Die Frage nach dem Christentum als symbolischer Ordnung, die nicht einfach eine kulturelle Identität, sondern eine gesellschaftskritische Vitalität entwickelt, wird zur Existenzfrage für die katholische Theologie, wenn sie auch in Zukunft noch von Relevanz sein will. Von Isabella Guanzini.
Das Christentum hat Möglichkeiten des Geistes freigesetzt, die auch in einer Zeit, in welcher es zunehmend zu einer Randerscheinung in den pluralen Gesellschaften der Gegenwart geworden ist, nicht zu verdrängen sind bzw. reaktiviert werden müssen. In diesem Horizont kann das Christentum als Ressource betrachtet werden, als etwas, das niemandes Eigentum ist und das niemandem gehört, sondern das allen zur Verfügung steht. Das Christentum ist daher als etwas zu denken und zu praktizieren, das offen für alle ist, gerade weil es entdeckt und geteilt werden kann, weil es eine andere Praxis motiviert und Leben im Überfluss hervorzubringen vermag.
Das Christentum als Ressource
Eine Ressource kann nicht einfach vollständig beschrieben oder definiert werden, da sie ein Potential beinhaltet, das nur in dem Maße existiert, in dem man es aktiviert und verwirklicht. Sie wird deshalb daran gemessen, inwiefern jemand sich bemüht, sie von Mal zu Mal neu in Anspruch zu nehmen, sie immer wieder zu erkunden und sie aufs Spiel zu setzen. Wenn dies nicht geschieht, wird sie zu einer leblosen und trägen Substanz, jeder Potenz beraubt, denn die Kraft einer Ressource ist nicht unantastbar, unverlierbar und unveränderlich.
Aus dieser Perspektive kann man es als eine wesentliche Aufgabe der Theologie betrachten, das Potential der Ressource, die das Christentum ist, nicht verarmen zu lassen, sondern seine prophetische und symbolische Kraft für den jeweiligen Zeitgeist lebendig und neu lesbar zu machen. Eine der Möglichkeiten, durch die das Christentum zu einer wahren Ressource werden kann, ist, dass es in einen Prozess der Übersetzung und der Versetzung eintritt. Dank eines produktiven Akts der Übersetzung kann ein neues Paradigma entstehen, welches die Weiter- und Übergabe religiöser Begriffe und Narrative im Kontext der neuen gegenwärtigen Zusammenhänge erlaubt. Das bedeutet, dass eine gewisse Distanzierung oder Abwendung von der eigenen Überlieferung notwendig ist, um das humanistische und symbolische Potential ihrer Visionen und Ideen auch jenseits der Grenze der ungebrochenen Traditionslinie auf die Probe zu stellen.
Die Ressource der Übersetzung
Insofern erscheint eine Entfernung/Entfremdung von der Tradition entscheidend zu sein, um die Kraft und die Universalität der Motive, welche sie tradiert, für den anderen freizusetzen. Nur wenn christliche Motive einer gewissen Zerstreuung und Dissemination ausgesetzt werden, vermögen sie heute gemeinsame Sinngebungen und ein geschichtliches Wort für den Glauben, die Hoffnung und die Liebe zu schenken. In diesem Prozess der Über- und Versetzung konstituieren sich neue Konstellationen und können neue „geheime Verabredungen“ zwischen Vergangenheit und Gegenwart stattfinden.
Die Religion muss sich dabei nicht einfach in die Säkularität hinein übersetzen, sondern dem öffentlichen Raum das anbieten, was ihr wirklich eigen ist, nämlich ihre symbolische Kraft, insofern gerade diese die Potenz darstellt, welche der öffentlichen Sphäre heute fehlt. Der öffentliche Raum ist gegenwärtig von einer tiefgreifenden symbolischen Misere geprägt.[1] Es geht daher um das Einbringen der symbolischen Ressourcen bzw. um die biblischen und theologischen Narrative, die gerade dann eingebracht werden können, wenn die Religion ihre ideologischen und identitären Ansprüche überwindet.
Zudem eröffnet die Übersetzung der Tradition die Möglichkeit, die Erfahrung der Andersheit zu machen, die im Zentrum eines jeden Übersetzungsprozesses steht. Es handelt sich um eine „asketische Enteignung“, die dem Verzicht auf eine starre Selbsterhaltung sowie auf eine Überheblichkeit des Ichs entspricht und eine Selbstversetzung ermöglicht, die als eine ethische Gastlichkeit ohne Eigentum verstanden werden kann, nach der das menschliche Leben zutiefst verlangt. Durch die gastliche Übersetzung ereignet sich das Eintreten eines Dritten im Sinne eines „Weder-Noch“, weder Eigenes noch Fremdes, weder „Ich“ noch „Du“, weder Eingeschlossenes noch Ausgeschlossenes.
Außerdem erlaubt die Übersetzung eine Entprovinzialisierung der Muttersprache. Sie erlaubt es, sich eingeladen zu fühlen, die eigene Sprache als eine unter anderen Sprachen/Traditionen zu verstehen und – letzten Endes – sich selbst mit der eigenen Sprache als Fremde:r wahrzunehmen. Es handelt sich hier um einen theologischen Diskurs, der nicht in sich verhärtet, sondern der sich in ständigen Übersetzungsprozessen befindet, in welchen die Übersetzung selbst zur eigentlichen Muttersprache wird.
Gegen Populismus und die Sakralisierung der Muttersprache
Wo heute die Tradition ausschließlich als Stütze für identitäre Ansprüche verwendet wird, verliert sich ihre spirituelle Kraft. Je mehr die Kirche dazu neigt, eine spezifisch christliche Identität zu verteidigen, desto eher zeigt sich die Tendenz einer Entspiritualisierung der Tradition. Es treten dann jene materiellen Elemente in den Vordergrund, die der Hervorhebung der eigenen Identität bei gleichzeitiger Abgrenzung von den Anderen dienen: der Rosenkranz, das Kreuz, die Krippe, die Glocken, der Wein – jene berühmten identity marker, die der Apostel Paulus unermüdlich bekämpft hat. Demgegenüber ausgeschlossen werden die prophetischen und spirituellen Elemente, die nicht zuvorderst die kulturelle Dimension der Religion hervorheben, sondern vielmehr den Glauben grundlegend nähren.
Die populistischen Bewegungen und die rechtskonservativen politischen Bewegungen beschwören und befördern kämpferisch die „christliche Kultur Europas“, vor allem in Absetzung zur islamischen Religion. Die religiösen Identitätsmarker produzieren eine fortschreitende Amputation, eine systematische Entleerung der spirituell-geistigen Sphäre, die dazu führt, dass der Knochen vom Geist losgelöst wird.[2] Im Gegensatz dazu wäre es heute seitens der Kirche und der Theologie dringend notwendig, der Beziehung mit der Alterität, die für das heutige Christentum in Europa vor allem in der Form des Säkularen sowie im religiösen Bereich besonders im Islam bestimmend geworden ist, nicht auszuweichen. Es geht um ein Ergreifen der evidenten Situation des Pluralismus, in welcher die Gegenwart des säkularen oder des religiösen Anderen sich nicht einfach abwechseln oder je neu gegenseitig ausschließen, sondern eine vollkommen neue europäische Konstellation hervorbringen.
Die Theologie: weder distanzierte Beobachterin religiöser Traditionen noch ein engagiertes ideologisches Subjekt
Das, was einer Tradition Legitimität verleiht, ist das, was ihrer bloßen Behauptung oder ihrem unmittelbaren Anspruch widerspricht; es ist das, was eine oberflächliche Bejahung der Religion als Garantie von Identität oder auch die Ableitung eines unmittelbaren religiösen Machtanspruches bekämpft. Gegen die Sakralisierung der Muttersprache, die die christlich-religiösen Symbole in kulturelle Identitätsmarker umfunktioniert, sie loslöst von ihrem echten religiösen Gebrauch und sie stattdessen dazu verwendet, um religiöse Symbole anderer Konfessionen zu unterdrücken, drängt sich noch immer die öffentliche Verantwortung der Theologie auf.
