Gott im Osten? Ostdeutschland ist ein theologisches Zukunftslabor. Christinnen und Christen leben dort als Minderheit in einer nicht nur multireligiösen, sondern auch multisäkularen Gegenwart. feinschwarz.net fragt in einer dreiteiligen Reihe nach, wie dieser gesellschaftliche Kontext die Theologie verändert. Heute berichtet der Fundamentaltheologe und Taekwon-Do-Schulleiter Florian Bruckmann aus Dresden.
Jeden Montag Abend schreiten Tausende durch die Innenstadt von Dresden. Sie gehen oft schweigend, weil es ihnen schwer fällt, Auskunft zu geben. Sie haben sich offenbar nicht die diskussionsoffene Rationalität auf ihre Fahnen geschrieben, sondern die dumpfen Gefühle derer, um die sich niemand kümmert, die selbst ihre Stimme erheben und ein Zeichen setzen müssen, weil sie ihre Meinung nirgendwo ausgesprochen finden. Hier kommt das demokratische „Experiment“ Deutsche Einheit an seine Grenzen: Das Volk wollte Freiheit, um zu reisen, um etwas zu haben, das man nicht zugeteilt bekommen hat und auf das man deshalb stolz sein kann, und vor allem, um nicht auf Schritt und Tritt bevormundet zu sein. Aufgrund mangelnder wirtschaftlicher Prosperität fühlt man sich aber immer noch abhängig von enormen Transferleistungen, die nur dem Nachbarn zugute kommen, während man sich selbst abrackern muss, ohne eine Vision oder das Leben in den eigenen Händen zu haben. Freiheit wird hier zur Falle, weil sie nicht frei setzt, sondern das Gefühl vermittelt, fallen gelassen zu sein.
Werte des Abendlandes
Wie kann in einem solchen Kontext das Evangelium verkündet werden? Wie soll von der Freiheit gesprochen werden, zu der Gott befreit? Welche Art von Exodus kann hier erlebt werden? Der Exodus vieler Menschen aus ihrer Heimat wird als Bedrohung erfahren. Dabei geht es weniger um die angeblich christlichen Werte des Abendlandes – was auch immer das sei – sondern vielmehr um die Frage nach der Belastbarkeit einer Gesellschaft, die sich aufgemacht hat, die wirtschaftlichen Früchte des Weltmarktes zu genießen, und feststellen muss, dass diese nicht einfach vom Baum fallen und auch durch harte Arbeit nicht heraufbeschworen werden können, weil sie nur zu dem kommen, der Strukturen für sich nutzt und dabei wenig zimperlich ist. Wer trotz struktureller Benachteiligung hart arbeitet, aber nur wenig von dem konsumieren kann, was ihm die Werbung und das Fernsehen anpreisen, der ringt um Fassung, wenn andere einfach aufgrund ihres Menschseins und ihrer Würde als Menschen etwas erhalten, das sie (sich) nicht (selbst) „verdient“ haben. Reicht es nicht, wenn Gott alle Menschen liebt und die Sonne über Guten und Bösen aufgehen lässt? Müssen andere auch noch versorgt werden? Habe ich nicht qua Geburt ein Recht auf die Solidarität meiner Volksgenossen? Muss diese über die eigene Abstammungsgemeinschaft auch noch auf alle ausgeweitet werden, die es irgendwie bis vor die eigene Hoftür geschafft haben?
Exodus der Bürgerkriegsflüchtlinge
So wird der Exodus der Bürgerkriegsflüchtlinge hier zur Bedrohung für die ansässige Bevölkerung, die der neuen Freiheit und Heimatlosigkeit nicht weichen will. Sind wir diejenigen, die einem neuen Gottesvolk weichen müssen, weil wir schon lange Zeit in dem Land wohnen, in dem Milch und Honig fließen, dieser Früchte aber nicht länger würdig sind? Natürlich kann nur derjenige etwas geben, der etwas hat, aber darf er sich nicht berechtigterweise Sorgen machen, wenn die rechte Hand beim Almosengeben nicht weiß, was die linke tut? Was ist mit denjenigen, die gefühlt nichts haben, weil sie selbst so viel bekommen, und jetzt Angst haben müssen, dass weniger übrig bleibt? Haben die Anhänger von PEGIDA und die Wähler der AfD Angst vor Fremden, oder einfach Angst davor, weniger von dem zu erhalten, was man selbst nicht verdient hat, worauf man aber hoffte, ein Anrecht zu haben? Geht es über den Verteilungskampf innerhalb der sozialen Marktwirtschaft mit ihren enormen Transferleistungen hinaus nicht auch um Aufmerksamkeit? Aufmerksamkeit in einer globalen Welt, die mehr Interesse an den Frisuren im US-Vorwahlkampf zeigt als an den Nöten der unmittelbaren Nachbarn?
Kleines Kerzlein in den Stürmen der Welt
In Zeiten der Angst und der Orientierungslosigkeit ist es schwer, vom Segen der Freiheit zu reden. Und doch wurde auch hier Ostern gefeiert und in den Kirchen wurde vom Exodus des ersterwählten Gottesvolkes gelesen. Dessen Brisanz liegt hier im Osten der BRD nicht nur an dem oft schwachen Glauben, dass ein kleines Kerzlein in den Stürmen der Welt bestehen kann und den endgültigen Tod des Todes verkündet, symbolisiert und realisiert, sondern ganz einfach daran, dass dieser Glaube nur dort seine Kraft entzünden kann, wo er die Angst vor Bedeutungslosigkeit und Bedeutungsverlust verbrennt. Dieser Glaube kann auch dort entfacht werden, wo seit Generationen nicht (mehr) über Gott geredet wird, denn er ergibt sich aus der Erkenntnis, dass allen Menschen alles geschenkt worden ist. Aus dem säkularen Gedanken, dass nichts heilig ist, müsste die Botschaft erwachsen, dass nichts heiliger ist als anderes, weil alles heilig ist, weil jeder Mensch Anteil hat an Gottes Liebe und Anteilseigner von Gottes Königsherrschaft ist. Ostern wird dann zum Fest der Gnade, die über alle ausgegossen wird, und uns zu der einfachen Erkenntnis zwingt und bringt, dass Gott seine Spur im Antlitz eines jeden Anderen erkennen lässt.
Vgl. Teil 2: Ulrich Engel zur Theologie im Osten
Vgl. Teil 3: Karlheinz Ruhstorfer – Stirbt Gott schon wieder?
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