Sterbehilfe ist ein immer wieder heiß diskutiertes Tabu-Thema. In seinem Beitrag geht Werner Ritter auf die vielen Argumente Pro und Contra Sterbehilfe ein. Der Beitrag erscheint in zwei Teilen.
Sterbehilfe – oft mit Euthanasie gleich gesetzt – war in Deutschland lange Zeit Tabu. Erst seit wenigen Jahren zeichnen sich hier Veränderungen ab. Mich hat in dem Zusammenhang ein Artikel des Journalisten Bartholomäus Grill in der ZEIT von 2005 über den Tod seines Bruders Urban sehr nachdenklich gemacht: Urban Grill, an einem Mundbodenkarzinom erkrankt, hatte sich entschlossen, mit Unterstützung seiner Geschwister in die Schweiz zu reisen, um dort – sein Leiden war schrecklich – sterben zu dürfen. Er war deswegen Mitglied bei dem Schweizer Verein Dignitas geworden, weil er nicht wollte, dass sein Sterben verlängert, sondern verkürzt würde. Die Reaktionen auf seinen ZEIT-Artikel seien überwältigend gewesen, schreibt Jahre später Bartholomäus Grill in seinem Buch „Um uns die Toten“ (2014). In der Mehrzahl habe es sich dabei um Hilferufe von Menschen gehandelt, die – verzweifelt krank wie sein Bruder Urban – sich ein würdiges Ende wünschten und nicht wussten, wie und wo sie es finden könnten. Mit aus diesem Grund ist das Thema Sterbehilfe seit einigen Jahren massiv auf die Tagesordnung zurückgekehrt und wird öffentlich wie privat kontrovers diskutiert. Zu recht, wie ich finde.
An der Sterbehilfe scheiden sich die Geister
Von daher verfolgen meine Überlegungen nicht die Absicht, eine Einheitsmeinung in der Sache herzustellen – die gibt es nicht. Wichtig ist mir, unseren letzten Lebensabschnitt von jeglichem kirchlich-theologischen, gesellschaftlichen und staatlichen Diktat frei zu halten. Ich selbst habe bezüglich der Sterbehilfe bislang keine endgültige Position eingenommen, spüre aber, dass ich ihr offener gegenüberstehe als in jungen Jahren.
Wenn jeder „für sich allein“ stirbt, dann muss er sich auch selbst dazu ins Verhältnis setzen.
Mich erstaunt und befremdet
zum einen die Selbstsicherheit, mit der Meinungsführer in der betreffenden Debatte argumentieren, seien sei nun dafür oder dagegen. Dabei sind viele von ihnen weder in einem Alter noch in einer gesundheitlichen Lage, auf Grund deren sie mit einer gewissen Erfahrung oder gar Urteilssicherheit sprechen könnten. Wissen sie denn wirklich, was sie denken und wie sie handeln werden, wenn der Ernstfall da ist? Da fällt kein Wort wie: „ich weiß es noch nicht, ich bin noch auf der Suche“, stattdessen lese und höre ich Statements mit Wahrheits- und Unfehlbarkeitsansprüchen! Zum anderen stört mich die verbreitete Haltung, mit der je eigenen Meinung in Sachen Sterbehilfe, sei sie pro oder contra, über andere bestimmen zu wollen. Ich kann das weder theologisch noch sonst wie akzeptieren, weil in Sachen Sterbehilfe jeder und jede von uns selbst gefordert ist. Wenn jeder „für sich allein“ stirbt, dann muss er sich auch selbst dazu ins Verhältnis setzen.
Argumente gegen die Sterbehilfe
gibt es, keine Frage! Der Erlanger Ethikprofessor Peter Dabrock hat die markantesten dargestellt (in: „Nachrichten der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern“, Heft 5/2015, S. 133ff). Dabrock zufolge gibt es für Christen nur eine Lösung: keine (aktive) Sterbehilfe. Daher müsse die Gesellschaft alles dafür tun, dass es keinen Suizid gebe. Zweitens warnt er davor, Sterbehilfe könne in wirtschaftlich schlechten Zeiten missbraucht und Druck auf Alte und Kranke ausgeübt werden. Die ethische Alternative heiße für ihn drittens folgerichtig Palliativversorgung. Schließlich sei viertens theologisch der tröstende Blick auf das Kreuz die rechte Antwort auf die Sterbehilfe. Zweifellos liefert Dabrock damit gute Argumente für seine Position, die auch die katholisch wie evangelisch kirchenamtlich offizielle ist. Gleichwohl meine ich, es ist dies zunächst einmal seine und eine Position in dieser Frage. Und: Gute Gründe sind noch keine hinreichenden, also alle überzeugenden Gründe. Dass man in Sachen Sterbehilfe mit guten Gründen auch anderer Meinung sein kann, ist eindrücklich bei Hans Küng nachzulesen.
