Silke Obenauer verteilt Ohrstöpsel am Bahnhof – klingt banal, ist aber genial. Über inspirierende Erfahrungen eines kleinen, ereignisbasierten Kirchenprojekts, dem man das gar nicht ansieht.
Die Idee hinter Stille2go ist einfach: Reisende am Karlsruher Hauptbahnhof bekommen in den Morgenstunden zwischen 6h und 8h als Symbol von Stille Ohrstöpsel geschenkt, in einer kleinen Karton-Verpackung mit professionellem Design. Die Verpackung ist mit einer Internetadresse bedruckt; diese bietet einen kurzen Impuls für eine Unterbrechung am Morgen und für Stille. Die meisten Menschen sind mit einem internetfähigen Smartphone ausgestattet und nutzen dies unterwegs. So können Reisende am Beginn eines Arbeitstages durch die Ohrstöpsel einen kleinen Moment zur Ruhe kommen und Stille genießen; und darüber hinaus, wenn sie das möchten, durch den Kurzimpuls eine kleine Unterbrechung setzen – da, wo sie sind: im Zug oder in der S-Bahn.
Stillemomente für mobile Menschen im öffentlichen Raum
Ausgangspunkt zu dieser Idee war die erste Woche der Stille in Karlsruhe im November 2018. An unterschiedlichen Orten in Karlsruhe wurde – konfessions- und religionsübergreifend – zu Angeboten der Stille eingeladen. Als Mitinitiatorin war mir ein Anliegen: Während der Woche der Stille nicht nur Veranstaltungen anbieten, zu denen Menschen gezielt hinkommen müssen, sondern auch eine Aktion initiieren, die Stille zu den Menschen bringt – dort, wo sie sind. Für mobile Menschen wie mich. Als Bahnfahrerin rückte schnell der Hauptbahnhof in mein Blickfeld, hier sind täglich rund 60.000 Menschen unterwegs. Die Aktion sollte den Räumlichkeiten und Laufwegen der Menschen sowie dem Durchgangscharakter des Ortes Rechnung tragen. So entstand bei mir als Coffee to go-Liebhaberin die Idee von Stille to go: Stille zum Mitnehmen an einem Ort der Mobilität, für die Menschen dort unerwartet, aber zu ihrer Unterwegs-Situation passend.
An drei Tagen verteilten wir jeweils von 6-8h morgens Ohrstöpsel am Hauptbahnhof, in kiwi-grünen Aktionsjacken, mobil auf der von der DB genehmigten Aktionsfläche. Programme der Woche der Stille verteilten wir nicht, die Aktion sollte für sich sprechen und keine Werbeveranstaltung sein. Die täglichen Kurz-Impulse posteten wir auf www.ekiba.de/stille2go und in den social media, um auch Menschen in ähnlicher Situation in anderen Städten zu erreichen. Die Impulse waren kurz und in einer Sprache, die innerkirchlichen Jargon vermeidet.
Überraschend positive Erfahrungen
Unsere Erfahrung: Viele Reisende lassen sich beschenken; wir hätten deutlich mehr als die bestellten 800 Ohrstöpsel verschenken können. Viele Reisende bedanken sich, finden das Geschenk „eine tolle Idee“ und reagieren erfreut. Eine Person sagt zu mir: „Sie sind die aufmerksamste Person hier heute Morgen.“ Ein anderer meint zunächst, ich wolle ihm etwas verkaufen. Als ich das Missverständnis aufkläre, ist er ganz überrascht: „Oh, dass Sie mir etwas schenken, das ist aber freundlich. Das hätte ich nicht gedacht.“ Wiederum eine andere Person sagt erfreut: „Das ist genau das, was ich jetzt brauche. Ich bin heute so genervt. Vielen Dank.“ Immer wieder kommt bei uns an: Menschen sind überrascht, einfach etwas geschenkt zu bekommen, was ihnen jetzt guttut und was keine Werbung für ein danach zu kaufendes Produkt ist. Ab und an entstehen längere Gespräche: über die Aktion, die Bedeutung von Stille im eigenen Leben, über Kirche als Veranstalterin. Vereinzelt erzählen Menschen auch recht persönlich aus ihrem Leben bis hin zur Bitte, Erzähltes mit ins Gebet zu nehmen. Hin und wieder können wir explizit auf die Internetseite mit dem Kurzimpuls hinweisen. Mir fällt auf: Wir haben keine einzige (!) abwertende oder gar aggressive Reaktion erlebt.
In den social media posten wir neben den Impulsen auch Fotos von den Einsätzen am Bahnhof. So nehmen Menschen an der Aktion vor Ort Anteil, sind innerlich beteiligt, ohne körperlich anwesend zu sein. Über Messenger, Mail, bei kohlenstofflichen Begegnungen oder in Facebook direkt erfahren wir positive Reaktionen, auf die Aktion am Bahnhof wie auf die Kurz-Impulse.
