Impfpläne, Hygieneregeln und der R-Wert. Unsere Wahrnehmung von Corona folgt oft einer technischen Rationalität. Wie leben und deuten wir aber das, was sich nicht verrechnen lässt – Sterben, Leid und Tod? Katrin Brockmöller gibt Zeugnis davon.
Geschwistergruppe Whatsapp:
10. Januar: Papa wurde gestern geimpft. Bisher alles o.k.
14. Januar: Papa hat Corona.
15. Januar: Papa ist jetzt palliativ. Mama ist bei ihm.
17. Januar: Papa hat Pudding gegessen.
20. Januar: Papa stabil.
22. Januar, 5:45: Ich fahre jetzt hin, Mama braucht Hilfe.
22. Januar, abends: Papa zittert und hat Krämpfe. Der Arzt hat Morphium gespritzt.
23. Januar: Ihr sollt kommen.
Und dann begannen Stunden, für die ich mein ganzes Leben dankbar sein werde.
Meine Schwester hatte mich informiert: Du musst an der Nachtglocke läuten, das Heim ist für Besuch geschlossen. Dann warten. Es dauert etwas. Aber es wird jemand kommen. Ich warte, es ist kalt, der Schnee leuchtet im Park. Es ist kurz vor vier Uhr nachmittags. Jemand wirft einen Brief ein, lächelt mir zu und wünscht noch einen schönen Abend. Und dann begann es. Als wäre ich in eine andere Welt eingetreten. Nach jeder Begegnung habe ich das Gefühl, ich werde beschenkt. Mit einem Lächeln, einem guten Blick, einem Segen. Es ist als gäbe es nur noch freundliche und zugewandte Menschen. Wie es sein sollte … von Anbeginn.
Dann werde ich eingelassen. Ich bin noch ungeübt. Die Schwester hilft mir mit allem, mit dem Schutzmantel, dem Desinfektionsmittel, mit den Handschuhen, dem Häubchen, der korrekt angelegten Maske. Halb zu sich selbst, murmelt sie: Einen Schnelltest brauchen Sie ja wohl nicht mehr. Ich denke, gut, sie ist informiert. Die Organisation scheint hier zu klappen.
Sie bringt mich zur Isolierstation und meint dann, sie kennen ja den Weg, ich darf nicht in die Station. Papa ist in dem Zimmer, das er seit drei Jahren bewohnt. Meine Mutter ist da und meine Schwester. Papa atmet schnell, sehr tief, der ganze Oberkörper bebt, der Mund steht auf. Die ersten Minuten irritiert mich dieser Atem, dann gewöhne ich mich daran. Dieser Rhythmus ist der Takt der nächsten Tage. Es kommen Momente, da beruhigt und tröstet mich dieses Geräusch wie das Ticken der Uhr im Wohnzimmer meiner Eltern. Ich bin daheim. Ich bin hier, mein Vater ist da. In gewisser Weise ist alles gut. Meine Schwester geht nach Hause, um zu schlafen. Meine Mutter und ich teilen die beiden Stühle rechts und links vom Bett.
Unser Hausarzt kommt. Ich erkenne ihn, auch wenn ich ihn jahrelang nicht gesehen habe. Er ist grau geworden, aber seine feine Art mochte ich schon immer. Er misst Papas Puls und Blutdruck. 120 zu 70. Mit einem leichten Kopfschütteln kommentiert er: „Ah, was für ein starkes Herz“ und spritzt ihm wieder etwas Morphium. Dann sagt er zu uns: Sie brauchen noch Essen und Trinken, denken Sie daran. Ganz leicht dreht er den Kopf zur Pflegeschwester und sagt: „Sie bekommen hier alles.“ Okay, denke ich, das war eine Ansage. Wir können hier sein, wir werden versorgt, man wird sich auch um uns kümmern.
Dann kommt mein Bruder, meine Mutter fährt nach Hause, um zu schlafen.
Die Pflegeschwester bringt Getränke. Ich entscheide mich für ein weißes Limo und gehe damit auf die Terrasse. Diese Terrasse trennt die Isolierstation vom Rest der Welt. Ein Durchgangsraum. Eisig kalt. Ich trinke das süße Limo. Es entführt mich an heiße Sommertage im Garten, barfuß, Blattsalat mit Eiern, Wurstsalat mit Pfeffer – ich merke, dass ich Hunger bekomme und hole mir aus den Weihnachtsvorräten meines Vaters eine Schachtel Lebkuchen. Überall stehen Behälter mit Handschuhen, Desinfektionsmittel, ich weiß nicht, wie viele Handschuhe ich an- und ausgezogen habe. Ich mag die Grünen. Sie sind etwas größer und die Farbe knallt gut.
Mein Bruder und ich erzählen ein bisschen. Von früher, von daheim und schnell sind wir beim Schafkopf. Das Familienspiel. Das wäre doch jetzt gut. Meinst du, wir könnten hier auf dem Bett einen Schafkopf spielen? Ob die Schwestern hier Karten haben? Mein Bruder kommt mit einer Spielesammlung zurück. Wir entscheiden uns für Mühle. Da erinnern wir die Regeln so einigermaßen. Mühle auf und zu. Schwarze Steine. Weiße Steine. Leeres Feld. Oh, wie gemein! Unentschieden. Gewonnen. Verloren. Neues Spiel. Mein Vater atmet. Wie eine Trommel. Der Takt ist unglaublich klar. Manchmal holpert er kurz, aber er findet sich immer wieder.