Auseinandersetzung mit den Contra-Argumenten
Im Wesentlichen sind es vier Argumente bzw. Einwände, die gegen die Sterbehilfe vorgebracht werden. Mit ihnen will ich mich im Folgenden auseinandersetzen.
„Du sollst nicht töten!“
Als hartes Argument gegen die Sterbehilfe wird primär das 5. Gebot angeführt. Doch wie stichhaltig ist es tatsächlich? Grundsätzlich bin ich der Auffassung, dass die geschichtliche, menschheitliche und kulturelle Wertschätzung des 5. Gebots nicht hoch genug zu veranschlagen ist: Es schaffte und schafft bis heute einen Schutz-Raum und einen Raum der Rechtssicherheit für menschliches Leben ohnegleichen. Es hat zahllosen Generationen vor uns in unsicheren Zeiten die Hochschätzung des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit gelehrt. Deswegen ist am Tötungsverbot als einer verbürgten Rechtstradition auch heute prinzipiell festzuhalten: nicht zu töten, nicht getötet zu werden, daran muss sich in zivilisierten Gesellschaften jeder halten und darauf darf man sich bei uns verlassen, da es unabdingbar zu unserer Kultur gehört. Aber, so meine ich, es spricht viel dafür, die Stichhaltigkeit des Tötungsverbots im Umfeld der Sterbehilfe heute im Einzelfall anders zu gewichten als vor tausend oder zweitausend Jahren. Es geht bei Sterbehilfe heute ja nicht darum, dass ein vitaler Mensch getötet wird, sondern darum, dass schwer kranke Menschen, die sich im finalen Sterbeprozess befinden und ihr Leben – christlich gesprochen – in Gottes Hand zurückgeben möchten, dies auch tun dürfen.
Ein unvoreingenommener Blick in die alttestamentliche und jüdisch-christliche Religionsgeschichte zeigt, dass es immer wieder theologisch begründete Ausnahmen vom Tötungsverbot gegeben hat, dieses also nicht einfach absolut galt (siehe: Michael Frieß, Zur theologischen Akzeptanz von assistiertem Suizid und aktiver Sterbehilfe, 2010). Zudem entdecke ich, dass das im hebräischen Urtext des 5. Gebots für „töten“ verwendete Wort ausschließlich Mord und Totschlag bezeichnet, die gegen den Willen des Opfers zum Tod führen. Exegetisch-theologisch ist es daher nicht sachgemäß, das 5. Gebot gegen die Sterbehilfe anzuführen. Ich halte aus diesem Grund Formulierungen wie „Töten muss ein Tabu bleiben“ oder „Töten kann keine Tugend sein“ (Heinrich Bedford-Strohm) für problematisch, weil sie der Sache bzw. sterbenden Menschen, die nach Hilfe zum Sterben fragen, zum einen nicht wirklich gerecht werden, zum anderen auf problematische Weise Stimmung machen.
Dammbruch?
In kirchlicher wie theologischer Verlautbarungsmentalität kommt dem Dammbruch-Argument höchste Bedeutung zu. Ob nun Peter Dabrock, der bayerische Landesbischof und EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm oder der katholische Professor für Moraltheologie Eberhard Schockenhoff: auf allen möglichen Kanälen werden hier die Sorge um bzw. die Angst vor dem Missbrauch der Sterbehilfe thematisiert, ja mitunter – so mein Eindruck – sogar geschürt: In einer durchökonomisierten Zeit sei die Gefahr groß, so lese ich da, dass die „Selbsttötung“ auf stillem Wege zur gesellschaftlichen Problemlösung werde. „Allein das Wissen um diese Möglichkeit erhöht den Druck auf Sterbende, von dieser naheliegenden Möglichkeit Gebrauch zu machen“, schreibt Schockenhoff (in: Publik-Forum Nr. 12/2015, S. 8) und warnt vor einem subtilen „Zwang zur Rechtfertigung“, wenn jemand weiterleben wolle. Es dürfe nicht sein, dass Menschen das Gefühl hätten, um die Beendigung ihres Lebens bitten zu müssen, wenn sie vermutlich keinen Nutzen mehr für die Gesellschaft oder ihre Angehörigen hätten. Bisher sei das zwar nicht der Fall, schreibt Dabrock, aber in wirtschaftlich schlechteren Zeiten, wenn das „Geld knapp wird“, sei es eine „realistische Gefahr, dass dieses kalkulierende Denken um sich greift“ (Dabrock, S. 135). Dann sei wirklich „kein Halten mehr“ und es brächen „alle Dämme“, lese ich anderwärts. Wirklich alle Dämme? Sicher, Sterbehilfe kann missbraucht werden.
