Der Missbrauchsskandal ist Katalysator für den Synodalen Weg, nicht Ursache und Grund, betont Manfred Kollig. Als Delegierter der Konferenz der Generalvikare hofft er, dass neu vereinbart wird, warum und wozu es Katholische Kirche in Deutschland geben muss.
Anlass für den Synodalen Weg, so wird immer wieder gesagt, sei die schreckliche Erfahrung der Katholischen Kirche mit dem sexuellen Missbrauch von Kindern und Schutzbefohlenen. So wichtig und richtig die Aufarbeitung dieses Skandals ist und alles getan werden muss, die vielfältigen Facetten – die Tat des Missbrauchs, die Vertuschung, die Verschiebung der Täter, das Leiden der Opfer etc. – aufzuarbeiten, gilt: Ohne Skandale ist die Glaubwürdigkeit zweifellos weniger gefährdet. Keine Skandale vorzuweisen, macht aber noch nicht glaubwürdig. Ich erhoffe mir vom Synodalen Weg, dass wir uns nochmal neu vereinbaren, warum und wozu es uns als Katholische Kirche in Deutschland geben muss.
Keine Skandale vorzuweisen, macht aber noch nicht glaubwürdig.
ERWARTUNG
Ich erwarte vom Synodalen Weg, dass sich alle, die direkt in Foren und Versammlungen oder indirekt im Rahmen von Veranstaltungen auf diözesaner oder lokaler Ebene oder durch die Beteiligung im Rahmen von Social-Media-Formaten auf diesen Weg machen, als Teil einer Lerngemeinschaft erfahren. Keine/r weiß alles, keine/r weiß nichts. Oder wie es in einem Tagesgebet heißt: „Keinem gab Gott alles, keinem gab er nichts.“ Die Grundhaltung, dass wir aufgrund des Geistwirkens in den Menschen zu den bekannten und schon seit Jahrzehnten diskutierten Themen noch neue Aspekte kennenlernen und andere Perspektiven einnehmen können, ist Voraussetzung für ein konstruktives Miteinander auf dem Weg.
Keine/r weiß alles, keine/r weiß nichts.
Als Lerngemeinschaft auf dem Weg zu sein, bedeutet auch, das Wirken Gottes zu betrachten, bevor wir etwas tun. Wir sind nicht diejenigen, die seine Gegenwart durch Gebet, Gottesdienst und soziales Handeln herstellen, sondern stellen seine Gegenwart dar und lassen sie wirksam werden in der Solidarität mit den Menschen und der ganzen Schöpfung. Ich hoffe, dass von dem Synodalen Weg ein Impuls ausgeht, die Gegenwart Gottes und sein Wirken zu betrachten, das sich nicht auf die Katholische Kirche, nicht auf Christinnen und Christen beschränkt. Alles Gute, das durch Menschen geschieht, kommt von Gott. Die Bedeutung der Kontemplation vor der Aktion hervorzuheben und diesen Impuls in die in allen Diözesen Deutschlands stattfindenden Kirchenentwicklungsprozesse zu geben, erhoffe ich vom Synodalen Weg.
… die Gegenwart Gottes und sein Wirken zu betrachten.
Ebenfalls erwarte ich ein neues Nachdenken über die Frage: Wie viel Einheit braucht die Kirche und wie groß muss die Vielfalt sein? Das richtige Maß an einheitsstiftenden und vielfaltermöglichenden Inhalten und Rahmenbedingungen ist eine wichtige Voraussetzung für die Glaubwürdigkeit unserer Kirche. In dem Maße, in dem sich die Katholische Kirche als Weltkirche mit dem Thema Einheit und Vielfalt auseinandersetzt und zu Vereinbarungen kommt, können Themen wie Umgang mit Macht, Umgang mit Sexualität, Rolle der Frau in der Kirche und die priesterliche Lebensform unter Berücksichtigung der kulturellen Bedingungen so bearbeitet werden, dass sich das Evangelium entfalten, Christus in den heutigen Menschen geboren werden und in die Situation hinein wirken kann.
Der Missbrauchsskandal führt auch vor Augen, dass wir in der Kirche spätestens seit dem 19. Jahrhundert mehr und mehr verlernt haben, die Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit aus dem Geist Jesu Christi zu gestalten. Immer wieder wurde die Härte gegenüber dem sündigen Menschen begründet mit dem Festhalten an den Idealen. Dass Seelsorgerinnen und Seelsorger in der Pastoral über die Regelungen des Rechts hinaus barmherzig gehandelt haben, konnte oft nur verborgen geschehen, da ansonsten mit Widerstand oder disziplinarischen Maßnahmen seitens kirchlicher Autoritäten zu rechnen gewesen wäre.
Ich erwarte vom Synodalen Weg, dass hier Vereinbarungen für einen gelungenen und vom Evangelium geprägten Umgang mit der Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit getroffen werden können. Das Wort des hl. Thomas von Aquin könnte in die richtige Richtung weisen: „Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit ist Grausamkeit. Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit ist die Mutter der Auflösung.“ (Kommentar zum Matthäusevangelium 5)
Die Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit aus dem Geist Jesu Christi gestalten.
Auch erwarte ich eine Klärung des Leitungsdienstes in unserer Kirche. Leitung in dieser Kirche, von wem auch immer ausgeübt, zeichnet sich nicht nur und nicht in erster Linie durch die Ermöglichung, Unterstützung und verantwortungsvolle Begleitung von Initiativen und Aktionen aus. In erster Linie muss sie davon beseelt sein und ausstrahlen, wie sehr diejenigen, die an der Leitung teilhaben, an die Gegenwart und das Wirken des beziehungsstarken Gottes glauben.
