Suizid ist eine traurige, oft wenig sichtbare und doch häufige Todesursache weltweit. Umso wichtiger sind Massnahmen zur Prävention, auf die der Welt-Suizidpräventionstag am 10. September aufmerksam machen will. Die Psychiatrie-Ärztin Iris Breuer über Hintergründe, Zusammenhänge und Präventionsstrategien.
Die Thematik der Suizidprävention betrifft – wie der Suizid selbst – eine Vielzahl von Bereichen des individuellen und gesellschaftlichen Lebens und kann somit aus zahlreichen Perspektiven betrachtet werden. Psychologische, soziale, ökonomische, kulturelle und andere Faktoren interagieren zumeist, wenn ein Mensch sich zum Suizid entschliesst.
In der Medizin sind vor allem biologische, psychologische, soziologische wie auch krankheitsbezogene Modelle als Ursachen für die Suizidneigung anerkannt. Neuste Publikationen gehen davon aus, dass 90% aller Suizide auf dem Boden einer psychischen Erkrankung, v.a. depressiven Syndromen, entstehen.[1]
90% aller Suizide entstehen auf dem Boden einer psychischen Erkrankung.
Präventionsstrategien müssen folglich multidimensional ausgerichtet sein. Ein pragmatischer Zugang mit Definition von Entwicklungsmodellen, Risikofaktoren, Diagnosekriterien und Therapiemodellen prägt den psychiatrisch-psychotherapeutischen Ansatz zur Suizidprävention. Hieraus entwickeln sich die öffentlichen Aufklärungskampagnen, psychologische Risikoskalen und die Aktivitäten zahlreicher Helferstrukturen.
Die Frage nach dem Sinn des Lebens
Die mit Suizidalität verwobene Frage nach dem Sinn des Lebens wird zumeist – wenn überhaupt – erst im Rahmen einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung, z.B. nach einem vermeidbaren oder überlebten Suizidversuch angegangen. Und dies geschieht oft nur dann, wenn die betroffene Person selbst ihr therapeutisches Umfeld zu der Fragestellung führt.
Innerhalb der Suizidprävention bleibt folglich die Definition von Lebenssinn – und damit Beiträge zum Erkennen und Bewahren desselben – weitgehend eine philosophische, theologische oder psychotherapeutische Frage.
Glück und Lebenssinn
In der Philosophie der Antike lag der Sinn des Lebens im Erreichen von Glückseligkeit als höchstem Gut; die Definition von Glück blieb hierbei eine Herausforderung. Platon sah Glück als das Gleichgewicht zwischen Vernunft, Mut und den Trieben an. Platons Denkweise ist geprägt von der Verantwortlichkeit des Menschen einem Gott gegenüber. So stehen Leben und Tod nicht in der Verfügung des Menschen, sondern eines Gottes. Der Mensch begeht somit Unrecht, wenn er sich das Leben nimmt. Für seinen Schüler Aristoteles war Glück kein statischer Zustand, sondern das Resultat ständiger Aktivität der Seele. Den Suizid sah er als einen Akt gegen die Gemeinschaft.
Im Christentum des Mittelalters galt das Befolgen der sakralen Gebote als Sinn des Lebens und der Suizid als eindeutiger Verstoss gegen die Gebote. Die Aufklärung hinterfragte Frömmigkeit und autoritätsgläubige Geisteshaltung und forderte den Menschen auf, den eigenen Verstand zu gebrauchen und Eigenverantwortung zu übernehmen, um Zufriedenheit zu erreichen.
„Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord.“ (Albert Camus)
Im Existentialismus wird die Verantwortung für das eigene Leben auf das Leben des Umfelds erweitert: Gemäss Jean-Paul Sartre ist „somit (…) der erste Schritt des Existentialismus, jeden Menschen in den Besitz dessen, was er ist, zu bringen, und auf ihm die gänzliche Verantwortung für seine Existenz ruhen zu lassen.“[2] Im Suizid sahen die Existentialisten jedoch eine fundamentale Problematik, so Albert Camus: „Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Die Entscheidung, ob das Leben sich lohne oder nicht, beantwortet die Grundfrage der Philosophie. Alles andere – ob die Welt drei Dimensionen und der Geist neun oder zwölf Kategorien habe – kommt erst später. Das sind Spielereien: zunächst heisst es Antwort geben.“[3]
Aktuell ist die Suizidprävention eine erklärte Hauptaufgabe nationaler und internationaler Gesundheitssysteme. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf dem Erkennen von Risikofaktoren und entsprechenden, pragmatischen Präventionsstrategien.
Suizid als Herausforderung
Im Jahr 2008 anerkannten die 172 Mitgliedstaaten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die globale Herausforderung des Suizids als ein Hauptproblem der öffentlichen Gesundheit und definierten erstmals evidenzbasierte, technische Leitlinien. Im „WHO Mental Health Action Plan 2013–2020“ verpflichteten sich die WHO-Mitgliedstaaten zu einem proaktiven Engagement in der Suizidprävention. Sie erklärten sich bereit, ihren nationalen Beitrag zur angestrebten Reduktion globaler Suizidraten um 10% bis zum Jahr 2020 zu leisten.[4]
Alle 40 Sekunden suizidiert sich ein Mensch auf dieser Welt.
Gemäss dem im Jahre 2014 erstmals veröffentlichten Suizidpräventionsbericht der WHO sterben weltweit ca. 800.000 Menschen jährlich durch Suizid; insgesamt ist von ca. einer Million Suizide pro Jahr auszugehen; alle 40 Sekunden suizidiert sich ein Mensch. Betroffen sind alle geographischen Regionen, Einkommensschichten und Altersstufen. Bei jungen Menschen zwischen 15 und 29 steht der Suizid unter den Haupttodesursachen weltweit an zweiter Stelle – nach Verkehrsunfällen. In der Altersklasse von 70 Jahren und darüber sind die Suizidraten in fast allen Regionen der Welt am höchsten. Unterschiede existieren in Bezug auf die Geschlechterverteilung in einkommensstarken Ländern gegenüber Nationen mit niedrigem oder mittleren Einkommen. Während in Ländern mit hohem Einkommen mehr als dreimal so viele Männer durch Suizid sterben als Frauen (das Verhältnis der Suizidraten von Männern gegenüber Frauen liegt bei 3,5 zu 1), ist dieses Verhältnis in einkommensschwachen Regionen mit 1,6 zu 1 deutlich niedriger. Weltweit repräsentieren Suizide 56% aller gewaltsamen Todesfälle (in 50% bei Männern und 71% bei Frauen).[5]
hohe Dunkelziffer
Diese Zahlen beziehen sich allerdings nur auf die als Suizid registrierten Todesfälle. Es ist davon auszugehen, dass es eine hohe Dunkelziffer gibt. Die WHO geht aufgrund ihrer Zahlen davon aus, dass auf jede durch Suizid verstorbene erwachsene Person mindestens 20 Suizidversuche kommen.
Gemäss dem Bundesamt für Statistik verstarben 2014 in der Schweiz 1028 Menschen (754 Männer und 274 Frauen) durch nicht-assistierten Suizid. Dies entspricht im Durchschnitt ca. drei Suiziden pro Tag und damit vier Mal so vielen Todesfällen als im Strassenverkehr.[6] Während die Zahlen bis 2010 rückläufig waren, liegen sie seither wieder konstant bei 13 pro 100.000 Einwohnern.
Suizid ist eine Handlung mit tödlichem Ausgang
Die WHO definiert Suizid als eine Handlung mit tödlichem Ausgang, die als vermeidbar angesehen wird. Gemäss internationaler statistischer Klassifikation von Krankheiten (ICD-10) ist der Suizid eine Diagnose. Damit sind Suizidalität und Suizidprävention therapeutische Aufträge, d.h. zumeist Auftrag der Hausärzte, Hausärztinnen und Angehörigen, wenn es um das Erkennen von Risikofaktoren geht, sowie von Psychiaterinnen und Psychologen, wenn es um die Behandlung von Suizidalität geht.
