Volksparteien schmelzen dahin, die Ränder erstarken und der deutsche Bundespräsident sorgt sich um den „Kitt der Gesellschaft“. Welche Rolle in alldem spielt der christliche Glaube? Eine Diagnose von Daniel Bogner.
Dass die Frage nach dem „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ heute so intensiv diskutiert wird, ist Reflex eines Verlustes: Unter den Bedingungen eines normativ gewollten weltanschaulichen Pluralismus fällt die als Integrationsfaktor einstmals erfolgreiche Instanz der Weltanschauung weg. Moderne Gesellschaften lassen sich auch nicht über das religiöse Bekenntnis „auf einen Nenner bringen“; die menschenrechtlich verbürgte weltanschauliche Wahlfreiheit macht staatliche Enthaltsamkeit zum Thema Religion und Bekenntnis verpflichtend.
Die Frage nach dem Zusammenhalt stellt sich von nun an mit neuer Brisanz: Die in Gesellschaften stets virulenten Konflikte um die Verteilung von Gütern und Ressourcen sowie um angemessene Mitwirkungsräume ihrer Mitglieder können nicht mehr mithilfe eines religiös-weltanschaulich fundierten Modells von gesellschaftlichen Rollen und Funktionen gelöst oder beantwortet werden. Diese Konflikte, die sich unter den Bedingungen wirtschaftlicher Globalisierung verschärfen, verlangen nach neuen Antworten, und die Frage, was „unsere Gesellschaft zusammenhält“, ist die etwas großformatige Benennung dieses Bedarfs. Klassischerweise lassen sich zwei Optionen unterscheiden, mit denen die so skizzierte Problematik angegangen wird.
Mehr Sozialpolitik oder mehr Werte?
Während die einen in Wohlfahrtsstaat und sozial-ökonomischer Integration das Feld sehen, auf dem sich die Kohärenz der Gesellschaft herstellen lässt, betrachten die anderen eher den Bereich von Werten und gemeinschaftlichen Überzeugungen als Instrument gesellschaftlicher Integration. In den beiden großen Parteienfamilien der deutschen Nachkriegsdemokratien spiegeln sich diese unterschiedlichen Ansätze. Sozialdemokratische Vorstellungen von gesellschaftlichem Zusammenhalt legen besonderen Wert auf Maßnahmen sozial-ökonomischer Absicherung, christdemokratische Programme heben eher auf die ideellen Überzeugungen ab, von denen das Gemeinwesen lebt (westliche Wertegemeinschaft, christliche Tradition, deutsches Nationalbewusstsein u.ä.).
Menschen wollen wissen, wofür sie leben. Die Sinnfrage darf politisch nicht suspendiert werden.
Beide Antworten auf die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt sind gegenwärtig in eine Krise geraten: In der Sozialdemokratie wird heute, anders als noch vor Kurzem, darüber nachgedacht, wie Menschen das erleben können, was man abgekürzt mit dem Begriff „Heimat“ bezeichnet. Es setzt sich die Überzeugung durch, dass die ökonomisch-soziale Stellung des Einzelnen für ein erfülltes und gelingendes Leben zwar elementar ist, aber eben nicht ausreicht. Menschen wollen wissen, wofür – in welchem Kontext, mit welchen Zielen, auf welchen Horizont hin – sie ihr Leben führen sollen. Im Interesse an einem gelingenden Gemeinweisen ist säkulare Politik auf etwas angewiesen, das nicht technisch hergestellt oder rechtlich erzwungen werden kann, nämlich das über den Tellerrand des rechtlich Erwartbaren hinausgehende kreative und gemeinschaftsstiftende Engagement der Bürgerinnen und Bürger.
Mit anderen Worten: Der Mensch „lebt nicht vom Brot allein“, sondern – gesellschaftlich gewendet – von den Sinnressourcen, die es ihm aussichtsreich erscheinen lassen, sich im Sinne einer gesellschaftlichen Gemeinschaft (die berühmte „civic society“) zu engagieren und tätig zu werden. Ohne solches Engagement im Einzelnen vorschreiben zu sollen, ist Politik doch in der Verantwortung, so etwas wie ein „Hintergrundbewusstsein“ von diesem möglichen Sinnhorizont zu pflegen und dadurch das freie Engagement seiner Bürgerinnen und Bürger zu ermöglichen.
