Theologische Genderforschung ist nicht bloß Frauensache. Gender geht uns alle an. Ein Kommentar von Carolin Hohmann.
Von meinem Seminar erzähle ich engagiert und begeistert. Im Rahmen einer katholisch-theologischen Lehrveranstaltung setzen sich die Studierenden mit Gender als praktisch-theologische Kategorie auseinander. „Und was ist mit den Studenten?“ – die Reaktion auf meine Ausführungen überrascht mich. Offensichtlich scheint eine größere Sorge zu bestehen, dass doch gerade männliche Studierende mit dem Thema gar nichts anfangen könnten.
Gender ist nicht bloß Frauensache.
Gender ist aber nicht bloß Frauensache. Theologische Genderforschung ist nicht ausschließlich Forschung von und für Frauen.[1] Und doch gehen viele Studenten theologischen Seminaren mit Genderbezug aus dem Weg – zumindest, wenn sie die Wahl haben. Sie dürften sich ruhig mehr zutrauen. Und Lehrende dürfen Theologiestudierenden durchaus mehr Gender zumuten. Anders gelingt kein Theologiestudium auf der Höhe der Zeit.
Der Begriff „Gender“ rekurriert auf die Differenzierung zwischen sex als biologisches und gender als soziales Geschlecht. Das soziale Geschlecht bezieht sich auf Konstruktionen von Geschlecht, die Menschen zugeschrieben werden und vermutlich jede:r schon erfahren hat: Mädchen spielen mit Puppen, Jungen mit Autos, Mädchen malen, Jungen raufen; Frauen reden und shoppen, backen und kochen, Männer brauchen schnelle Autos und Muskeln, aber keinerlei Emotionen.
Die Unterscheidung zwischen sex und gender war sowohl für die Frauenbewegung als auch für die feministische Theoriebildung der 1970er revolutionär: Wenn Geschlecht als sozial konstruiert und damit gesellschaftlich bedingt ausgewiesen werden konnte, dann wurde die biology-is-destiny-These (Biologie ist Schicksal/Bestimmung) angreifbar.[2] Auf den Punkt brachte das Simone de Beauvoir: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“[3] – wenngleich hier mit Judith Butler zu fragen ist, inwiefern sex überhaupt von sozialen Konstruktionen getrennt werden kann.
Dass Männer nicht weinen und bei Problemen nicht um Hilfe bitten sollen, sind Konsequenzen einer sog. toxischen Männlichkeit.
Auch im Kontext des besagten Seminars zeigte sich, dass Frauen wie Männer – auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichen Konsequenzen – durch Geschlechterstereotype geprägt sind. Die Aufgabe eines theologischen Genderseminars besteht für mich mitunter darin, damit einhergehende Naturalisierungen und Essentialisierungen – auch in ihrer intersektionalen Verwobenheit mit weiteren (Diskriminierungs-)Kategorien – zu dekonstruieren.
So wird etwa das (physisch) schwächere Geschlecht noch immer mit Frauen assoziiert. Für Männer resultiert daraus wiederum die Erwartung, (physische) Stärke demonstrieren zu müssen und keine Schwäche oder Vulnerabilität zu zeigen. Dass Männer folglich nicht weinen und bei Problemen nicht um Hilfe bitten sollen, sind Konsequenzen einer sog. toxischen Männlichkeit, die von klein auf gelernt wird und sich auf gesellschaftliche Konzepte von Männlichkeit auswirkt.
Männer profitieren, ob gewollt oder nicht, von einer ungleichen Geschlechterordnung.
Aus theologischer Perspektive scheint es mir wichtig, Ausschlüsse und Ungerechtigkeiten auf unterschiedlichen Ebenen aufzudecken. Stereotypisierungen und erlebte Exklusionen können nicht allein auf individueller Ebene verortet und folglich nur unter Mitberücksichtigung hegemonialer Diskurse und struktureller Ungleichheiten verstanden werden. Dabei muss konstatiert werden, dass Frauen strukturell häufiger Benachteiligungen aufgrund ihres Geschlechts erfahren als Männer.
Viele Männer profitieren, ob gewollt oder nicht, von einer ungleichen Geschlechterordnung – die Soziologin Raewyn Connell spricht hier von einer „patriarchalen Dividende“[4]. Um Geschlechterungerechtigkeit also umfassend begegnen zu können, ist die Berücksichtigung und Mitwirkung unterschiedlicher (Geschlechter-)Perspektiven notwendig.
Gender geht uns alle an.
Die Entlarvung toxischer Geschlechterstereotype und Machtstrukturen sowie damit verbundener Ausschlüsse ist eine wesentliche Voraussetzung für gender- und gerechtigkeitssensibles Handeln. Dies kann nur gelingen, wenn wir gemeinsam daran arbeiten, Ungerechtigkeiten auf unterschiedlichen Ebenen zu dekonstruieren und dabei auch uns selbst und unser Handeln anfragen lassen. Die Kategorie Gender ist also mehr als Geschlecht, mehr als Frauenbenachteiligung und die Erforschung umfasst mehr als Forschung von und für Frauen: Gender geht uns alle an.
