Neue technische Möglichkeiten versprechen leichtere Pflege und angenehmeres Altern. Damit ändert sich aber mehr, als wir zunächst denken. Monika Bobbert und Anna Kohlwey sondieren das Feld mit ethischem Interesse.
Fast jeder kennt die Situation. Mutter oder Großvater wird älter und unsicherer auf den Beinen – und die Familie sorgt sich. Was nur, wenn während des Sommerurlaubs durch einen Sturz die schlimmsten Befürchtungen wahr werden? Wäre es da nicht praktisch, wenn Bodensensoren Signale an den Notruf senden würden? Vielleicht sollte das nicht erst im Unglücksfall geschehen, sondern auch dann, wenn der oder die Gestürzte den ganzen Tag nicht aus dem Bett kommt…
Eine Menge praktischer Vorzüge
Die häufigen Kurzbesuche der Angehörigen, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist, könnten sich erübrigen, wenn die sensorische Raumüberwachung oder andere IT-Systeme Unregelmäßigkeiten oder Veränderungen im Tagesablauf erkennen, frühzeitig Gefahrensituationen identifizieren und Alarm schlagen würden. Anders als bei einem umgehängten Notfallknopf lösen bei der neuen Technik Sensoren den Alarm automatisch aus. Nun könnten die um die Gesundheit ihrer Mutter besorgten Kinder wieder wie früher zu Besuch kommen und sich unterhalten, statt ständig unter Zeitdruck zu sein oder in der Ferne unruhig werden, wenn die Mutter einmal nicht telefonisch erreichbar ist.
„Altersgerechte Assistenzsysteme für ein gesundes und unabhängiges Leben“ (englisch: „Ambient Assisted Living“, daher AAL) antworten auf die demographische Entwicklung und unseren Wunsch, selbstbestimmt und möglichst unabhängig von der Hilfe anderer zu Hause alt zu werden. Doch stehen der sinkenden Zahl von Pflegekräften und beruflichem Nachwuchs zunehmend mehr hochbetagte, pflegebedürftige Menschen gegenüber. Es gibt schon jetzt häufig Wartelisten für einen Platz im Alten- oder Pflegeheim, und eine gute Qualität der stationären Versorgung ist personal- und kostenintensiv. Warum also nicht die Vorteile und Möglichkeiten der modernen Technik nutzen und ausweiten?
„Ambient assisted living“
Im AAL-Programm haben sich 29 Förderorganisationen aus 21 Ländern zusammengeschlossen. Neben Mitgliedsländern der EU beteiligen sich am Programm auch die Schweiz, Norwegen, Israel und Kanada. Denn um den Bedürfnissen älterer Menschen besser gerecht zu werden, sind gemeinsame Ansätze gefragt. In den Projekten des AAL entwickeln Forscherinnen und Forscher sowie Unternehmen grenzüberschreitend technische Innovationen, um die Lebensqualität, Gesundheit und Autonomie älterer Menschen zu verbessern. Die Schweizer Informationsschrift der Eidgenossenschaft und des Departments für Wissenschaft und Forschung erläutert beispielsweise: „So trägt AAL auch dazu bei, den Fachkräftemangel in der Pflege zu mindern und die Betreuung Älterer zu Hause durch Angehörige zu unterstützen. Die beteiligten Unternehmen nutzen AAL-Projekte als Chance, um im entstehenden «Silver Market» Fuss zu fassen.“ (AAL-Programme- Innovationen für eine alternde Gesellschaft, Bern 2016, 3).
In Deutschland fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung in Zusammenarbeit mit der VDI/VDE Innovation + Technik GmbH zahlreiche Projekte im Bereich der AAL. Sie zielen auf „Konzepte, Produkte und Dienstleistungen […], die neue Technologien und [das] soziale Umfeld miteinander verbinden und verbessern, um die Lebensqualität für Menschen in allen Lebensabschnitten zu erhöhen.“ (http://www.aal-deutschland.de/aal-1, Stand: 23.01.17.) Die AAL sollen älteren Menschen dazu verhelfen, länger in ihrer vertrauten Umgebung zu bleiben und ein „selbstbestimmtes, autonomes und mobiles“ Leben zu führen. Dies sei z.B. besonders wichtig für Demenzkranke, deren Symptomatik sich schon in frühen Erkrankungsstadien durch einen Ortswechsel verstärken könne. So bieten die digitalen Systeme beispielsweise Unterstützung beim Baden, Treppensteigen oder Kochen, indem sich Elektrogeräte automatisch ausschalten oder Anweisungen für die Abfolge der Alltagshandlungen geben. Gesundheit und alltägliche Funktionsfähigkeit werden trainiert und erhalten und ein freier Lebensstil trotz physischer oder kognitiver Beeinträchtigungen ermöglicht.
