Zu den ersten runden Geburtstagen des neuen Jahres gehört der 225. von Annette von Droste-Hülshoff. Ottmar Fuchs nimmt die zu ihren Ehren herausgegebene Briefmarke zur Hand und erschließt weitgehend unbekannte Facetten der bekannten Dichterin. Überraschend subversive Poesie zum Jahresbeginn.
Die Marke zeigt das Portraitgemälde einer adeligen Frau in einem blauen Kleid, mit streng geflochtener Frisur. Droste hat dieses Gemälde 1838 anfertigen lassen, also 10 Jahre vor ihrem Tod 1848. Das Sonderpostwertzeichen zum Wert von 70 Cent wird am 3.1.2022 ausgegeben und bezieht sich auf Drostes Geburtstag am 10. Januar 1797.
Zwei Momente überraschen mich und finde ich bemerkenswert:
Einmal, dass der Programmbeirat, der für die Entstehung der Sondermarken und für ihre Themen verantwortlich ist, dieses Erinnerungsjahr ins öffentliche Bewusstsein hebt, denn immerhin sollen die Sondermarken „Deutschland repräsentieren“.[1] Soweit ich allerdings feststellen konnte in den letzten Jahren meiner diesbezüglichen Überlegungen und Recherchen kommt diese Dichterin weder im öffentlichen Bewusstsein der Bundesrepublik vor, noch gibt es in fast allen Gesprächen eine besondere Resonanz, wenn man ihren Namen nennt, und wenn, dann nur marginal (mit: Judenbuche! Und: Knabe im Moor). Da ist es also schon etwas Besonderes, wenn mit dieser Sondermarke gewissermaßen korrigierend ins öffentliche Bewusstsein eingegriffen wird. Wenn es für jedes Jahr ca. 500 Vorschläge aus allen Bereichen der Bevölkerung gibt und wenn der Programmbeirat (im Bundesfinanzministerium) daraus etwa 50 neue Marken auswählt und vom Kunstbeirat gestalten lässt, ist es schon beachtlich, dass gerade Annette von Droste-Hülshoff unter diesen 50 im Jahr 2022 sein durfte.
Erstes feministisches Gedicht
Die zweite Überraschung ist das Zitat auf der Briefmarke: Es stammt aus dem Gedicht „Am Turme“ (1841).[2]
„Nun muss ich sitzen
so fein und klar…
Und darf nur heimlich
lösen mein Haar
Und lassen es flattern
im Winde!“
Die angesehene Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger hat dieses Gedicht als das „erste und vielleicht beste feministische Gedicht in deutscher Sprache“ eingeschätzt.[3]
Die Auswahl des Zitats auf der Sondermarke kann man durchaus als eine achtsame Spiegelung des aktuellen zum Teil heftigen Gender-Diskurses in verschiedenen Öffentlichkeiten erahnen.
Das Turmmotiv beschäftigt Droste schon sehr früh: Mit 22 Jahren wird ihr in einem Buch der Turm „zu einem wunderlichen Zauberbilde und ich sehne mich oft recht lebhaft darnach es einmal wiederzusehen“, so schreibt sie in einem Brief an ihren damaligen literarischen Ratgeber Anton Sprickmann im Jahre 1819 und sie kommt sich dabei komisch und unsinnig vor, dass sie immer wieder die Sehnsucht nach diesem Bild in sich hat und dieses Bild, sobald es möglich ist, sehen will.
