anderer Institutionen erfahrungsgemäss präventiv wirkt und evaluiere und verbessere es dauernd, man würde auch als Kirche und nicht nur für den einzelnen Täter Verantwortung übernehmen. Das würde sich ganz elementar auch in der Höhe von Entschädigungen ausdrücken, übrigens in Jahren mit enorm hohem Kirchensteueraufkommen!
Man muss über Entschädigungen reden – und über deren Höhe.
Und man würde endlich konsequent und mit sozial- und humanwissenschaftlicher Nüchternheit all die Mechanismen, Klerikalismen und Machtgefälle analysieren, die ein (furchtbares Wort!) „täterfreundliches“ Milieu geschaffen haben; nicht zuletzt würde man proaktiv und nicht nur unter Druck für grösstmögliche Transparenz sorgen, mag sie auch noch so beschämend und schmerzhaft sein.
Das ist nicht wenig und absolut notwendig. Und ich hoffe, dass jetzt nicht nur die Rhetorik subtiler geworden ist, ja, nicht allein Taten folgen, sondern eine neue Haltung glaubwürdig greifbar wird. Eine neue Haltung, an deren Wurzeln schlicht eine wirkliche Bekehrung steht. Denn, will man die Kirche geistlich nicht aufgeben: Selbst Rhetorik und Taten allein genügen nicht zu ihrer substantiellen geistlichen Erneuerung. Die Missbrauchskrise zeigt zuerst und zuletzt, dass diese Kirche geistlich krank ist. Und gerade in ihrer konkreten Inhumanität zeigt sich das.
Eine solche Kirche ist geistlich krank.
Inhumanität und geistliche Krankheit lassen sich nicht trennen. Wie anders als in dieser Einheit sollte man benennen, was sich in vielen Berichten zeigt. Daniel Deckers hat letzthin einen exemplarisch ausgebreitet [3]: Nicht nur institutionelle Selbstschutzlogik in tausend Varianten der Vertuschung wird da sichtbar. Sondern sie hat in den Beteiligten ein affektives Pendant oder besser gesagt einen affektiven Ausfall: eine, nach allem was sichtbar wird, praktisch totale Empathielosigkeit mit den Opfern. Obwohl ich viel wusste: Das hat mich eigentlich am tiefsten erschüttert und tut es immer wieder neu; es ist kaum auszuhalten. Und dafür gibt es keinerlei Entschuldigung: Jeder Mensch, der fühlen kann, kann ohne jedes Fachwissen unmittelbar begreifen, was für eine Katastrophe der gewaltsame Eingriff aus einem Machtgefälle in die Intimität eines abhängigen Kindes oder eines jungen Menschen ist. Das ist schon bei einem einmaligen Vorfall so, fast unausdenkbar, wenn es über längere und lange Zeit geschieht.
Das Dramatische ist die totale Empathielosigkeit mit den Opfern – das steinerne Herz der Kirche.
Die biblische Kategorie für solche Empathielosigkeit ist das steinerne Herz. Hier kann letztlich nur der Heilige Geist Abhilfe schaffen. Der aber wirkt nicht ohne uns. Das steinerne Herz als geistliche Krankheit und als die brutale Inhumanität, die sie hervorbringt, sind hier und konkret Resultat einer ebenfalls sehr konkreten sozialen Logik der institutionellen Selbstfixierung. Das Verhalten von Papst Franziskus in der Krise mag nicht über jeden Zweifel erhaben sein; seine Kirchenvision jedenfalls ist es: Allein eine Kirche, die aus dem Vertrauen auf den real wirkenden Gott, der grösser ist als sie und auf den hin sie sich wagen kann, den Weg hinaus aus der Selbstfixierung in die Dezentrierung schafft, ist geistlich und dann auch in ihren Strukturen erneuerungsfähig.
[1] Hermann Stenger, Symbole und Diabole. Überlegungen zur Glaubensästhetik, in: ders., Verwirklichung des Lebens in der Kraft des Glaubens. Pastoralpsychologische und spirituelle Texte, Freiburg, 2. Aufl 1989, 105-129.
[2] Zum systematischen ekklesiologischen Kontext vgl. Martin Brüske, Unterscheidung der Geister als ekklesiologisches Programm. Kleine Kriteriologie für heute, in: Guido Vergauwen / Andreas Steingruber (Hg.) Veni, Sancte Spiritus! Theologische Beiträge zur Sendung des Geistes (= FS Barbara Hallensleben zum 60. Geburtstag; Glaube und Gesellschaft Bd. 7), Münster 2018, 256-270.
[3] http://edition.faz.net/faz-edition/politik/2018-09-15/0bca344705f8eebf4a06cabc5a02d62e/?GEPC=s9
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Martin Brüske, geb. 1964, Dr. theol., bis Sommer 2018 Oberassistent, zuletzt Lehrbeauftragter für Dogmatik und theologische Propädeutik an der Universität Fribourg/CH, freier Schriftsteller und Publizist. Zusammen mit Walter Dürr (vgl. Feinschwarz-Beitrag vom 2. Oktober) gehört er einer Gruppe Fribourger Theologen an, die sich mit der Frage beschäftigt, wie Kirchenerneuerung heute möglich ist.
Foto: Rosi v. Dannen / pixelio.de
Bisherige Beiträge aus der Monatsserie Kirchenerneuerung: