Der „Lockdown“ trifft die jüdischen Gemeinden in der Schweiz und weltweit ins Herz. Was dies gerade an Pessach für sie bedeutet, schildert Simon Erlanger.
Die Schweiz im Zeichen des Corona-Virus: Seit bald vier Wochen steht das Leben fast überall still. Verödete Bahnhöfe, fast leere Züge, reduzierter ÖV, stille Kindergärten und Schulen, verwaiste Innenstädte mit so wenig Menschen wie noch nie, die Wirtschaft im Krisenmodus wie seit den dreissiger Jahren nicht mehr. Es herrscht «Lockdown». Eine gespenstische Ruhe breitet sich aus über dem Land.
Das öffentliche Leben wird zurückgefahren. Alle Veranstaltungen sind abgesagt, selbst die kleinsten. Gottesdienste sind verboten. Obwohl die Gotteshäuser eigentlich noch offenbleiben dürfen, ist ihre Nutzung untersagt.
Ohne das Zusammenkommen in der Gemeinschaft gibt es kein Judentum.
Die jüdischen Gemeinden haben ihre Synagogen ganz geschlossen. Dies trifft sie ins Herz. Denn seit dem babylonischen Exil vor 2500 dreht sich jüdisches Leben um die Gemeinschaft, das gemeinsame Gebet in der Synagoge. Um die Synagoge herum – manchmal auch in Opposition zur Synagoge – gruppiert sich die Gemeinde mit ihren zahlreichen sozialen, kulturellen, pädagogischen und geselligen Vereinen und Verbänden. Ohne das Zusammenkommen in der Gemeinschaft gibt es kein Judentum. So ging es immer weiter, irgendwie, selbst als 1938 in Deutschland die Synagogen brannten.
Pessach ist zentral
Und jetzt dies: Das Verbot von Menschenansammlungen über fünf Personen, Social Distancing, gewissermassen das vorläufige Grounding des gelebten Judentums. Und dies gerade jetzt, vor und an Pessach, dem Fest der Befreiung von der Sklaverei, an dem des Auszugs der Israelitinnen und Israeliten aus Ägypten gedacht wird. Es ist eines der wichtigsten jüdischen Feste überhaupt, da das Gedenken an den Exodus konstituierend ist für jüdische Identität. So nehmen durchschnittlich 70 Prozent der amerikanischen Juden und Jüdinnen an einem Sederabend teil, der wichtigsten Zeremonie des Festes. In Israel sind es gar 93 Prozent. Diese Sederabende vereinen Familien, Grossfamilien, Freundeskreise an einen üppig gedeckten Tisch. Gemeinsam wird der Auszug aus Ägypten rekapituliert, werden Hymnen und Psalmen gesungen. Gemeinsam geniesst man ein reiches Festmahl. Gemeinsam konsumiert man die traditionellen vier Becher pro Person.
Der Sederabend ist auch generationenübergreifend. Die Kinder werden als Teil der Zeremonie ermutigt, Fragen zu stellen. Die Alten antworten und erzählen von Geschichte und Tradition. So wird jüdische Kontinuität generiert.
Die Kinder werden als Teil der Zeremonie ermutigt, Fragen zu stellen.
Seit Anbeginn war Pessach ein Fest, das in Gemeinschaft, in Familien und in der Gemeinde freudig gefeiert wurde. Schon zu biblischen Zeiten pilgerten die Familien zuerst nach Schilo, später nach Jerusalem, wo sie im Tempel das Pessach-Lamm darbrachten und dann in Gemeinschaft verzehrten, während sie vom Auszug aus Ägypten erzählten. Übrigens: Jesus hielt sich an einem Pessach in Jerusalem auf. Das letzte Abendmahl war ein klassischer Sederabend. Die Zahl der Pilger zur Zeit des Zweiten Tempels ging in die Hunderttausende. Sie alle sollen nach Jerusalem gepilgert sein, um dort das Pessachopfer darzubringen. Der jüdische Historiker Josephus Flavius (37-100) schreibt in seiner Geschichte des Jüdischen Krieges gegen Rom von über einer Million Pilgern und Pilgerinnen, die sich jeweils in der Stadt aufgehalten haben sollen.
Trauriger Pessach
Corona-Krise und Lockdown: Es wird ein trauriger Pessach werden, wie man ihn so noch gar nie gesehen hat: Ohne festliche Gottesdienste, ohne die grossen Sederabende in Gemeinden und Familien, ohne Einladungen und Gäste, ohne die in den letzten Jahrzehnten üblich gewordenen Pessachferien im Hotel. Von Israel über Europa bis nach Australien und in die USA sind Jüdinnen und Juden von Quarantäne und Lockdown betroffen. Die wirtschaftliche Zukunft erscheint ungewiss. Viele müssen Pessach allein begehen, zum ersten Mal im Leben. Generationen sind getrennt und das gerade an Pessach, dem Fest der Kontinuität. Das jüdische religiöse Leben steht still. Untersagt sind nebst dem täglichen dreifachen Gebet in der Synagoge auch die Gebetsquoren oder «Minjanim» bei einer Trauerversammlung, sowie Kondolenzbesuche. Beerdigungen finden nur im allerengsten Kreis statt. Abdankungen finden per Zoom statt, wenn überhaupt.
Das jüdische religiöse Leben steht still.
Man muss sehr lange zurückgehen, bis man ähnliches findet. Dabei landet man unvermeidbar in den finstersten Epochen jüdischer Geschichte, etwa damals, als Kaiser Hadrian im Gefolge des Bar Kochba-Aufstandes kurzerhand die jüdische Religion verbot.
Die Pflicht Menschenleben zu retten
Natürlich kann man die damalige Krise nicht mit der heutigen Situation vergleichen. Heute geht es nicht um Verfolgung und um Drangsalierung, sondern um «Pikuach Nefesch», darum, Menschenleben zu retten und vor allem die Alten und chronisch Kranken vom tödlichen Corona-Virus zu schützen. Jüdinnen und Juden sind dazu verpflichtet. Denn das Gebot von «Pikuach Nefesh», der Rettung von Leben, ist das höchste Gebot im Judentum. Es verdrängt mit wenigen Ausnahmen, alle anderen Gebote. Jüdinnen und Juden sollten daher alles tun, um die Verordnungen der Behörden umzusetzen, gleichzeitig aber versuchen, im Privaten trotz Vereinzelung und Fragmentierung doch noch so etwas wie Festtagsstimmung aufkommen zu lassen und Pessach würdig zu begehen.
Das Gebot von «Pikuach Nefesh», der Rettung von Leben, ist das höchste Gebot im Judentum.
Gerade in der Krise zeigt sich ja der Wert der Gemeinschaft. Zahlreich sind die Initiativen in den jüdischen Gemeinden um Abgeschiedenheit und Vereinsamung zu überwinden. Allenthalben gibt es Schiurim, Unterweisungen und Konzerte per Internet, sowie Freiwillige, welche Risikopersonen zuhause mit allem Nötigem versorgen. In Israel erlaubten einige orthodoxe sefardische Rabbiner sogar den Sederabend per Zoom online zu übertragen, damit Familien wenigstens virtuell zusammen sind.
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Simon Erlanger, Dr. phil., ist unter anderem Lehr- und Forschungsbeauftragter an der Professur für Judaistik und Theologie der Universität Luzern.
Bild: Jean-Marc Pascolo / Wikimedia.org