Turm auf der Meersburg
Etwas mehr als zwei Jahrzehnte später wird dieser Turm Wirklichkeit, nämlich als sie den Turm auf der Meersburg bewohnte. Dieser Turm ist für sie auf der einen Seite einsam und graulich, hat die Geschichte der Gefangenen, die immer noch in den Gemäuern zu hören sind, aber dieser Turm bietet auch den Raum des Nachdenkens, des Schutzes und eben des poetischen Schreibens. In einem Brief an Louise Schücking schreibt sie: „Mein Turm ist köstlich … ich sitze darin wie ein Vogel im Ei…“
Die Germanistin Anja Peters[4] schreibt: „Die Einsamkeit und Verborgenheit des Lebens im Turm hat zwei Seiten. Einerseits bedeutet sie Gefangenschaft, andererseits ist sie Vorbedingung intellektueller Beschäftigung und des Schreibens.“ Droste sieht sich als privilegierte Gefangene, sie ist nicht im Verlies, wo sie nichts sieht, sondern hat den schönsten Raum mit der besten Aussicht. „Der Turm bedeutet Entrechtung und Privileg, Akzeptanz gesellschaftlicher Zuschreibung und ihre Überschreitung, dunkler Kerker und Fenster zur Welt. Seine Bewohnerin lehnt sich gegen die Beschränkung auf und hat doch gelernt, sich zu bescheiden.“ Denn: „Wie beim Panorama entpuppt sich dieser vorgeblich freie Blick allerdings als Täuschung. Was von der ‚luftigen Warte‘ so verfügbar erscheint, ist in Wirklichkeit unerreichbar.“
Und drunten seh‘ ich am Strand, so frisch
Wie spielende Doggen, die Wellen
Sie tummeln rings mit Gekläff und Gezisch
Und glänzende Flocken schnellen.
O, springen möcht‘ ich alsbald,
Recht in die tobende Meute,
Und jagen durch den korallenen Wald
Das Walroß, die lustige Beute! …
Wär ich ein Jäger auf freier Flur,
Ein Stück nur von einem Soldaten,
Wär‘ ich ein Mann doch mindestens nur,
So würde der Himmel mir raten;
Nun muss ich sitzen so fein und klar,
Gleich einem artigen Kinde,
Und darf nur heimlich lösen mein Haar
Und lassen es flattern im Winde!
Wäre Droste nicht unter dem Dach des Turms, sondern unter dem freien Himmel, so könnte sie selbst entziffern, was der Himmel ihr rät. Doch ziemt es sich für die Frau, „sich in die Unsichtbarkeit konkreter und seelischer Innenräume zurückzuziehen, während der Mann nicht nur in die Weite schauen kann, sondern darüber hinaus, auch … die für die Frau unüberwindbaren Entfernungen hinter sich lassen kann.“ (Peters) In der Abgeschlossenheit des Turmes allerdings will sie „die Schranken der traditionellen Konstruktion von Geschlechtsidentität hinter sich lassen“.
Gefährliches Touchieren und dosierter Wind
Mit ihren von Bändern befreiten flatternden Haaren schließt die Dichterin an die erste Strophe an, wo sie an der Balkonkante noch gefährlich die Grenze nach draußen zu touchieren vermag, am Schluss aber sitzt sie in der Stube, bei dosiertem Wind durch Fenster und Balkontüre.
Ich steh‘ auf hohem Balkone am Turm,
Umstrichen vom schreienden Stare,
Und lass‘ gleich einer Mänade den Sturm
Mir wühlen im flatternden Haare.
O wilder Geselle, o toller Fant,
Ich möchte dich kräftig umschlingen,
Und, Sehne an Sehne, zwei Schritte vom Rand
Auf Tod und Leben dann ringen!
Dies ist ihr Paradox: Der Turm schließt sie von der männerbeherrschen freien Welt aus, aber er schenkt zugleich die Freiheit, wenigstens von weitem zu überblicken, wovon sie ausgeschlossen ist, und in Freiheit am Schreibtisch die relative („heimlich“) Freiheit zu haben, dies alles intensiv ins Wort zu bringen. Im baulichen Käfig des Turms ereignet sich ein entfesseltes Universum von Bildern, Gedanken und Phantasien.