Inwiefern kann nun ein theologisches Genderseminar dazu beitragen, die formulierten Ansprüche umzusetzen? Studierende selbst – im Seminar etwa die Hälfte von ihnen Studenten – haben ihren Lernprozess wie folgt zusammengefasst:
- „Es geht nicht nur um Wissen, aber auch viel um die eigene Haltung.“
- „Größere Sensibilität im Umgang mit gendergerechter Sprache“
- „Tatsächlich ist mir nochmals bewusster geworden, wie komplex das Thema Gender ist.“
- „Ich habe als Student mit theologischer Vorbildung eine andere Perspektive gewinnen können. Es gibt auch innerkatholisch mehr Positionen als nur ‚das Lehramt‘.“
- „In meinem ersten Studium spielte es [das Thema Gender, C. H.] noch keine große Rolle. Ich musste aufgrund dessen jetzt auch erst einmal komplett umdenken bzw. bin noch dabei, da es doch […] auf beliebige Gleichmacherei verkürzt oder als bestenfalls vorübergehende Mode dargestellt wird.“
- „Ich habe viel Neues gelernt und meine Perspektiven erweitert. Mich hat überrascht, dass es in der Theologie dann doch so einen großen Diskurs schon gibt zum Thema ‚Gender‘.“
- „Auf jeden Fall habe ich Lust, mich in weiteren Semestern und auch nach dem Studium weiter mit Religion in Verbindung mit Gender und Sexualität zu beschäftigen.“
- „Ich nehme ganz viel mit. Das Seminar hat meine Gendervorstellungen vertieft und mich noch sensibler gemacht. Ich freue mich sehr, dass ich das Thema im theologischen Kontext ausdiskutieren konnte.“
- „Ich bin etwas sprachlos. Da ist so viel Neues, ich hätte nicht gedacht, dass ich mal anders denken werde.“
- „Mein eigener (weiblicher) Blickwinkel hat sich stark verändert. Ich fand das Thema vorher immer etwas anstrengend.“[5]
Es fällt auf, dass es nicht möglich ist, Genderfragen einzig aus einer Außenperspektive zu betrachten. Vielmehr fordert die Auseinandersetzung mit der Kategorie Gender zu einer Haltung mit handlungsweisenden Konsequenzen heraus. Dafür ist es notwendig, sich nicht nur Wissen über Gender anzueignen, sondern auch (selbstkritisch) dahinterliegende Machtstrukturen und deren Einfluss auf das eigene und das Leben meines Gegenübers sowie auf die Gesellschaft als Ganzes zu hinterfragen.
Ferner wird in den Kommentaren der eigene Sprachgebrauch aufgegriffen, der auch in der Theologie als gerechtigkeitssensible Wissenschaft diskutiert werden muss. Sprache schafft Wirklichkeit und prägt damit unsere Wahrnehmung und unser Denken. Das geschieht oft subtil und beeinflusst gerade deshalb unser Handeln, ohne dass wir bewusst jemanden diskriminieren oder ausgrenzen möchten.
Es reicht nicht aus, wenn sich nur Studierende mit genderrelevanten Fragestellungen auseinandersetzen, die bereits Interesse an diesem Thema entwickelt haben.
Es bleibt damit festzuhalten, dass es nicht ausreicht, wenn sich nur jene Studierende mit genderrelevanten Fragestellungen auseinandersetzen, die bereits durch zum Beispiel außeruniversitäres Engagement Interesse an diesem Thema entwickelt haben. Sensibilität für Ungleichheit (re-)produzierende Kategorien kann nur erreicht und in einer zukünftigen Berufsausübung erwartet werden, wenn Studierende in ihrer universitären Ausbildung die Möglichkeit haben, sich mit eigenen (stereotypischen) Vorstellungen kritisch und reflektiert auseinanderzusetzen.
Ein theologisches Genderseminar kann also dazu beitragen, ein reflektiertes und über Alltagserfahrungen hinausgehendes Verständnis von Gender zu vermitteln und den Studierenden so die Entwicklung einer verantwortungsbewussten Haltung ermöglichen.
Als Theologin möchte ich dazu ermutigen, Gewohntes und Bekanntes in Frage zu stellen.
Weder thematisiert Theologische Genderforschung nur Frauen noch ist sie nur für Frauen relevant. Stattdessen geht es um ein gerechtigkeitssensibles Denken und Handeln sowie eine dafür erforderliche stetige Selbstreflexion, indem Gender als (Diskriminierungs-)Kategorie verstanden wird, die es zu berücksichtigen und immer wieder neu zu reflektieren gilt.
Ein theologisches Genderseminar kann dazu in besonderem Maße beitragen, wenngleich Gender als Thema und Kategorie auch Eingang in weitere Lehrveranstaltungen finden muss. Als Theologin möchte ich dazu ermutigen, Gewohntes und Bekanntes in Frage zu stellen und eigene (handlungsweisende) Denkmuster zu hinterfragen. Diese unbequeme (Heraus-)Forderung richtet sich nicht nur an die Theologische Genderforschung und erst recht nicht nur an Studentinnen.
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Carolin Hohmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentralinstitut für Katholische Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Religionspädagogik und Pastoraltheologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
Beitragsbild: Mubariz Mehdizadeh on Unsplash.
[1] Der vorliegende Text arbeitet lediglich mit einer binären Perspektive (Mann/Frau), da in den folgenden Ausführungen gesellschaftliche Diskurse (etwa zu Geschlechterstereotypen) im Fokus stehen, in denen mehrheitlich zwischen diesen beiden Geschlechtern differenziert wird.
[2] Vgl. Degele, Nina (2008): Gender / Queer Studies. Eine Einführung. Paderborn: Fink, S. 67f.
[3] Beauvoir, Simone de (1999): Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Reinbek: Rowohlt. Erstausgabe 1949, S. 334.
[4] Connell, Raewyn (2013): Gender. Herausgegeben von Ilse Lenz und Michael Meuser. Wiesbaden: Springer VS, S. 192.
[5] Die Zitate sind Ausschnitte aus der (anonymen) Evaluation der Seminarteilnehmer:innen am Ende der Lehrveranstaltung. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich die Aussagen lediglich auf eine Lehrveranstaltung beziehen und daher nicht zwangsläufig auf theologische Genderseminare im Allgemeinen übertragen werden können. Tipp- und Rechtschreibfehler wurden korrigiert.