Dann geht mein Bruder. Gulaschsuppe kochen. Viel. Werden wir noch brauchen.
Dann bin ich allein mit meinem Vater. Das war ich schon lange nicht. Ich halte einfach seine Hand. Er glüht. Die Schwester kommt rein. Sie zeigt mir, wie ich ihm die Lippen etwas feucht machen kann. Ich frage: Wie erkenne ich, dass es zu Ende geht? Sie zeigt mir, wie er atmen wird. Sie ziehen anders am Schluss, sagt sie. Gut, ich weiß Bescheid. Sie sagt mir, sie mag meinen Vater. Ich soll einfach kommen, wenn ich was brauche.
Mein Vater glüht. Ich lüfte. Bis mir selbst eiskalt ist.
Die Arme werden kalt. Die Haut verändert sich. Er atmet. Laut. Er hat Schluckauf. Ich muss lachen. Ich spiele mit seiner Hand. Wenn ich meine Hand zurückziehe, greift er nach. Ein Reflex? Merkt er das noch? Ich bete, die Sätze passen sich dem Atem meines Vaters an. Es kommt mir alles so richtig vor und so einfach.
Morgens gegen zwei Uhr holpert der Takt. Etwas verändert sich.
Ich hole die Schwester. Wir stehen rechts und links bei ihm. Streicheln ihn. Seine Augen wandern hin und her. Er atmet heftiger. Tatsächlich haben wir den Eindruck, wir können ihn beruhigen mit unseren Händen.
Ich schaue dieser fremden Frau in die Augen. Sie haben schon viele begleitet, oder? Ja, nickt sie. Kommen viele Angehörige auf die Station? Sie schüttelt den Kopf: Ich glaube, sie haben Angst. Aber auch ohne Corona.
Ich nehme von meinem Vater nur noch Kopf und Brustkorb wahr. Was für eine Arbeit, denke ich. Eine Geburt? Ein Orgasmus? In meinem Kopf ist der Satz eines Freundes: Wenn man eine echte Ekstase erleben will, muss man sich schon ein bisschen anstrengen, sonst wird das nichts. Ja, denke ich, sterben ist anstrengend. Wie überwältigend ist wohl die Ekstase, die man sich erarbeitet?
Ich erzähle der Schwester, so hat mein Vater höchstens beim Sport geatmet.
Oder beim Bergsteigen. Aber dann hat er uns immer gesagt, man kann Pause machen oder durchziehen. Ich sage zu meinem Vater, hey, steigst du grad auf einen Berg? Was siehst du? Ist es gut dort? Wie weit noch? Ziehst du durch oder noch eine Pause? Er hat sich für Durchziehen entschieden.
Ich rufe meine Schwester an. Es ist anders, ihr solltet kommen. Alles klar. Dann atmet er immer holpriger. Wir sind zu viert am Bett. Meine Mutter, meine Schwester, die Pflegerin und ich. Vier Frauen, denke ich. So ist es.
Ich sitze am Fußende auf dem Bett. Ich streichle über die weiche Flanelldecke. Ich schlafe fast ein. Am frühen Morgen fahre ich nach Hause. Mein Bruder sitzt am Küchentisch. Er bringt mir einen heißen Teller Gulaschsuppe. Danke. Wie gut. Sag ich doch, brauchen wir, meint mein Bruder und holt mir einen zweiten Teller.
Ich gehe schlafen. Nach ein paar Stunden bin ich wach, dusche, räume die Küche auf. Mein Bruder schläft jetzt. Mittags fahre ich wieder ins Heim.
Immer noch dieser Rhythmus. Der Bauch zieht den Atem ein. Stößt ihn wieder aus.
Wir reden kaum noch. Wir machen Pause auf dem Balkon. Die Schwestern schenken uns Tiramisu und wir trinken heißen Kaffee dazu im Schleusenraum. Es ist so still. Ich habe keinen einzigen weiteren Angehörigen gesehen, nur die Schwestern. Eine Frau in einem anderen Zimmer singt laut auf die Melodie von Macki Messer über Kinder, die kommen und nicht kommen.
Gegen sechs gehe ich, meine Mutter bleibt. Mein Bruder kommt.
Um sieben Uhr ist mein Vater gestorben. Der Atem wurde immer langsamer und stiller und hörte dann ganz auf. Ein paar Mal hat er noch gezogen. Jetzt ist er angekommen.
Wir haben die Gulaschsuppe aufgegessen. Und haben das Gefühl, Papa hat uns mit diesen Stunden noch ein letztes Geschenk gemacht. Bisher sind wir alle gesund.
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Dr. Katrin Brockmöller ist Direktorin des Katholischen Bibelwerks e.V.. Auf feinschwarz.net ist von ihr erschienen:
“Das Wort kehrt nicht leer zurück” (Jes 55,11). Bibelpastoral heute
Bild: privat, Rechte bei der Autorin.