Auf dieser Grundlage erwarte ich vom Synodalen Weg, dass wir uns über die Art, in der Katholischen Kirche in Deutschland mit Macht umzugehen, verständigen, Leitlinien vereinbaren und deren Einhaltung auch in der Folge überprüfen. Dies muss geschehen, bevor wir die Verteilung der Macht (neu) zu regeln versuchen. Bei alledem hoffe ich, dass der Synodale Weg Impulse gibt, ein besseres, wirksameres und ausgewogeneres Verhältnis in der Kirche zu bewirken zwischen der Vergabe von Aufgaben, der dazu gehörenden Verantwortung und der Erlaubnisse und Befugnisse, diese auch zu erfüllen.
… wie sehr diejenigen, die an der Leitung teilhaben, an die Gegenwart und das Wirken des beziehungsstarken Gottes glauben.
BEFÜRCHTUNG
Ich bin überzeugt, dass es in unserer Kirche in Deutschland einen Kulturwandel geben muss. Kultur ist im Vergleich zu Organisation und Struktur schwerer zu erfassen und zu beschreiben. Kultur beinhaltet nämlich auch all das, was eher unterschwellig geschieht und teils emotional motiviert ist. Durch die Struktur wird beispielsweise festgelegt, welche Formen von Teams, Gremien und Konferenzen es gibt. Die Art aber, wie dort miteinander gesprochen und umgegangen wird, sagt etwas über die Kultur aus. Ich befürchte, dass wir uns nicht radikal genug selbstkritisch hinterfragen, wo überall in unserer Kirche Seilschaften eine sachliche Entscheidung be- oder verhindern; wo Corpsgeist das Erkennen und Anerkennen der Wirklichkeit – Voraussetzung für jede Reform – verhindert; wo Eigeninteressen und Lobbytätigkeit den Schatz des Evangeliums verschütten.
… nicht radikal genug selbstkritisch hinterfragen …
Eine weitere Befürchtung ist, dass wir als Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Synodalen Wegs innerlich nicht frei genug sind. Wenn der Synodale Weg ein geistlicher Prozess sein soll, dann bedarf es der inneren Freiheit. Alle Vorfestlegungen, die über das Glaubensbekenntnis, die Heilige Schrift und die kirchliche Lehre, als sich stets entwickelnde Größe in diesem Trio, hinausgehen, stehen einem geistlichen Prozess entgegen. Auch befürchte ich verbale Attacken, die Andersdenkenden böse Absicht oder mangelnde Einsicht unterstellen, wie jede andere Form verbaler Aufrüstung. Hierzu gehören auch Bewertungen wie etwa, dass der Synodale Weg die letzte Chance der Katholischen Kirche in Deutschland sei. Mit solchen Formulierungen wird ein Druck erzeugt, der die Kraft des Glaubens sowie der Hoffnung und der Liebe verharmlost und verkennt. Denn die letzte Chance gibt es, wenn der Herr wiederkommt.
… innerlich nicht frei genug …
Damit zusammen hängt gleichsam als Grundlage, dass ich befürchte, dass wir Kirchengeschichte, wo sie „Erfolgsgeschichte“ ist, als Wirken von Menschen würdigen; wo sie Abbrüche und „Misserfolge“ aufweist, gerne zum Anlass nehmen, die Gottverlassenheit zu reklamieren. Statt aber von einem „gebrauchsfertigen Gott“ und vermessenen Menschenbild auszugehen, sollten wir das Wirken Gottes unter keinen Umständen und zu keinem Zeitpunkt in Zweifel ziehen. Gleichfalls sollten wir unsere Beziehung als Schwestern und Brüder in der Katholischen Kirche und somit als auf dem Synodalen Weg von Gott zusammengerufene Gemeinschaft – nicht als selbsterwählten Club oder Freundeskreis – anerkennen. Ich befürchte „Ausstiegsdrohungen“, die nicht geeignet sind, Katholische Kirche als Sakrament des treuen Gottes zu erfahren, und die Communio im Extremfall zu leben, wenn es darum geht, einander zu lieben, auch wenn man sich nicht mag.
HOFFNUNG
Ich hoffe, dass der Synodale Weg
- das Vertrauen in den beziehungsstarken Gott – Dreieinigkeit, Schöpfung, Menschwerdung, Wohnungsbereitung für die Ewigkeit – stärkt;
- eine vom Glauben an die Macht Gottes getragene verantwortungsvolle Leitung in unserer Kirche fördert;
- um der Glaubwürdigkeit willen an guten Rahmenbedingungen für Einheit und Vielfalt unserer Kirche arbeitet und damit auch die Weltkirche anregt;
- zu einem neuen Impuls für den Umgang mit der Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit wird;
- die Beteiligten zu der Entscheidung führt, dass wir als Kirche aus dem Geist der Communio zusammenbleiben, auch wenn wir menschlich betrachtet Gründe hätten, uns zu trennen;
- bei alledem in die laufenden Prozesse der Kirchenentwicklung das Signal sendet: Wir lassen uns leiten vom Vertrauen auf Gott, wir sind deshalb mutig und demütig; wir vermeiden Aktionismus und handeln verantwortungsvoll, das heißt u.a. wir sind solidarisch, arbeiten sorgfältig und sind verbindlich.
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Text: Manfred Kollig, SSCC, Generalvikar des Erzbistums Berlin
Bild: Deutsche Bischofskonferenz (DBK)