Die Briefmarke bringt dieses Paradox genial zum Vorschein, wenn sie die adelige Erscheinung mit einem solchen subversiven Zitat verbindet. Denn der Begriff des Käfigs kann durchaus als Metapher für den Käfig der Familie, den Käfig der Religion und der „engen Definitionsgrenzen weiblicher Geschlechtsidentität“ (Peters) aufgefasst werden. So gibt es in der semantischen Freiheit der Gedichte gleichzeitig so etwas wie einen Ausbruch aus diesen Käfigen zu mehr Phantasie und Widerstand. Denn: „Der grundlegende Akt der Autonomie ist ihre Dichtung selbst.“ (Levin Schücking).
Doppelbödigkeit
Zwischen den Lücken in der herrschenden Sprache ist bei ihr das Andere, das Undenkbare, das bislang Unausgesprochene und Unaussprechbare zu entdecken und wahrzunehmen und in eine nunmehr andere Symbolordnung zu bringen. Eine Ordnung allerdings, die mehr Freiheit in sich enthält und ein freies Spiel der Bedeutungen zulässt. „Anspielungen, Wortspiele und die Verwendung von mythischen Figuren als Paradigmen für weibliche Erfahrung sollen die dominante linguistische und damit die gesellschaftliche Ordnung unterlaufen.“ (Peters) So erfüllt Droste „in ihrer Naturmetaphorik zwar die Erwartung der weiblichen ‚Naturnähe‘, unterlaufe diese aber gleichzeitig mit einer ‚Doppelbödigkeit‘ des Schreibens, … indem sie in diesen Bildern das Bewusstsein ihrer Kraft und ihres Freiheitsanspruchs gestaltet.“ So entsteht nach Irmgard Roebling ein „subversiver Diskurs gegen den herrschenden Diskurs.“
So gilt, und das symbolisiert der Aufbau der Briefmarke: „dass sich Drostes Texte in dekonstruktivistischer Tradition ‚gegen den Strich‘ lesen lassen, d. h. dass scheinbar offensichtliche Deutungen nicht stabil sind und von subversiven Deutungen unterlaufen werden. Die Schreibstrategie, die den Text als ‚trojanisches Pferd‘ benutzt, macht es schreibenden Frauen möglich, Inhalte literarisch zu verarbeiten, die innerhalb der patriarchalischen Definition von weiblicher Autorschaft nicht akzeptabel sind.“ (Peters) So geht sie bis auf die Gründe und Abgründe menschlichen Seins, kann wenigstens in ihrer Dichtung „sein statt gelten“, denn darin schüttelt sie ab, was sie in den Augen anderer gelten müsste. In einem Brief an Levin Schücking schreibt sie:
Das Leben ist so kurz, das Glück so selten.
So großes Kleinod, einmal sein statt gelten.
Prof. em. Dr. Ottmar Fuchs war Professor für Praktische Theologie an der Universität Tübingen.
[1] Vgl. https://www.bundesfinanzministerium.de/Web/DE/Themen/Briefmarken-Sammlermuenzen/Briefmarken/Entstehung/von-der-idee-zur-marke.html, Zugriff 25.12.21.
[2] Vgl. Annette von Droste-Hülshoff, Sämtliche Gedichte. Mit einem Nachwort von Ricarda Huch, Frankfurt a. Main 1988, 78-79.
[3] Vgl. zum Folgenden die neuere Monographie zu Annette von Droste-Hülshoff: Ottmar Fuchs, Subkutane Revolte. Annette von Droste-Hülshoffs „Geistliches Jahr“. Eine theologische Entdeckung, Ostfildern 2021, 56-64. Dort finden sich auch die Nachweise der Zitate.
[4] Vgl. die für die folgenden Überlegungen grundlegende Arbeit von Anja Peters, „Die rechte Schau“. Blick, Macht und Geschlecht in Annette von Droste-Hülshoffs Verserzählungen, Paderborn 2004.
Bildquelle: https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Pressemitteilungen/Briefmarken/2021/2021-12-22-sonderpostwertzeichen-droste-huelshoff.html,