Das Versagen des politischen Konservatismus
Auf Seiten der konservativen Parteien hat man ebenfalls Fehler begangen, allerdings von anderer Richtung aus: Anstatt für eine Weiterentwicklung und Pflege des geistig-moralischen Wertehaushaltes zu sorgen, aus denen die C-Parteien ihre Identität beziehen, machte sich ein machtpolitischer Pragmatismus breit, der sich immer wieder mit wirtschaftspolitischen Deregulierungsprogrammen paarte. Den stärksten Trumpf im politischen Wettbewerb gab man damit aus der Hand, nämlich die Kompetenz, eine tagesaktuelle Politik auf bestimmte Grundüberzeugungen zurückführen zu können und umgekehrt aus Grundüberzeugungen politische Orientierung für neu aufkommende politische Herausforderungen erarbeiten zu können.
Werte fallen nicht vom Himmel. Man muss sie hegen und pflegen.
Aus bestimmten Grundwerten Politik zu machen, wird auf lange Sicht nur dann erfolgreich funktionieren, wenn politische Akteure auch in der Lage sind, darüber auf eine nachvollziehbare, transparente und gewinnende Art und Weise zu kommunizieren. Werte verkümmern, wenn sie einfach nur vorausgesetzt werden. Man muss sie pflegen und hegen. Dass die deutschen Unionsparteien auf diesem Feld defizitär geblieben sind, zeigt das Aufkommen der AfD, die es sich zunutze macht, das verwaiste Feld der sinnhaften Erschließung von Politik mit ihren dichten Narrativen zu füllen. Dass diese Narrative wiederum nicht oder kaum mit den pragmatischen Kautelen der Tagespolitik in Verbindung stehen und deshalb weniger Sinn als vielmehr Ideologie bilden, ist die Kehrseite dieses Ansatzes. Eine gute Politik sollte beide Pole – sinnhafte Erschließung und pragmatisch orientierte Rücksicht auf reale Gegebenheiten – miteinander vereinen.
Der Beitrag des Christentums
Was aber kann man von christlich-theologischer Seite zu diesen Herausforderungen sagen? Kann das Christentum überhaupt zum Problem des gesellschaftlichen Zusammenhalts etwas Spezifisches beitragen? Wie bei anderen gesellschaftlich-politischen Fragen auch wird man zunächst Übersetzungsarbeit leisten müssen. Denn von seinem biblischen Fundament her gibt das Christentum keine unmittelbaren Antworten auf Fragen, die sich unter Bedingungen der Gegenwart überhaupt erst stellen. Von „Gesellschaft“ als einem plural-heterogenen Gebilde, in dem sich die Freiheitsansprüche seiner vielfältig individuierten Mitglieder ausdrücken und für welche sie Gestaltungs- und Selbstverwirklichungsraum sein soll, kann für die biblische Situation nicht gesprochen werden. Insofern ist der Bibel auch die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt zunächst fremd.
Gerechtigkeit, das heißt zunächst: ein Volk bilden, dass seinem Schöpfer-Gott entspricht.
Was sie hingegen behandelt, ist die Frage: Wie kann der Mensch ein Volk – eine Gesellschaft – bilden, das Gott entspricht und zu seinem Volk wird? Die Weisungen (Tora) der Bibel sind Hilfe und Weg, um zu diesem Volk zu werden. Forderungen nach gesellschaftlicher Gerechtigkeit (Sorge um Witwen, Waise, Alte etc.) wurzeln in der Forderung nach einer Gerechtigkeit Gottes, die darin besteht, dem Schöpfer und Erhalter allen Lebens zu entsprechen, ihm gerecht zu werden. Den vielen Götzen zu entsagen, sich zu dem einen Gott zu bekennen – in dieser Urformel des biblischen Monotheismus gründen alle weiteren, daraus abzuleitenden Begriffe der biblischen Tradition mit vermeintlich unmittelbar politisch-gesellschaftlichem Gehalt. Monotheistisch vermittelt birgt die biblische Tradition dann Ressourcen, die für die heutige Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt relevant werden können.
