Jugendverbandsarbeit kann helfen, Synodalität besser zu verstehen. Moritz Bauer zeigt das Schweizer Beispiel.
Jungwacht Blauring Schweiz (Jubla) ist der grösste katholische Kinder- und Jugendverband der Schweiz. In über 400 Scharen (lokale Vereine) leisten rund 32’500 Mitglieder knapp 3 Millionen Stunden ehrenamtliches Engagement pro Jahr. Als katholischer Kinder- und Jugendverband, der offen für alle Menschen ist, versteht sich die Jubla als Teil der Kirche und möchte diese mitgestalten.[1]
«Mitbestimmen» in Jungwacht Blauring Schweiz
Das Leitbild des Verbandes basiert auf den fünf Grundsätzen: «zusammen sein», «Glauben leben», «kreativ sein», «Natur erleben» und «mitbestimmen». Ich beschränke mich hier auf den Letztgenannten.
«Mitbestimmen» gehört zur Jubla. Oder allgemein zur Jugendverbands-DNA?[2] Der Begriff meint, dass alle ihre Ideen und Ansichten einbringen dürfen. Alle Meinungen werden ernstgenommen und respektiert. Entscheidungen werden gemeinsam getroffen. «Mitbestimmen» umfasst hierbei mehr als «nur» demokratische Verfahren. Der Begriff lässt sich als eine Grundoption allen Handelns in der Jubla auf allen Ebenen fassen. Er ist eine Einsicht, Haltung und Überzeugung, der kommunikatives Handeln ermöglicht und orientiert.[3] Kurz: Ohne Mitbestimmen kein Jugendverband, so die Logik in der Jubla (und auch in anderen Jugendverbänden).[4]
Mitbestimmen in der Kirche? – Fehlanzeige
Der Gedanke des «Mitbestimmens» steht dem Selbstverständnis der katholischen Kirche diametral entgegen. Die katholische Kirche als Grossorganisation kennt in ihrer institutionellen Verfasstheit und gelebten Praxis weder den Grundgedanken der Partizipation noch eine wirklich demokratische Ordnung im Sinne einer Souveränität aller Getauften. Die Kirche ist in ihrem Kern eine absolutistische Monarchie, auch wenn das in der konkreten pastoralen Praxis durch das Mühen vieler Einzelner, Priester und Laien, immer wieder anders gelebt wird.
Das Partizipationsdefizit der Kirche verhindert den Einbezug junger Menschen. Sie fühlen sich von kirchlichen Angeboten weder abgeholt noch von der Institution ernstgenommen. Die Religionssoziologen Stolz und Senn sprechen heute von «Generationen abnehmenden Glaubens».[5]Hingegen gilt: Wenn junge Menschen in der Kirche zu finden sind, dann wird deren Engagement als sehr positiv erlebt.[6] Wichtig ist mir zu sagen, dass den meisten jungen Menschen die Kirche heute schlicht egal geworden ist. Im Unterschied zu vorherigen Generationen empfinden sie keine «fremde Heimat» (Hans-Joachim Höhn)[7] mehr, sondern schlicht gar keine Heimat. Dieses «Egal-Sein» ist Resultat der jahrzehntelangen Reformunfähigkeit und Missstände der Institution in allen Bereichen und kein Resultat einer fehlgeleiteten und von Massenkultur negativ beeinflusst Jugend.
Synodalität als «Containerbegriff»
Seit einigen Jahren erscheint mit dem Zauberwort Synodalität ein Konzept am Himmel, welches von vielen als letzter Rettungsanker der Kirche gesehen wird – auch in der Schweiz. So sehr ich die theologischen Anliegen dahinter schätze, teile ich die Einschätzung, dass sich Synodalität in der Praxis oftmals als «Containerbegriff» (D. Bogner) entpuppt.[8] Das Wort wird derart unterschiedlich und inflationär verwendet, dass gar nicht klar sein kann, was es eigentlich meint. Mir scheint der berüchtigte Elefant im Raum zu sein: Wir wollten über reale Beteiligungsmöglichkeiten, Diskriminierungserfahrungen und Machtmissbrauch reden. Stattdessen führen wir einen Fachdiskurs, der ausserhalb der Kirche nicht kommunikabel ist und zudem mit theologischer Schönrednerei aufwartet.
Der Begriff der Synodalität erscheint mir allenfalls anschlussfähig, wenn er enger mit dem Begriff der Partizipation verbunden und entfaltet wird. Partizipation verstehe ich als konsequentes aktives Mitbestimmen gleichwürdiger Subjekte im Sinne einer Teilnahme (nicht Teilhabe)[9], in einer «kommunikativen Einheit der Glaubenden» (Patrick C. Höring)[10].
Die Jubla als Inspirationspotential
Aus der partizipativen Praxis der Jubla lassen sich mindestens fünf Inspirationen für den Gedanken der Synodalität ableiten – auch für die Kirche:
Partizipation habitualisieren
In der Jubla ist der Gedanke der Partizipation kein punktuelles Phänomen. Partizipation ist eine Grundoption, die handlungsleitend ist. Eine solche muss erlernt, kultiviert und letztlich habitualisiert werden.
