Gott ist am Weg und lodert mit seiner Anwesenheit. Egbert Ballhorn plädiert für die Suche nach einem Gott, der selbst entscheidet, wie er uns begegnen wird.
Ich stehe im Arbeitszimmer Dietrich Bonhoeffers an seinem Schreibtisch. In Berlin-Charlottenburg steht das Haus seiner Eltern. Es ist eine großbürgerlich-gepflegte Gegend, in der die Welt in geordnet und in Ordnung ist. Hier scheint die Zeit stehengeblieben zu sein.
An diesem Schreibtisch schrieb Bonhoeffer seine „Ethik“, das Werk, das ihm am meisten am Herzen lag. Und doch trügt der äußere Schein. Schon 1935, als das Haus gebaut und eingerichtet wurde, war die Welt aus den Fugen gegangen. Der Nationalsozialismus herrschte und schickte sich an, ein mörderisches Blutbad anzurichten. Alle Bonhoeffers ahnten und wussten das und arbeiteten dagegen. Und auch Dietrich war konspirativ tätig. Er wusste, er würde den Glauben verraten, wenn er die Politik aus den Augen verlieren würde. Und so ging er in den aktiven Widerstand gegen Hitler. Der Weg dorthin war nicht leicht, immer wieder hat er sich rückversichert, mit Freunden sich theologisch beraten, intensiv die Bibel studiert. „Unser Weg nach dem Zeugnis der Schrift“ lautet eine seiner Veröffentlichungen. Es ging ihm um existenzielles Suchen danach, was die Aufgabe der Christen in der Gegenwart ist.
„Wer ist Christus für uns heute?“, das ist die brennende Frage, die er aus dem Gefängnis in Tegel an seinen Freund Eberhard Bethge schreibt. Die Überschrift eines ganzen Lebens bis in das Martyrium hinein. Was sind die Anforderungen, vor die uns der Glaube an Jesus Christus in unserer Gegenwart stellt? In welcher Gestalt kommt uns Christus entgegen?
Wer nach Christus fragt, der „hat“ ihn nicht, der besitzt ihn nicht, der muss ihn suchen. (Jes 55,6; Joh 1,18; 18,4). Welche Fragen stellt unser Heute?
Die existenzielle Frage Bonhoeffers kommt mir in der Gegenwart entgegen. „Wenn wir nicht auf Gott setzen, können wir alles vergessen. Es darf nicht nur um die Kirche gehen“, dies sagt ein befreundeter alter Priester immer wieder zu mir. Das scheint mir der entscheidende Punkt zu sein. Wer ist Gott für uns heute? Wo finden wir ihn? Wie kommt er uns entgegen? Entscheidend ist die Haltung der Gott-Suche. Wir haben uns in der Kirche vielleicht zu sehr angewöhnt, Gott zu „haben“. Mehr noch: Wir haben uns eine Verfügungsgewissheit über Gott angewöhnt in unserem Tun und Reden, auch in fertigen Antworten auf aktuelle Nöte. Es wird Zeit, dass wir uns stärker auf die Gott-Suche begeben, in der Gewissheit, dass er uns begegnen will und wird, jedoch auf seine Weisen, nicht auf unsere.
Wie könnte das gehen? Bereit sein für die Begegnung mit Gott – und Worte erproben, eine Sprache suchen.
Der Götze
Eloquenz:
Vor Gott ist der Stotterer, dem es ein-
fällt, aus dem es aber nicht herauskann,
angesehener.
Im Spätsommer erlebte ich, wie der Pfarrer am Ende des Gottesdienstes den Wettersegen spendete. Es war in einer bäuerlichen Gegend, wo es wohl auch zum Brauch gehört. Warum aber habe ich das jahrelang nicht erlebt? Seit Monaten fällt kaum ein Tropfen Regen, aber das führt selten zum Gebet. Trauen wir den Worten der eigenen Gebetstradition nicht mehr? Glaubt man vielleicht nicht mehr ernsthaft daran, dass Gott der Herr der Welt ist? Gebet ist kein Ausweichen vor den Realitäten. Fürbitte und eigenes Handeln, Wettersegen und konkrete Klimakonzepte der Bistümer und Gemeinden gehören innerlich zusammen. Warum bekomme ich von beidem kaum etwas mit? Warum muss ich so oft Gottesdienste mitfeiern, bei denen ich mir im Hinausgehen die Frage stelle, ob sie mit denselben Worten nicht auch vor zwanzig oder dreißig Jahren hätten gefeiert werden können, mit einer zeitlosen Predigt und vorgefertigten Fürbitten? “ Unter welchem Himmel leben wir?“
Wie kann es sein, dass das Moment der verrinnenden Zeit unsere Gesellschaften auf allen Ebenen intensiv beschäftigt: die kostbare Zeit von Öffentlichkeit und Gemeinschaft bis zur nächsten Infektionswelle, die anscheinend endliche Zeit des Friedens, die wir in Europa erlebt haben, die Restzeit, die uns bleibt, um eine Klimakatastrophe abzufedern, die Zeit, die wir noch haben, Bodenschätze und Energie sinnvoll einzusetzen – wie kann es sein, dass uns diese Fragen gesellschaftlich so sehr beschäftigen – und in den Kirchen oft eine geistliche Zeitlosigkeit und Sprachlosigkeit herrscht? Gesellschaftlich erscheint mir die Kirche in Mitteleuropa als eine gehetzte Institution, die viel tut, um sich in die Zukunft hinüberzuretten. Ein Großteil der Energie scheint jedoch in das Anliegen zu fließen, dass möglichst viel bleiben kann, wie es ist. Was begegnet uns in der Zeit? Was ist der Auftrag Gottes an uns? Was ist unsere Sendung?