Religiös-fundamentalistische und naturalistisch-szientistische Aussagen teilen den gleichen Diskurs des Positivismus sowie die Unfähigkeit zum Glauben, da sie jede Vorstellung und jede Meinung auf die gleiche Modalität eines positiven Wissens, das auf einer Kette von Schlussfolgerungen beruht, reduzieren.[3] Dieser Diskurs bringt eine „Leidenschaft für die Rechtfertigung“ zum Ausdruck, die keine Transzendenz oder keinen Mangel erträgt, und neigt mit seiner Totalisierung (oder Verdrängung) des Sinns dazu, den Zwischenraum der symbolischen Erfahrung zu überschwemmen, also das zu verdrängen, das über positiv feststellbare Tatsachen hinausgeht.
Vor diesem Horizont kann die Theologie den Widerstand gegen ein fanatisches oder ideologisches Verständnis der religiösen Erfahrung darstellen. Sie ist dazu aufgerufen, sich als eine anti-fundamentalistische sowie anti-positivistische Ressource zu entdecken. Ohne diesen theologisch-kritischen Widerstand riskieren viele kirchlichen Gemeinschaften, sich in abgesonderte bzw. identitätsstiftende Gruppierungen zu transformieren, welche kein Bedürfnis mehr verkörpern, im öffentlichen Diskurs zu Wort zu kommen und Verantwortung gegenüber dem öffentlichen Raum wahrzunehmen.
Die Theologie ist weder eine neutrale, distanzierte Beobachterin und Exegetin religiöser Traditionen oder Phänomene, noch ein engagiertes ideologisches Subjekt, welches die Ideen einer bestimmten Gruppierung vertritt und reartikuliert. Theologie ist – wie die Philosophie und die Politik – eine geistige Arbeit als Beruf, die im Rahmen einer bestimmten symbolischen Ordnung an der Schwelle zwischen Außen und Innen denkt, um gesellschaftskritische und zugleich Zusammenhalt stiftende Symbole und Sinnhorizonte freizusetzen. Das Evangelium verpflichtet die Theologie auf eine Option für die Zukunft gegen alle zerstörerischen Tendenzen unserer Zeit. Sie muss deshalb ihre hegemoniale und selbstreferentielle Tendenz, die auf die Besiegelung ihres Untergangs hinarbeitet, beenden.
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Isabella Guanzini ist Professorin für Fundamentaltheologie an der Katholischen Privat-Universität Linz.
Siehe von ihr auch:
https://www.feinschwarz.net/sublimation-narration-zaertlichkeit/
[1] Vgl. Stiegler, De la misère.
[2] Vgl. Roy, L’Europe.
[3] Vgl. Žižek, With or Without Passion.
Literatur
Asad, Talal: Formations of the Secular. Christianity, Islam, Modernity, Palo Alto 2003.
Asad, Talal: Secular Translations. Nation-State, Modern Self, and Calculative Reason, New York 2018.
Bahr, Hans-Dieter: Die Sprache des Gastes. Eine Metaethik, Leipzig 1994.
Bucher, Rainer: Christentum im Kapitalismus. Wider die gewinnorientierte Verwaltung der Welt, Würzburg 2019.
Jullien, Francois: Ressource des Christentums. Zugänglich auch ohne Glaubensbekenntnis, Gütersloh 2019.
Roy, Olivier: L’Europe est-elle chrétienne?, Paris 2019.
Stiegler, Bernard: De la misère symbolique, Paris 2013.
Taylor, Charles: Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt a. M. 2012.
Žižek, Slavoj: With or Without Passion. What’s Wrong with Fundamentalism? – Part I, online: https://www.lacan.com/zizpassion.htm (Zugriff: 10.5.2021).