Partizipation konsequent zu Ende denken
Partizipation muss konsequent zu Ende gedacht werden. Dies meint, die personellen, finanziellen, theologischen und strukturellen Voraussetzungen zur Verfügung zu stellen, dass sie ermöglicht wird und gelingen kann. Partizipation erweist sich hierbei als ein aufwendiger und mitunter anstrengender Prozess. Auch in der Jubla dauern Entscheidungsfindungen, werden viele Ressourcen in die Organisation entsprechender Strukturen investiert oder immer wieder Feedback-Schlaufen gedreht. Wichtig ist hierbei: Partizipation darf nicht zu einem Scheinprozess werden.
Selbstbindung und -beschränkung
Damit ein solcher vermieden wird, müssen sich Verantwortungsträger*innen und -organe an die Meinung der Beteiligten binden. Dies wird oft nur durch eine Selbstbindung und -beschränkung möglich. In der Jubla müssen etwa die hauptamtlichen Angestellten und die ehrenamtliche Verbandsleitung ihre Entscheidungen immer wieder vor den Mitgliedern rechtfertigen. Der Mitgliederauftrag ist die entscheidende Referenzgrösse für Projekte, Haltungen und das Leitbild. Fehlt dieser, stellt sich die Frage nach der Handlungsgrundlage.
Im aktuellen «synodalen» Prozess ist diese Grundhaltung nicht ersichtlich. Ein «Anhören» und «Zur Kenntnis nehmen» reicht nicht aus, um wahre Synodalität zu leben. Für die breite Mehrheit junger Menschen im Schweizer Kontext ist dies schlicht unverständlich und steht in derart starken Kontrast zur gelebten demokratischen Ortskultur, dass das kirchliche Handeln schlicht nicht kommunikabel ist. Hier gilt: «extra ecclesiam nulla acceptio». Ekklesiologische und sakramententheologische Argumentationen hin oder her.
Bottom-Up und Top-down
Wo Partizipation ermöglicht wird, gibt es ein Wechselspiel von Bottom-Up- und Top-Down-Effekten. Weder das eine noch das andere lässt sich vollumfänglich realisieren. In der Jubla entwickeln Fachverantwortliche Ideen, die im Resonanzraum von Beteiligten einem Soundboarding unterzogen werden. In der Gegenrichtung gibt es Anliegen, die erst durch partizipative Strukturen oder Mentalitäten kultiviert werden können. Das Haltungspapier «Nachhaltige Entwicklung» der Jubla ist Ergebnis eines solchen Prozesses.
Harmonie als Zielvorgabe, nicht als Stolperstein
Die Beteiligung vieler kann nur in einer Atmosphäre und auf Basis einer Gleichwürdigkeit gelingen. Selbstverständlich ist es hierbei die Zielvorgabe, Harmonie zu erreichen. Dieser Gedanken muss vorläufig – oder theologisch gesprochen: eschatologisch – bleiben. Wer davon ausgeht, dass in partizipativen Prozessen alle zu einem Konsens geführt werden können, setzt sich ein (zu) hohes Ziel. Sowohl in der Jubla, wie auch in der Kirche gehört eine «Kultur des Streitens» (nicht des Streits) zu notwendigen Grundbedingungen.
[1] Vgl. das Leitbild der Jubla sowie insbesondere die Haltungspapiere „Glauben und Kirche“; „Öffnung und Integration“ sowie „Gender“. Online: www.jubla.ch/leitbild (abgerufen am 31. März 2023).
[2] Vgl. inkl. einiger kritischer Hinweise zu real erreichten Partizipationsstufen Höring, Patrick C.: Markenkern Partizipation. Strukturen der Teilhabe und Mitverantwortung in katholischer Jugend(verbands)arbeit gestern und heute, in: Zeitschrift für Pastoraltheologie 40 (2020), 131–143.
[3] Den Begriff der Grundoption entlehne ich aus meiner religionspädagogischen Grundausbildung bei Stephan Altmeyer.
[4] Vgl. Linder, Simon: »Leben in Fülle« im Jugendverband: Die »Theologie der Verbände« des BDKJ. In: Höring, Patrick C./ Knapp, Angelika: Handbuch Kirchliche Jugendarbeit, Freiburg i. Br. 2019, 248–255.
[5] Vgl. Stolz, Jörg/ Senn, Jeremy: Generationen abnehmenden Glaubens. In: Stolz, Jörg et al.: Religionstrends in der Schweiz. Religion, Spiritualität und Säkularität im gesellschaftlichen Wandel, Wiesbaden 2022, 7–31.
[6] Vgl. gfs.bern: Synodaler Prozess zur Synode 2023. Bern 2022, online: https://cockpit.gfsbern.ch/wp-content/uploads/2022/01/214111_schlussbericht_synodaler_prozess_bistum_basel_final.pdf.
[7] Vgl. Höhn, Hans-Joachim: Fremde Heimat Kirche. Glauben in der Welt von heute, Freiburg i. Br. 2012, 119–138.
[8] Vgl. Bogner, Daniel: Ihr macht uns die Kirche kaputt… doch wir lassen das nicht zu! Freiburg i. Br. 2019, 96– 98.
[9] Vgl. Bauer, Christian, Vom Haben zum Sein? Partizipation in einer synodalen Kirche, in: Zeitschrift für Pastoraltheologie 40 (2020), 37–57, hier: 39.
[10] Vgl. Höring, Patrick C.: Jugendlichen begegnen. Arbeitsbuch Jugendarbeit, Stuttgart 2017, 276–289.
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