In einer Doppelbewegung umkreist Christian Lehnerts neuer Essayband «Das Haus und das Lamm» die «Apokalypse des Johannes». Christoph Gellner fasziniert, wie sich darin Narration und Reflexion mit poetischer Bildlichkeit verbinden.
«Am zwanzigsten Mai des zweiten Jahres, das ich hier oben im Gebirge verbrachte, […] sah ich am Bachufer an einer der Salweiden ein Blatt, das sich schnell hin und her drehte […] Wechselnd wurden seine Ober- und die pelzige Unterseite sichtbar. Ich sah Helle und Verdunklung, sah die grüne Offenheit des Blattes für das Licht und seine Blässe im Schatten, erkannte das Ein- und Ausatmen des Baums darin wieder, sah das Blatt als Gestalt und als ein Verströmen. Ich spürte, wie wohl alles in einer doppelten Bewegung stand: Aufgestört und ruhend, in sich werdend und ins Andere getaucht, sich behauptend und sich fremd.»
So beginnt der neue Prosaband des in der DDR aufgewachsenen, preisgekrönten Lyrikers und Theologen Christian Lehnert (*1969). Nach Essays über Paulus «Korinthische Brocken» (2013), Fliegende Blätter von Kult und Gebet (2017) und Von den Engeln und Mächten (2020) denkt der 54-Jährige mit der Johannes-Apokalypse1 darüber nach, was christliches Glauben zur «Dauerirritation»2 für ihn macht. Tanya Lieske spricht von einer Mischung aus «Autofiktion, Meditation, Nature Writing, Gesellschaftsbefragung und Bibelexegese». Die Zahl der Fragezeichen übersteigt alle Gewissheiten, in Lehnerts Prosaminiaturen finden sich immer wieder tief gedachte und sprachlich geschliffene Perlen:
«Nicht Gedankensysteme und Mythen bilden den Leib der Religion, sondern das Schrittmaß ins Unbekannte, diese schutzlos ausgesetzte innere Bewegung. Diese hat den religiösen Menschen schon erfasst, wenn er beginnt nachzudenken, und sie kann sich in ihm auch dort noch fortsetzen, wo der Zweifel alle Gewissheiten zerstört hat. Begriffe, die Rituale und Mythen sind nicht mehr als Geländer, die sich die Gläubigen bauten, weil das Terrain doch so unsicher war – dann konnten sich Nachlaufende daran festhalten. Aber waren diese Stangen jemals irgendwo im Boden verankert?»
Das Haus.
Der Erzähler hat sich in ein altes Bauernhaus im Osterzgebirge zurückgezogen, die Kinder sind groß, kommen nicht mehr heim, er wollte allein sein, fastet, schweigt und betet. Sein Nachdenken bildet die autofiktionale Ebene des Buchs: «Wollte ich als Einzelner in Ruhe entkommen – so wie es einst Thoreau träumte? Aus der Ferne von diesen Bergen fröhlich hinunterwinken zu einer entwurzelten Gesellschaft, wo im Konsumzwang, wie mir schlagwortartig einfiel, in digitalisierter Beschleunigung und entmenschlichter Effizienz Leben verwaltet würde? Meinte ich es so? Wollte ich abtauchen?»
Inhaltlich tangieren die «Das Haus» und «Das Lamm» überschriebenen je 14 Kapitel immer wieder: «Die Wirklichkeit ist eine Menschenableitung, ein Anthropomorphismus. Wir richten uns in ihr ein, in ihren Metaphern, ausführlich beschriebenen Gesetzen und Fakten, und es ist, als würden wir ein Haus mauern. Dieses ist fest, geräumig und genügend rätselhaft, um uns nicht tagtäglich zu enttäuschen. Wir beherbergen uns darin. Aber wir schließen uns auch ein, und das kann eine tödliche Gefahr bedeuten. Das Poröse der Erscheinungen, ihre Risse ins Unerklärliche, ihre Wirrnis und Freude, ihre Abbruchkanten, sie machen Angst, aber sie sind ‘das Rettende auch’ vor der Enge unserer Konstruktionen.»
Wir erfahren von seinen Gängen in die Natur, die er als beseelt erlebt. Gestützt auf Paracelsus, Kräuterkunde, Zoologie und Forschungen zur Pflanzenintelligenz sieht er Dinge, für die andere kein Auge haben. Darin gründen seine spirituellen Gedichte3, die jüngsten Lyrikbände «Cherubinischer Staub» (2018) und «opus 8. Im Flechtwerk» (2022) sind voller Gedichte über die Natur, gesehen mit den Augen eines Mystikers und formalen Anleihen bei den Zweizeilern von Angelus Silesius.
Das Lamm.
Seinem zugigen Haus ähnelt «der eigenwillige und immer etwas windschiefe mythologische Bau der Johannesapokalypse», schlägt Lehnert die Brücke zur Bibelexegese. «Die Sprunghaftigkeit der Visionen, dauernde Blickwechsel, Bildabbrüche, die Lawinen von Zitaten und Andeutungen, dazu unvermittelte, halluzinatorisch fesselnde Verwandlungsgeschichten zeigen vor allem dies: Besitzlosigkeit, ‘Armut im Geist’. Das ist Christentum in seiner prophetischen Dimension: Einsturz des Bewusstseins. Die Wörter sind plötzlich frei und schweben, emanzipiert vom Wirklichen wie von der Fiktion, von Absichten wie von Beschreibungsgenauigkeit oder begrifflichen Ordnungen.» Das «Lamm» führt Lehnert ein mit der Joh 19,13f. erzählten Verurteilung des gegeisselten Jesus durch Pilatus – das wird im NT als Krise der Welt, als Scheidung, Klärung verstanden, die in Apk 5,1-14 in der himmlischen Bestätigung der göttlichen Weltherrschaft des geschlachteten Lammes kulminiert.