(Christen-)Menschen sind nicht nur in Sachen Sterbehilfe als theologisch selbständige und autonome Subjekte anzuerkennen.
Drei Einwände gegen das Dammbruch-Argument sind mir wichtig geworden. Haben wir – ein erster Einwand – nicht schon in der Schule gelernt: abusus non tollit usum? Also Missbrauch einer Sache hebt doch nicht zwangsläufig deren sinnvollen und guten Gebrauch auf! Die Intention der Sterbehilfe ist es ja nicht, möglichst viele Alte und Sterbende rasch zu beseitigen, sondern ihnen, wenn sie unheilbar krank sind, „genug gelitten“ haben und nach Sterbehilfe verlangen, dabei zu helfen, dass sie in Würde und nicht unter Schmerzen oder hochsediert „gehen“ dürfen. Mein zweiter Einwand: Ich sehe in dem Dammbruch-Argument eine über viele Jahrhunderte hinweg gepflegte Haltung von Kirchen und Theologen, ihre Mitglieder bzw. Klientel bei der Stange zu halten und sie hinsichtlich dessen, was sie dürfen und v.a. nicht dürfen, theologisch zu entmündigen und zu bevormunden. Ich bin dafür, diesen Zustand zu überwinden und (Christen-)Menschen nicht nur in Sachen Sterbehilfe als theologisch selbständige und autonome Subjekte anzuerkennen, die „coram Deo“ selbst entscheiden können und dürfen. Und: Wenn Kirchenobere und Theologen schon meinen, ihre Stimme mahnend erheben zu müssen – was ihr Recht ist – , dann ist auch im Kontext der Sterbehilfe die „Bitte“ „die Form des Evangeliums“, wie uns Eberhard Jüngel ins theologische Stammbuch geschrieben hat, nicht aber die Anordnung, Warnung oder Drohung „von oben herab“. Daran, so bitte ich, möchten sich auch Kirchenobere und Theologen erinnern und orientieren. Ein letztes Gegenargument: Leben in Deutschland war und ist zu keiner Zeit besser rechtlich und medizinisch geschützt als heute (vgl. Michael Frieß), so leicht lässt sich das an die Wand gemalte Schreckensszenario vom „Massenselbstmord“ nicht in die Tat umsetzen. Das bestätigt mir auch ein Blick in die Beneluxländer sowie in die Schweizer Kantone Bern und Bern-Jura , wo die evangelisch-reformierte Kirche assistierten Suizid erlaubt; die Zahl der von selbst aus dem Leben Scheidenden steigt hier zwar an, aber sie vervielfacht sich nicht einfach.
Zum Wort Dammbruch muss ich anmerken: Wenn ich recht sehe, vollzieht sich bei uns seit geraumer Zeit ein grundlegender Wandel im Wertebewusstsein (Helmut Klages). Danach gehören Entscheidungsfreiheit und Abwehr jeglicher Einmischung in die privaten Lebensentscheidungen zu den höchsten Werten unserer Gesellschaft, man lässt sich also diesbezüglich von niemandem mehr etwas vorschreiben, auch nicht von Kirchenoberen. Dann aber erscheint mir „Dammbruch“ als eine für diese Entwicklung sehr fragwürdige Bezeichnung.
Palliativversorgung als Lösung aller Probleme?
Die Lösung aller Probleme um die Sterbehilfe sehen Peter Dabrock, Heinrich Bedford-Strohm und viele andere in einem forcierten Ausbau der Palliativmedizin- und -versorgung: hier seien Sterbenden „optimale Rahmenbedingungen“ zu schaffen; „wir brauchen eine pflegerische Versorgung in den Hospizen und Pflegeheimen, die diesen Namen auch verdient. Der Personalschlüssel etwa muss höher werden“ (Heinrich Bedford-Strohm). Das alles erfährt zu Recht, wie ich finde, sehr viel Zustimmung. Freilich stellt es auch einen außerordentlichen Kraftakt nicht nur, aber vor allem finanzieller Art dar. Drei Einwände werden im Kontext der Palliativversorgung zu bedenken sein:
Eine erste kapitale Frage lautet: Wer soll das bezahlen? Gleichermaßen signifikant wie entlarvend erscheint mir hierfür eine Äußerung der Münchner Dekanin Barbara Kittelberger als Berichterstatterin vor der bayerischen kirchlichen Landessynode im März 2015: „Ökonomische Bedingungen und Prioritätensetzung“ zwängen die Landeskirche, die auf drei Jahre angelegten Projektstellen in der Spezialisierten Ambulanten Palliativversorgung (SAPV) zum Jahresende auslaufen zu lassen (Synode aktuell März 2015, S. 6). Es geht also offensichtlich auch bei den Kirchen letztlich um das liebe Geld! Freilich können einem die kirchlichen Forderungen an Politik und Staat angesichts nicht gerade leerer Kirchenkassen schon etwas merkwürdig erscheinen. Aber womöglich stoßen wir hier wirklich auf grundsätzliche Machbarkeitsgrenzen der Palliativversorgung, welche sich weder rasch noch flächendeckend realisieren lassen wird.