Suizid kann nicht als Ausdruck freier Entscheidungsfähigkeit gelten, sondern … eher als Folge eines Mangels an Freiheit.
Die Kategorisierung nicht-assistierten Suizids als absichtliche Handlung und damit Konsequenz einer freien Entscheidung wird in Expertenkreisen kritisch diskutiert. Beweggründe und damit verbundene Belastungs- und Risikofaktoren sind in der Diskussion zu berücksichtigen. Aus Sicht einer Vielzahl von ExpertInnen, wird Suizid von Betroffenen als einziger Ausweg gesehen und in einer psychischen Ausnahmesituation verübt. Er kann folglich nicht als Ausdruck freier Entscheidungsfähigkeit gelten, sondern als Hoffnungslosigkeit und somit eher als Folge eines Mangels an Freiheit.
Personen, die einen Suizid überlebt haben, sind oft dankbar hierfür. Allerdings bleibt ein vorangegangener Suizidversuch der höchste Risikofaktor für einen Suizid.[7]
Suizidprävention heisst Risikofaktoren erkennen und bekämpfen
Suizidpräventionsstrategien wollen dem komplexen Zusammenspiel von gesellschaftlichen, sozialen und individuellen Faktoren begegnen, welches die Vulnerabilität bzw. Entscheidung zum Suizid eines Menschen mitbestimmt. Die WHO definiert gesellschaftliche Haupt-Risikofaktoren und damit kommunale Präventionsstrategien wie folgt:
- Der Zugang zu tödlichen Mitteln und Methoden (Pestizide, Schusswaffen, Brücken, Hochhäuser …) soll beschränkt werden.
- Unangemessene Medienberichterstattung soll Suizid-Idealisierung vermeiden und durch eine verantwortliche Berichterstattung ersetzt werden.
- Stigmatisierung soll abgebaut werden durch Aufklärung und Bewusstseinsbildung in der Bevölkerung bezüglich psychischer Gesundheit.
- Suizid als Folge von Migration, Diskriminierung, Krieg und Katastrophen soll durch Gatekeeper-Schulung (z.B. Lehrpersonen, Ärztinnen, Polizei, Sozialarbeiter), Krisentelefone und Interventionen für Risikogruppen frühzeitig erkannt und einer Intervention zugeführt werden
- Individuelle Risikofaktoren wie psychische Erkrankungen, Beziehungskonflikte, soziale Isolation, Arbeitsplatzverlust und finanzielle Krisen, Hoffnungslosigkeit, chronische Schmerzen oder schwere Erkrankungen sollen ebenfalls durch entsprechende Gatekeeper registriert und die Betroffenen rasch einer adäquaten Unterstützung zugeführt werden.
Diese von der WHO aus globaler Sicht definierten Prioritäten erfordern eine optimale Koordination von multi-disziplinären Akteuren und Prozessen auf nationaler und kommunaler Ebene; letztendlich müssen sie beim gefährdeten Individuum effektiv zusammengeführt werden In Nürnberg führte ein sogenanntes Mehr-Ebenenprogramm mit Zielsetzung auf depressive Erkrankungen zu einer deutlichen Senkung von Suizidzahlen und Suizidversuchen.[8] Das Programm setzte sich zusammen aus einer öffentlichen PR-Kampagne, Schulung von Lehrpersonen, JournalistInnen, PolizistInnen, HausärztInnen sowie Unterstützung von PatientInnen mit erhöhter Vulnerabilität und deren Familien. Dieses erfolgreiche Programm wurde von 17 europäischen Ländern übernommen.[9]
Suizidprävention heisst auch Schutzfaktoren stärken
Neben der Erkennung von Risikofaktoren und Entwicklung dementsprechender Interventionen ist es ebenso wichtig und langfristig relevanter, jene Faktoren zu kennen, erkennen und fördern, die Menschen vor Suizidrisiken schützen. Dies sind Faktoren, welche die Resilienz gegenüber Belastungen stärken und damit Eigenverantwortung ermöglichen.
