Der eigene Körper als Tagebuch – und ein Glaube, der unter die Haut geht. Claude Bachmann skizziert eine kleine Theologie der Tätowierungen.
Zum ersten Mal seit langem wieder bohrt sich die Nadel millimetertief in meinen Körper und brennt schwarze Tinte unter meine Haut. Stoisch versuche ich die Prozedur an meinem Körper über mich ergehen zu lassen, der für viele zu schmerzhaft ist. Nicht für mich. Denn in diesem Fall muss nicht die Schönheit leiden, sondern die Erinnerung an Schlüsselmomente meines Lebens und Ausdrucksformen meines Glaubens – Ein Leben und ein Glaube, die unter die Haut gehen: Ein Bild meines besten Freundes und mir von unserer Pilgerreise auf meiner linken Seite, das Bruder Klausen-Gebet auf meiner rechten Seite und das Bruder Klausen-Rad auf dem linken Handgelenk, das Wappen von Alaska auf der linken Hand, das Taizé-Kreuz am rechten Handgelenk, das Logo der Theologischen Hochschule Chur auf dem rechten Unterarm. Alles Spuren meines Lebens und meines Glaubens – prägend und nicht wegwischbar.
Kein Vorbild für junge Menschen
Seit 11 Jahren bin ich tätowiert, dies vor allem an den beiden Armen. Von den Fingern bis zu den Schultern schmücken zahlreiche Texte, Embleme und Symbole meine Haut und es werden von Jahr zu Jahr mehr. Und seit 13 Jahren arbeite ich als kirchlicher Jugendarbeiter in der Schweiz. Ein Problem war dies nie. Gerade in der Arbeit mit jungen Menschen führte die Diskussion über Tattoos zu spannenden und bleibenden Begegnungen. Nur ein einziges Mal beschwerte sich eine ältere Frau nach einer Podiumsdiskussion über meine Tattoos: «Herr Bachmann, was sie auf dem Podium gesagt haben, fand ich gut. Aber ihre Tattoos … es tut mir leid, aber das geht gar nicht. Sie sind so kein Vorbild für junge Menschen».
Die Zeiten, in welchen Tattoos primär mit Häftlingen, Seefahrer:innen und Rocker:innen assoziiert und gleichzeitig stigmatisiert wurden, sind glücklicherweise vorüber. Längst ist diese Art von Körperschmuck gesellschaftlich akzeptiert und wenn Tätowierungen Blicke auf sich ziehen, dann meistens aufgrund ihrer künstlerischen Fertigkeiten.
Bunte Kathedralen des Selbst
Dass Tinte in der christlichen Tradition nicht nur auf Bücherseiten gedruckt, sondern auch unter die Haut gestochen wurde, zeigt der deutsch-amerikanische Theologe und Autor Paul-Henri Campbell in seinem Buch «Tattoos & Religion. Die bunten Kathedralen des Selbst» (2019). In zahlreichen Interviews geht er der Faszination des Tätowierens aus religiös-christlicher Perspektive nach. So erfahren wir, dass in Jerusalem ein in der 26. Generation geführtes Tattoo-Studio[1] seit über 700 Jahren Pilger:innen aus der ganzen Welt mit alten Holzmatrizen tätowiert.[2] Die Erinnerung bzw. der Beleg an eine erfolgreiche Pilgerschaft fiel weniger durch einen Stempel in einen Pilgerpass aus, als vielmehr durch einen gestochenen Stempel auf die Haut und hielt so als Pilgertätowierungen Einzug in die christliche Tradition.[3]
Erlebtes wird auf mannigfache Art und Weise festgehalten: in Tagebüchern, auf Bildern, in Gedichten, in Filmen. Oder aber als Tattoo auf dem eigenen Körper. Damit werden zwei Dimensionen berührt, die existentiell zum Mensch-sein dazugehören: Leibhaftigkeit und Geschichtlichkeit. Der Mensch hat nicht nur einen Leib, er ist Leib und kann darum sich selbst und andere Menschen wahrnehmen und in Kontakt treten. Gleichzeitig manifestiert sich der Leib immer in Geschichte; in der eigenen Geschichte, in der Geschichte der Familie, des Freund:innenkreises oder der ganzen Menschheit. So erfuhr auch die Geschichte Jesu an seinem Leib ihren Höhepunkt, als er am Kreuz starb und später leibhaftig wieder auferstanden ist. Zeichen dafür sind die Wundmale Christi – nicht als Tattoo, aber als sichtbare Stigmata am Körper.[4]
Mehr als nur Tinte auf der Haut
Der Körper als Ausdrucksform seines selbst erzählt die Geschichte des Ichs. Wie der Körper mit der eigenen Geschichte aufs engste verbunden sein kann, zeigt auch Christopher Nolan in seinem viel beachteten Film «Memento» aus dem Jahre 2000. Der Protagonist, der aufgrund einer Verletzung an Gedächtnisverlust leidet, lässt sich gewonnene Fakten und Einsichten auf seinen Körper tätowieren, um den mutmasslichen Mörder seiner geliebten Frau finden zu können. Ich lasse mir Erlebtes oder Zeichen des Glaubens nicht tätowieren, weil ich mich nicht mehr daran erinnern kann, sondern weil ich mich ständig daran erinnern möchte. Sie erzählen meine Geschichte, wer ich bin, was mir im Glauben wichtig ist. Mein Körper ist mein Tagebuch, mein Glaube. Meine Tattoos weisen über die Tinte auf meiner Haut hinaus. Auch für die bekannte Pariser Tätowiererin Marlène Le Cidre ist ein Tattoo mehr als nur Tinte auf der Haut. Und weil tätowierte Tinte bleibt, muss mit Bedacht über die Kreation von Tattoos gesprochen werden: « Je crois qu’un tatouage c’est bien plus que de l’encre sur la peau. Ce que nous créons ensemble dit qui vous êtes, alors nous devons parler avec éloquence. Parce que l’encre reste. »[5]
Die Idee für mein nächstes Tattoo ist bereits am Entstehen. Eine weitere Erinnerung, für welches es sich lohnt, Schmerzen in Kauf zu nehmen. Der Schmerz vergeht, aber die Tinte bleibt.
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Claude Bachmann studiert an der Theologischen Fakultät in Chur und verbringt gerade ein Gastsemester in Paris.
Bildquelle: Privat.
[1] Razzouk Tattoo, Jerusalem: www.razzouktattoo.com (zuletzt abgerufen am: 10. Juni 2021).
[2] Vgl. Campbell, Paul-Henri: Tattoo & Religion. Die bunten Kathedralen des Selbst. Heidelberg: Wunderhorn, 2019, 54–65.
[3] Vgl. Campbell, Tattoo 66–75.
[4] Und dennoch haben eine Tätowierung und ein Stigma mehr gemeinsam, als es dies auf den ersten Blick vermuten lässt: Das griechische Nomen στίγμα meint in seiner Grundbedeutung so viel wie «Stich» oder «Malzeichen», während das Verb στίζειν mit «stechen», «punkten» oder eben «tätowieren» übersetzt wird.
[5] Marlène Le Cidre, www.marlenelecidretattoo.com/marlene-le-cidre (zuletzt abgerufen am: 10. Juni 2021).