Zweitens will ich daran erinnern, dass die Palliativversorgung – wie Fachleute offen einräumen – aus Gründen der „Schmerzbeherrschung“ immer wieder zu Mitteln und Maßnahmen greift, die den Sterbeprozess beschleunigen können. Das aber heißt: Palliativversorgung und Sterbehilfe liegen nicht einfach Meilen weit auseinander, wie immer wieder der Eindruck erweckt wird, sondern sind in der Praxis oft nicht wirklich zu unterscheiden.
Ich meine daher, mit Palliativversorgung allein ist die Frage der Sterbehilfe nicht vom Tisch.
Drittens machen mir „flächige“ Aussagen – wie die folgenden – Probleme: nämlich „dass selbst bei sehr schweren Fällen ein am Anfang der Therapie geäußerter Suizidwunsch zunehmend verstummt“ (Dabrock, S. 135), oder: Alle Erfahrung zeige, dass dann gar kein Wunsch mehr bestehe, sich selbst das Leben zu nehmen oder sich töten zu lassen (Heinrich Bedford-Strohm). Das mag in nicht wenigen Fällen so zutreffen, aber eine Generalisierung erscheint mir zum einen empirisch nicht haltbar, zum anderen in ihrer Suggestivität problematisch. Ich meine daher, mit Palliativversorgung allein ist die Frage der Sterbehilfe nicht vom Tisch.
Gleichwohl halte ich alles in allem Palliativmedizin und Hospizbegleitung in vielen Fällen für die „bessere Alternative“ (Wolfgang Schulze) im Vergleich mit dem assistierten Suizid. Die Palliativversorgung betrachtet nämlich den sterbenden Menschen in körperlicher, seelischer, sozialer und spirituell-religiöser Hinsicht, also ganzheitlich, was so beim assistierten Suizid in aller Regel nicht der Fall ist. Sie kann zudem durch die heutzutage weitreichenden Möglichkeiten der Schmerzlinderung (Medikamente in Tabletten-, Tropfen-, Pflaster-, Nasenspray- und Spritzenform, als Infusion oder in einer Medikamentenpumpe, dazu Opiate bzw. morphiumartige Medikamente, Strahlentherapie sowie Entspannungsverfahren und Hypnose) oft ein als wieder lebenswert empfundenes Leben auch in der letzten Phase ermöglichen.
Der Blick auf das Kreuz
„mag trösten“ schreibt Peter Dabrock im eingangs genannten Aufsatz (S. 136). Dieses vorsichtige „mag“ gefällt mir, weil es nicht großspurig daherkommt; es „mag“ so sein, kann aber auch anders sein. Es gibt, ob es einem gefällt oder nicht, Sterbende, die sich durch diesen Blick nicht getröstet erfahren und deswegen auch nicht bis zum Ende durchhalten wollen. Leidensmystik kann heute keine theologische Empfehlung mehr für Jedermanns Sterben sein. Von daher ist mit dem Verweis auf das Kreuz die Sterbehilfe nicht erledigt. Den einen, denen es gegeben sein mag, im Anblick des Kreuzes auszuharren, bis ihr Leben erlischt, stehen nämlich andere gegenüber, die ihr Leben beschließen und es – je nachdem – in Gottes Hände zurückgeben möchten, wenn es „genug“ ist und sie nicht mehr in Würde leben können und wollen.
(Teil 2: https://www.feinschwarz.net/sterben-duerfen-ein-evangelisch-protestantischer-zwischenruf-teil-2/)
Autor: Prof. Dr. Dr. Werner H. Ritter hatte von 1987 bis 2008 den Lehrstuhl II für Evangelische Theologie an der Universität Bayreuth inne, danach bis 2011 an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, anschließend Freistellungsphase bis 2014 und seither im Ruhestand.
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