Bekannte Schutzfaktoren – wie sie auch die WHO bestätigt – sind:
- Starke persönliche Beziehungen
- Religiöse und spirituelle Überzeugungen
- Lebensführung mit positiven Bewältigungsstrategien und Wohlbefinden.
Die Entwicklung von Schutzfaktoren beginnt bereits im frühen Lebensalter und führt im Verlauf der persönlichen Entwicklung zu Resistenz gegenüber ungünstigen Verhaltensweisen und Resilienz in emotionalen, sozialen, ökonomischen, politischen und anderen Belastungssituationen. Im Rahmen dieser frühen Entwicklungsphase sind v.a. das familiäre, kulturelle und soziale Umfeld und die hier geltenden Wert- und Glaubenssysteme von Relevanz.
soziales Umfeld mit starken persönlichen Beziehungen
Das soziale bzw. emotionale Umfeld mit starken persönlichen Beziehungen spielt auch eine wesentliche Rolle im hohen Lebensalter, in welchem die Suizidraten weltweit ansteigen. Lebenssinn durch anhaltende Integration mit Beibehaltung der persönlichen Rolle und Aktivität, z.B. in der Familie oder im Freundeskreis, gibt Menschen im hohen Alter Sinn und eine hohe Lebenserwartung. Studien hierzu sind zahlreich.
Suizidprävention ist eine kontinuierliche Aufgabe des/der Einzelnen gegenüber sich selbst, seinem familiären und sozialen Umfeld und damit gegenüber der Gesellschaft. Den Sinn des Lebens zu erkennen und zu bewahren, bevor er verloren gehen kann, ist Erkenntnis und Lebensaufgabe zugleich. Beide können zu einer Herausforderung werden, die durch Früherkennung und entsprechende Massnahmen bewältigt werden kann.
Den Sinn des Lebens im Leben zu sehen, d.h. der Sinn, den der oder die Einzelne dem Leben geben kann, lässt dem Suizid kaum einen Raum.
„Es kommt nie und nimmer darauf an, was wir vom Leben zu erwarten haben, vielmehr darauf, was das Leben von uns erwartet.“ (Victor Frankl)
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Iris Breuer, Dr. med., ist Oberärztin der Luzerner Psychiatrie und Stellenleiterin «Gemeindeintegrierte Akutbehandlung (GiA)» Luzern Landschaft
Bild: thought-catalog / unsplash.com
[1] Irene Neuner/Frank Schneider, Suizidalität. In: Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. Berlin/Heidelberg 2017, 619.
[2] Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts (1943). Hamburg 1993, 325.
[3] Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde (1942). 15. Auflage, Hamburg 2013, 15.
[4] Preventing Suicide: A Global Imperative. World Health Organization (Hrsg.), Geneva 2014, 8.
[5] Preventing Suicide: A Global Imperative. World Health Organization (Hrsg.), Geneva 2014, 24.
[6] Schweizerisches Gesundheitsobservatorium (Hrsg.), Psychische Gesundheit in der Schweiz. Monitoring 2016. Online: https://www.obsan.admin.ch/sites/default/files/publications/2016/obsan_72_bericht_2.pdf.
[7] Stefan Leucht/Hans Fröstl, Psychiatrie und Psychotherapie. Stuttgart 2012.
[8] Ulrich Hegerl et al., Alliances against depression – a community based approach to target depression and to prevent suicidal behaviour. In: Neuroscience & Biobehavioral Reviews 37 (2013/10) 2404-2409.
[9] Ulrich Hegerl et al., The European Alliance against depression (EAAD): an evidence based cost-effective approach to improve depressed patient care and prevent suicidality. In: European Psychiatry 24 (2009) 164.