Dazu gehört die Überzeugung, dass randständige Menschen nicht am Rande belassen, sondern integriert werden sollten. Dazu zählt auch die Überzeugung, dass es eine statusbezogene Gleichheit aller Menschen gibt, gleich welchen Geschlechts oder welcher Herkunft jemand ist oder über welche Fähigkeiten man verfügt. Auch das vielfältige Ringen mit dem Gewaltthema und die Bedeutung der leibhaft-körperlichen Existenz des Menschen gehören zum biblischen Erbe, ebenso wie die Aufforderung an den Menschen, es Gottes barmherzigem Handeln gleich zu tun und die Forderungen der Gerechtigkeit auf barmherzige Art und Weise umzusetzen. All diese Maßgaben zeigen eine Richtung an, an der sich gesellschaftlich-politisches Handeln in der Gegenwart orientieren kann (und muss, wenn es sich christlich nennen möchte), aus der aber konkrete politische Einzelmaßnahmen nicht unmittelbar abgeleitet werden können.
Strukturelle Achtsamkeit
Auf die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt bezogen kann man deshalb schlussfolgern: Das Christentum – in seiner Form als gelebte, gesellschaftlich wirksame Praxis – kann als ein Akteur struktureller Achtsamkeit bezeichnet werden. Das bedeutet: Christinnen und Christen haben Teil an ihrer jeweiligen Zeit und Gesellschaft wie andere Menschen und Gruppen auch. Aber es zeichnet sie aus, von ihrem Glauben her mit einer programmatischen Verpflichtung unterwegs zu sein – die Verpflichtung, in der Gesellschaft, in der sie leben, jene Glaubenshaltungen von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zu praktizieren, in denen sie einen treuen Ausdruck ihrer Glaubensberufung als Christinnen und Christen erkennen und durch die sie auf das ergangene Wort Gottes eine Antwort geben wollen.
Mehr als nur ich selbst, anderes als bloßes Gefühl.
Solche Achtsamkeit (oder Aufmerksamkeit) ist „strukturell“ zu nennen, weil sie die individuelle Ebene übersteigt: Es geht nicht, wie in der gegenwärtigen Inflation der Achtsamkeitsrhetorik, um ein Mittel zur Steigerung des Selbstgefühls, sondern darum, soziale Schieflagen, sich abzeichnende Dissoziationsprozesse und Marginalisierungsprobleme innerhalb des Gemeinwesens wahrzunehmen und zur Sprache zu bringen. Die Geste des Christentums ist es, „den Finger in die Wunde legen“, weil man wahrgenommen hat, was in den Kalkülen anderer (wirtschaftlicher, konsumgesellschaftlicher, beschleunigungsgetriebener) Interessenslagen ungesagt bliebe.
Nicht links, nicht rechts – mehr!
Solche christlich motivierte strukturelle Achtsamkeit umschließt beide oben erwähnten (partei-) politischen Strategien im Streben nach gesellschaftlichem Zusammenhalt: Sie ist interessiert an der realen sozialen Situation der Mitglieder einer Gesellschaft und leitet zu konkreten politischen Maßnahmen an. Zugleich verbindet und füllt sie das konkrete politische Handeln mit einem Sinn, der umfassender und erfüllender ist, als es Parteiprogramme und politische Agenden je sein können: „Ich aber bin gekommen, um ihnen das Leben zu geben, das Leben im Überfluss“ (Joh 10,10).
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Daniel Bogner lehrt theologische Ethik an der Universität Fribourg/CH und ist Mitglied in der Redaktion von Feinschwarz. Der Text erscheint zeitgleich in der Zeitschrift Hirschberg.
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