Helga Kohler-Spiegel berichtet Erfahrungen aus ihrer langjährigen Praxis.
Ein junger Mitarbeiter im kirchlichen Dienst in der Pfarreiseelsorge, theologisch gut ausgebildet, menschlich kongruent und engagiert in seinem Tun, ist eingebunden in ein Team von Kolleginnen und Kollegen, die nicht nur deutlich älter sind als er, sondern vor allem geprägt sind von einem hierarchischen Verständnis von Kirche mit geweihten Personen in den Leitungsfunktionen. In der Zusammenarbeit kommt es immer wieder zu Unverständnis und offenen Konflikten, die ihre Wurzel im unterschiedlichen Verständnis von Kirchen und Funktionen und Aufgaben und Vorgehensweisen haben. Nach einer Phase der Auseinandersetzung merkt der jüngere Kollege, dass er sich zurückzieht, bis hin zum Eingeständnis, dass keine Veränderung möglich scheint, und der damit verbundenen Resignation.
Zwei Beispiele
Eine in Pastoral, Jugendarbeit und Religionsunterricht sehr engagierte Kollegin, an den Menschen interessiert und in der alltäglichen Arbeit gut mit ihnen verbunden, erlebt auf der einen Seite, dass sie erfreuliche und bestärkende Rückmeldungen erhält, dass ihre Angebote auf relativ gute Resonanz stoßen. Und zugleich erlebt sie, dass die Anzahl an Jugendlichen, die in der Pfarrgemeinde beteiligt und engagiert sind, zurückgeht, dass sie sich immer mehr anstrengt und noch mehr Engagement zeigt, bis sie merkt, dass sie sich ermüdet fühlt, leer, und oft allein.
An solchen und zahlreichen weiteren Beispielen lässt sich zeigen, warum und wie Supervision oder Coaching besonders im kirchlichen Arbeitsfeld sinnvoll und hilfreich sein kann.
1 Zum Begriff und Verständnis von Supervision und Coaching
Supervision ist eine professionelle Beratungsmethode für alle Herausforderungen im beruflichen Kontext. Ziel der Supervision ist die Verbesserung der Arbeitssituation, der Arbeitsatmosphäre, der Arbeitsorganisation und der aufgabenspezifischen Kompetenzen. In einem lösungsorientierten Ansatz ist der Supervisionsprozess darauf angelegt, vorhandene Problemstellungen konstruktiv zu bewältigen, Konfliktlösungsszenarien zu entwickeln, die Qualität der Zusammenarbeit zu verbessern und Veränderungsprozesse aktiv zu steuern. Supervision hilft bei der Selbsteinschätzung der eigenen Person und Rolle, beim Verstehen der Dynamik in Gruppen und in der Organisation, im System. Sie ermöglicht einen neuen Blick und eine neue Perspektive, um das berufliche Handeln zielgerichteter und zufriedenstellender zu gestalten.
Die Realität anders sehen lernen
Häufig wird der Begriff „Coaching“ synonym zum Begriff „Supervision“ verwendet. Teilweise wird Coaching als „Führungssupervision“ verstanden, die sich primär an Einzelpersonen mit Führungsaufgaben oder Projektverantwortung wendet.1 Supervision und Coaching bieten also die Chance, berufsbezogen die „Realität“ anders „sehen“ zu lernen und mit der „Realität“ anders „umgehen“ zu lernen. Supervision und Coaching beinhalten die Chance, mit Hilfe einer außen stehenden professionellen Person allein oder mit anderen zusammen sich selbst, das eigene Handeln, die Beziehungen, die Position in Institution und System, die Gefühle, die Hoffnungen und Ängste wie im Spiegel anzusehen und neue Möglichkeiten im Umgang damit zu entwickeln.
2 Ein differenzierter Blick auf den beruflichen Alltag und sich selbst
Supervision lebt von einem differenzierten und differenzierenden Blick
- auf die einzelne Person (individuelle Ebene),
- auf die Dynamik zwischen Menschen, also das Team (interaktionale Ebene)
- und auf das System (systemische Ebene).