Von der Apokalypse präsentiert Lehnert Schlüsseltexte in eigener Übersetzung, augenöffnend bereits seine Übertragung des Titels apokalypsis – «nie zuvor in der Antike wurde ein Text so benannt». Als «die Bloßlegung des Ganzen der Geschichte, in der Gott sich offenbart» ist die Apk für Lehnert keine Zukunftsschau, keine Endzeitgeschichte, der Seher Johannes erlebt vielmehr eine zeitlose Gegenwart, den ewigen Augenblick des einen Gottes, den schon Jacob Böhme als «Ungrund» bezeichnete. Neben Sacherläuterungen – in den vielen liturgischen Beschreibungen werde eine kleine Urchristengruppe hörbar, in einer Stadt wie Pergamon oder Smyrna oder Sardes damals eher 20 als 200 Personen, «die meisten keine wohlanständigen Bürger» – macht der Dichtertheologe4 in kongenialer Exegese, die Augustinus, Joachim von Fiori und vor allem Jacob Böhme fruchtbar einbezieht, insbesondere die literarische Eigenart der Apk transparent, Nichtdarstellbares darzustellen. Gehe es Johannes doch um den zeitlosen Horizont hinter aller Geschichte, den er als Implosion einer überbordenden Fülle irritierender und rätselhafter Bilder erfuhr, die einen Widerstreit der Assoziationen auslösen.
Damit rückt Lehnert die Apokalypse in die Nähe eines mystischen nunc stans, eines bewegten Bildes der Ewigkeit. Die Bilder der «Offenbarung des Johannes» gehören zur Poesie, sind Ausdruck der «Schöpfungskraft des imaginierenden Menschen», «suchende Ausläufer der Sprache ins Namenlose, sie erkunden, was da war», diese Bilderwelten «wollen verstanden werden – ohne sich allerdings absichern zu können in einer ‘eigentlichen Rede’. Anders als in den meisten heutigen Predigten, die sich leider am genauesten entlang von intendierten Wirkungen analysieren lassen, kann Johannes nicht genau sagen, was er will […] seine Aussageabsicht formt sich erst – im Bild und mit dem Bild».
Christlicher Glaube als Dauerirritation.
«Nichts ist mehr eindeutig, wenn Gott Mensch geworden ist. Das Christentum entlässt ‘Gott’ nicht in eine abstrakte Transzendenz, sondern findet ihn vor den Füßen, im täglichen Glück wie in Schutt und Trümmern und Glaubensverlust. Die Bilder vom Tausendjährigen Reich [des Messias Apk 20, 1-6] wachsen in einem ähnlich problematischen Niemandsland wie die Berichte von den Erscheinungen des Auferstandenen. In ihrer Unentschiedenheit haben sie etwas Traum- und Märchenhaftes, können kaum bestehen vor der analytischen Vernunft. Aber müssen sie das? Es sind Zwitterphänomene, Dämmerungsbilder zwischen Licht und Dunkel, Übergänge, Blenden […] Das Tausendjährige Reich ist ein Transzendenzsymbol auf halber Strecke. Es ist weltlich und überweltlich – eine Unmöglichkeit. Es steht für die Ambivalenz alles Wirklichen, das unsere ganze Liebe und Hoffnung verlangt und zugleich immer über sich hinausweist auf etwas Fehlendes. Es wird missbraucht, wenn man es als ‘Utopie’ ins Diesseits der politischen Ideen holt – und es wird verloren, wenn man es vergeistigt.»
Die Blindgängigkeit unseres sprachlichen Handhabens Gottes unterbrechende Denkanstöße gibt es viele in diesen im besten Sinne radikalen Aufzeichnungen: «Bohrend hallte der alle Religionspraxis unterwandernde Satz von Meister Eckhart in mir nach: ‘Der wahrhaft Betende weiß nicht, dass er betet.’»
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Christoph Gellner, Dr. theol., ist Experte für Religion und Literatur. sowie Mitglied der Gesellschaft für die Erforschung der Deutschschweizer Literatur G.E.D.L.
Bild: Buchcover
- Christian Lehnert: Das Haus und das Lamm. Fliegende Blätter zur Apokalypse des Johannes, Suhrkamp: Berlin 2023, 268 S. ↩
- Christian Lehnert: Korinthische Brocken. Ein Essay über Paulus, Suhrkamp: Berlin 2013, 173. ↩
- Zu Christian Lehnerts mystischem Gottumkreisen vgl. Christoph Gellner: Die Bibel ins Heute schreiben. Erkundungen in der Gegenwartsliteratur, Verlag Katholisches Bibelwerk: Stuttgart 2019, 204–2018. ↩
- Vgl. die Wiener Poetikvorlesungen von Christian Lehnert: Die weggeworfene Leiter. Gedanken über Religion und Poesie, Herder: Freiburg i. Br. 2023. ↩