Kontextualisieren – das matching von Ort, Situation und Geschenk
Bahnhof und bevorstehende Fahrt der Pendler*innen/Reisenden am Tagesbeginn sowie das Geschenk von Ohrstöpseln scheinen zusammenzupassen. Reisende fühlen sich beschenkt, weder bedrängt noch beworben – am letzten Aktionstag haben uns gar einzelne Menschen von sich aus angesprochen, was wir denn da verteilen würden. Die professionelle Aufmachung der Ohrstöpsel sowie die professionelle Kleidung unterstützen dies. Das Geschenk strahlt Wertigkeit aus, das war uns wichtig.
Mein Lerneffekt: Kontextualisieren beginnt schon in der Form – hätten wir Schokolade als Trägerin für die Internetseite mit dem Stille-Impuls gewählt, wäre es eher einer Werbung für die Internetseite gleichgekommen, vielleicht sogar einer Werbung für Kirche. Denn das Medium hätte weder zur spezifischen Situation der Menschen gepasst noch zum Inhalt dessen, was wir schenken wollen. So jedoch waren schon Verpackung und Ohrstöpsel Teil des Inhalts bzw. eben Inhalt selbst. Ein performatives Geschenk! Und es ergab sich ein Zusammenspiel aus Ort, Situation der Menschen und wertigem Geschenk.
Sich aussetzen – als kirchliche Mitarbeiterin im offenen Raum
Mich ohne Rollensicherheit und -schutz, die ich während meiner Zeit als Gemeindepfarrerin auch bei außerkirchlichen Veranstaltungen hatte, in die Bahnhofshalle zu stellen, am frühen Morgen fremde Menschen anzusprechen und etwas zu verschenken – aber nicht zu wissen, wie die Menschen reagieren werden, das war sehr kostbar für mich. Angespannte Unsicherheit und Fremdheit zu spüren, gepaart mit innerer Wachsamkeit, was sich wohl ereignen wird. Eine gewisse (und ja gewollte!) Unschärfe im Auftritt zu haben. Zugleich auskunftsfähig zu sein, wenn Menschen mehr wissen wollen – in einer Sprache, die dem öffentlichen Raum, der passageren Situation mit dem Kurzkontakt und dem mir unbekannten Gegenüber angemessen ist.
Kirche, die ihre Mauern verlässt, gibt ihre Sicherheiten und ihre Deutungsmacht auf. Sie inkarniert sich in den vorhandenen Raum mit seinen Regeln und ist dort neugierig auf das „Mehr“. Sie begegnet dem anderen wachsam-zugewandt als schenkendes Angebot. Geistlich war für mich die Überzeugung leitend: Gott ist schon da, am Bahnhof und im Leben der Menschen – ich brauche ihn nicht bringen. Aber vielleicht entdecke ich ja Spuren Gottes oder kann durch meine Art da zu sein zu einer „Insel göttlicher Anwesenheit“, einem „Sakrament seiner Liebe“ (M. Delbrel) werden.
Jenseits von Marketing- und Organisationslogik – Dem Ereignis trauen
So richtig passen wir mit unserem Tun in keine Kategorie hinein.
Die Menschen am Bahnhof nehmen von außen betrachtet wahr: wieder eine Aktion, wieder Menschen, die Werbung machen, die Aktions-Jacken und das Verteilen weisen darauf hin. Menschen, um die man manchmal lieber einen Bogen macht. – Wer sich ansprechen lässt, kann erleben, dass er etwas geschenkt bekommt und dass unser Tun sich zwar der Marketinglogik bedient, sie zugleich aber sprengt und einer eigenen pastoralen Logik dienstbar macht.
Auch in kirchlich-organisationale Logik passt nicht wirklich, was wir tun. Nur klein steht auf der Karton-Verpackung das Logo meiner Landeskirche. Groß dagegen: „Stille2go – 2 Minuten Zeit für dich“; und: „Neugierig – ekiba.de/stille2go“. Es ist äußerlich keine Aktion zur Mitgliederbindung oder -werbung und auch keine missionarische Aktion, bei der etwa Bibelverse zum Thema „Stille“ verteilt werden. Erst einmal kein direkter Gewinn für die Kirche als Organisation. Auch können wir weder den Gebrauch der Ohrstöpsel kontrollieren noch – trotz Statistik –, ob Menschen den Stilleimpuls angeklickt haben, und erst recht nicht, was er in ihnen ausgelöst hat. Der Unschärfe im Auftritt entspricht der Verzicht auf Kontrolle: Menschen freilassen und vertrauen, dass Gottes Geist seine Wege mit den Menschen geht.
Kleine Fenster heilsamer Gnade
In den Tagen am Bahnhof wird mir deutlich: Kirche als Organisation wird hier – in der Spur ihres Herrn – dienende Kirche. Sie ermöglicht Rahmen und Gelegenheit, beschenkt zu werden, theologisch: der Gnade, sowie für eine heilsame Unterbrechung mitten im Alltag, die ein kleines Fenster zu einer anderen Dimension von Leben aufmachen kann. Und sie vertraut darauf, dass darin etwas Heilsames geschieht.
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Pfarrerin Dr. Silke Obenauer, Abteilung Missionarische Dienste, Evangelischer Oberkirchenrat Karlsruhe
Bild: Silke Obenauer