Sowohl beim Verstehen von Schwierigkeiten als auch bei der Suche nach Handlungsalternativen und Lösungen ermöglicht diese Differenzierung, dass z.B. systembedingte Grenzen nicht einer einzelnen Person zum Vorwurf gemacht werden, dass notwendige Entwicklungen auf Teamebene nicht zum Problem einer Einzelperson gemacht werden, dass der Spielraum sowie die Grenzen für die Führungsperson deutlicher werden. Im kirchlichen Bereich kommt zu diesen drei Ebenen eine ethisch-normative Ebene hinzu, was als richtig und was als falsch angesehen wird, wird von der Gruppe, in diesem Fall von der Kirche, getragen und festgesetzt.
3 Wie wird in der Supervision und im Coaching gearbeitet?
Supervision und Coaching brauchen Spielregeln, vor allem Schweigepflicht bzw. „differenzierte Verschwiegenheit“, damit niemand etwas aus der Supervision hinausträgt, dies ist vor allem bei Teams und Gruppen wichtig. Supervision und Coaching brauchen Vertrauen und Verbindlichkeit. Die Standards für Supervisor/innen und Coaches sind in den Berufsverbänden festgelegt und geregelt.
Arbeit an dem, was sich gerade zeigt.
Im Mittelpunkt steht die Arbeit an dem, was sich gerade zeigt. Dies kann als Herausforderung, als Bestätigung, als Problem erlebt werden – unabhängig von der hierarchischen Ebene, auf der sich die einzelne Person in der Institution befindet. Auch für Supervisions- und Coachingprozesse gibt es Schritte, idealtypische Abläufe zur Orientierung, z.B.:
- Initialphase: Ankommen, wahrnehmen, was mich beschäftigt, was zurzeit mein Thema oder meine Themen sind, erste Assoziationen, erstes Vorstrukturieren;
- Bearbeitungsphase: Eine dem Thema adäquate Rekonstruktionsform finden, wie das Thema in seiner Komplexität kognitiv und emotional sichtbar werden kann, sowie Handlungsalternativen experimentieren und erproben;
- Integrationsphase: Aus den verschiedenen Alternativen die eigenen Möglichkeiten ausloten und nächste Schritte konkretisieren.
- Vor allem bei Veränderungsprozessen ist auch die Neuorientierungsphase wichtig: Bilder für eine gute (kurz- oder mittelfristige) Zukunft entwickeln.
Vielfältige methodische Ansätze
Die methodischen Ansätze sind vielfältig, sie sollen helfen, das jeweilige Thema mit seinen Verknüpfungen sichtbar und erlebbar zu machen. Gespräch steht im Vordergrund, auch Strukturierungen durch Graphiken und Visualisierungstechniken, Aufbau von Szenen mithilfe kleiner Figuren oder anderen Symbolisierungen sowie Aufstellungen.
4 Ein Blick auf die Person
Neben der Arbeit an den konkreten Themen erlauben Supervision und Coaching immer auch einen Blick auf die Person selbst. In der Verlangsamung von Prozessen, die im Alltag oft sehr schnell ablaufen, bleibt Zeit zu empfinden, zu fühlen und zu verstehen, was in diesen Prozessen abgelaufen ist. Es gibt Zeit zu spüren, was kränkt und was Freude macht, wo die Hoffnung begraben liegt und die Freude und die Angst. Die Supervisorin, der Coach bleibt dabei, als Garant, dass nicht zu schnell Ablenkung, Beschleunigung oder Flucht geschieht, wo Gefühle stärker werden, wo Unsicherheit und Bedrohliches lauern.