ER hört und lässt Seinen
Hauch wehen in die atemlosen Würgepausen.
„Herr, wir bringen in Brot und Wein unsere Welt zu dir“ – diese Worte werden oft während der Gabenbereitung gesungen. Das ist doch eigentlich ein Teil des Programms: Die Welt vor Gott zu bringen. Es ist zu wenig Welt und zu wenig Gott in unseren Gottesdiensten. Gott wird formal angesprochen, aber wenig beim Wort genommen. Die routinierte Ritualisierung der Gottesdienste schließt das Stocken und Innehalten oft aus. Mir scheint, es ist Zeit, auf Gottsuche zu gehen. Und auf die Menschensuche gleicherwege. Bereit sein für die Begegnung mit Gott in den Fragen des Heute. Bereit, Beauftragungen zu erkennen und anzunehmen. Bereit, sich neue Worte in den Mund legen zu lassen.
Dafür gibt es Vorbilder. Mose zum Beispiel (Ex 3). Gott ist derjenige, der am Weg ist und mit seiner Anwesenheit lodert. Da war Mose schon längst unterwegs, nach gescheiterten eigenen Versuchen, sein Volk von der Unterdrückung zu befreien. Statt einfach die Bedrängnis in nichts aufzulösen, beginnt Gott mit Mose und dem Volk Israel einen jahrzehntelangen Weg in die Freiheit. Der Weg ist mühsam, für Mose, für das Volk, aber auch für Gott. Genau das will er. Im Begleiten, im Mitgehen, im Zurechtweisen erweist er sich als Gott. Jahr um Jahr, Schritt für Schritt.
Und Mose? Mose stottert (Ex 4,10). Und Gott will den stotternden Propheten. Das ist der, dem er seine Worte in den Mund legt.
Den für Seine Lettern ungeschaffnen Mund
öffnet ER sich und schlägt das Zaudern
Seiner Propheten in den Wind.
Die Frage nach Gott führt zur Suche nach ihm (Jer 6,16), führt dazu, ihm an ungewohnten Orten zu begegnen. Mit der Bereitschaft, sich Worte in den Mund legen zu lassen, die noch ganz ungewohnt klingen. Mit der Bereitschaft, diese Worte zögernd auszusprechen, sie im Reden zu erproben, in die Sprachschule der geistlichen Zeitgenossenschaft und des Glaubens zu gehen.
ER vollendet das hingestotterte Gebet
Großes Paradox: Auch nach Ankunft im verheißenen Land und während langer Jahrhunderte wird für Israel im Rückblick gerade die unsichere Zeit der Wüstenwanderung mit dem mitwandernden Gott als immer intensivste und heiligste Zeit des eigenen Glaubensweges erscheinen.
Vielleicht flösse
das Licht fließender,
wenn wir stockender
sprächen.
Die eingestreuten Zeilen stammen aus dem Gedicht „Schwere Zunge“ von Richard Exner; aus: Exner, Die Zunge als Lohn. Gedichte 1991-1995, Stuttgart, 1996, 46f. Siehe auch: Georg Langenhorst, Gedichte zur Gottesfrage. Texte – Methoden – Interpretationen. Ein Werkbuch für Schule und Gemeinde, München 2003, 200-203 sowie Paul Deselaers, „… deine an unserem Leben hängenden Worte“. Das eine Wunder, GOTT, im Werk Richard Exners, GuL 2021, 72-84.
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Dr. Egbert Ballhorn ist Professor für Exegese und Theologie des Alten Testaments an der TU Dortmund. Er ist Vorstandsvorsitzender des Katholischen Bibelwerks Stuttgart e.V.
Bild: Andreas Hermsdorf – pixelio.de