Ein emotionaler Speicher
Die Supervisorin, der Coach wirkt als „emotionaler Speicher“, das heißt, dass nicht jede Stimmung, jede Wahrnehmung sofort ausgefaltet und thematisiert werden kann oder gar muss, sondern dass sichtbar wird, was reif ist, sichtbar zu werden, und dass noch nicht formulierbare Stimmungen vom Coach, von der Supervisorin aufgenommen und gespeichert werden. Dieser Aspekt wird in den verschiedenen Konzepten von Coaching unterschiedlich beachtet, ist m.E. aber von zentraler Bedeutung: Es begleitet mich jemand, der Stimmungen erfassen kann, vor Empfindungen nicht erschrickt, Ängste und Unsicherheiten nicht bewertet, Verstrickungen und Handlungsmuster erkennt.
Eine Ordensfrau, sehr engagiert und bei den Menschen akzeptiert, empfindet stark, dass ihr die Luft ausgeht, dass sie wie in einem tiefen Loch ist… Sie passt sich an, formuliert genau, bemüht sich sehr – und beim Zuhören im Coaching merke ich meine Anspannung, in mir tauchen aggressive, auch zynische Gedanken auf. Innerlich meine Empfindungen prüfend stelle ich sie der Ordensfrau zur Verfügung: „Wenn ich das so höre, spüre ich auch Ärger, so etwas wie Zorn, ‚heiliger Zorn‘ fällt mir ein.“ Und bevor ich weiterrede, bricht es aus ihr heraus, die Augen blitzen, und sie erzählt von ihrer Enttäuschung und ihrem Zorn – sie wird vital und lebendig. Sie beginnt, in den Arbeitsbeziehungen Kränkendes, Ärger und Freude deutlicher anzusprechen, unterschwellig Spürbares wird benennbar, sie wird klarer, für ihre Kolleginnen und Kollegen fassbarer, sie wird freier und fröhlicher.
Ein solcher Zugang in der Supervision, im Coaching unterstützt die Fähigkeit zur Introspektion, die Einsicht ins Innere der eigenen Person ermöglicht eine neue Sicht- und Erfahrungsweise, ermöglicht neue Klarheit und Erleichterung.
Neue Klarheit und Erleichterung
Mich selbst wahrnehmen, meine Empfindungen spüren, erlaubt, diese auch zu benennen. Indem Inneres ausgesprochen wird, wird es sichtbar und bearbeitbar, es kann bedacht, verändert und manchmal losgelassen werden. Auch körperliche Symptome brauchen oft die Bereitschaft, dass ihre Sprache gehört wird, dass neben dem körperlichen Befund auch die symbolische Sprache hörbar wird. In der Burnout-Prophylaxe ist dies ein wichtiger Zugang.
5 Ein Impuls zum Schluss
Diese Übung wird „Übung der Dankbarkeit“ genannt, und sie kostet keine zusätzliche Zeit. Diese Übung ist eine Einladung, morgens beim Zähneputzen sich drei Dinge zu überlegen, auf die ich mich heute freue. Und abends beim Zähneputzen denke ich an drei Dinge, für die ich heute dankbar bin.
Übung der Dankbarkeit
Diese „Dinge“ können unauffällig sein, ein sonniger Tag, Trinkwasser aus dem Wasserhahn, die Begegnung mit einem lieben Menschen bei einer Sitzung, eine Szene, die mich heute erwarten wird oder die ich heute erlebt habe, ein Mensch, den ich angeschaut habe, oder der mich angelächelt hat, oder vieles andere. Ich wünsche Ihnen einen zufriedenen, dankbaren Tag.
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Helga Kohler-Spiegel ist Professorin an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg im Fachbereich Human- und Bildungswissenschaften; Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin, (Lehr-)Supervisorin; Mitglied der Redaktion von feinschwarz.net.
Photo: Nik MacMillan on Unsplash
- Vgl. zu beiden Begriffen Supervision und Coaching exemplarisch die Homepages der Berufsverbände: www.dgsv.de/ Deutsche Gesellschaft für Supervision und Coaching e.V. (DGSv), www.oevs.or.at Österreichische Vereinigung für Supervision (ÖVS), www.bso.ch Berufsverband für Supervision, Organisationsberatung und Coaching (BSO) in der Schweiz. ↩