Mehr Autonomie durch Technik?
Bedenkt man den Ärztemangel auf dem Land und die weiten, für ältere Patienten beschwerlichen Wege zu den Fachärzten, scheint die digitale Datenerhebung und Auswertung hilfreich zu sein. Es ist möglich, Ferndiagnosen zu stellen, einfache Behandlungen oder Medikamentenzuteilungen von Zuhause aus zu initiieren und unter digitaler Anleitung selbst auszuführen.
Doch sind die AAL so unproblematisch, wie es auf den ersten Blick scheint? Welchen zeitlichen und finanziellen Einsatz und welches Know-How müssen die Betroffenen und ihre Angehörigen aufbringen, bis die Systeme wirklich gut funktionieren? Lassen sie sich an die individuellen Bedürfnisse anpassen oder werden nur standardisierte EDV-Pakete installiert? Und wer hilft bei diesen Programmadaptionen?
Die AAL gehen einher mit der Erhebung privater Daten des alltäglichen Lebens. Personenbezogene Informationen werden 24 Stunden, 7 Tage die Woche gesammelt und gespeichert. Armbänder zeichnen Vitalwerte, Boden- und Kühlschranksensoren, Raum- oder Ortungssensoren im Schlüsselbund Lebensabläufe auf.
Big Data für unsere Gesundheit
Die bislang nicht zufriedenstellend gelöste Problematik der Big Data weitet sich also auf die Bereiche Gesundheit, Pflege und Lebensführung im Alter aus. Welches Nutzungspotential und welche Missbrauchsmöglichkeiten mit der Sammlung sensibler Daten aus diesen Bereichen einhergehen, lässt sich noch nicht genau absehen. Krankenkassen und Versicherungen, die Pharmaindustrie und Hersteller von Gesundheitsprodukten sind zweifelsohne an solchen Konsumenteninformationen und einer Personalisierung ihrer Werbung interessiert.
Doch gibt es nicht nur das Recht auf Selbstbestimmung über Aufenthaltsort, Finanzen, Gesundheit und Lebenswandel, sondern auch das Recht auf Selbstbestimmung über personenbezogene Daten. Wie können ältere Menschen digitale Hilfen selbstbestimmt nutzen – wenn sie diese oft allein schon deswegen nicht selbst programmieren und bedienen können, weil die Produkte nicht auf die sensorischen, motorischen und kognitiven Kompetenzen älterer Menschen ausgerichtet sind, sondern auf junge, digital geübte Nutzer?
Ist vielleicht lediglich von einer Selbstbestimmung die Rede, die bei der digitalen Alltagsgestaltung den Weg des geringsten Widerstands geht und damit unweigerlich Fremdbestimmung und Kontrolle in Kauf nimmt – etwa durch Vorgaben, die implizit in den AAL enthalten sind oder unsichtbare Personen und Gesellschaftsgruppen, die Zugang zum persönlichen Alltag erhalten? Derzeit werden die Datenschutzbestimmungen im Recht oft – wo kein Kläger, da kein Richter – nicht beachtet oder für alltagsuntauglich erklärt. Negative Auswirkungen durch die Big Data scheinen uns bislang eher fiktive Szenarien als reale Probleme zu sein.
Veränderung des Selbstbildes
Der Ärztemangel auf dem Land und der Pflegekräftemangel werden uns in Zukunft noch stärker beschäftigen. Warum nicht Telemedizin im Problemfall und „self-tracking“ zur Gesundheitsprävention? Nicht nur ältere Menschen müssen sich in Zukunft mit Fragen der Medikalisierung und der damit verbundenen veränderten Selbstwahrnehmung befassen: Wenn wir systematisch biophysiologische und biophysikalische Werte erfassen, beeinflusst dies unsere Selbstwahrnehmung und unser Alltagsverhalten. Wie stark werden einerseits somatische Zustände durch statistische Methoden standardisiert und andererseits psychosoziale Aspekte ausgeblendet? Wie viel Platz bleibt für die je eigene psychosoziale Individualität? Durch strukturelle Angebote, die die Körper- und Selbstwahrnehmung auf bestimmte Weise formen, wird sich auch unser gesellschaftliches Verständnis von Gesundheit und Krankheit verändern.
Außerdem wird die Befolgung „klassischer“ Normen wie Schweigepflicht und Schutz personenbezogener Informationen unerwartet zum Problem: Wie lässt sich die Schweigepflicht des Arztes oder der Ärztin gewährleisten, wenn Gesundheits- und Pflegeinstitutionen oder die Familienmitglieder Zugriff auf private Gesundheitsinformationen haben? Datenschutz und Schweigepflicht müssten angesichts der Entwicklung von AAL-Systemen in Ethik und Recht also unter neuen Vorzeichen diskutiert und geregelt werden.
Sicherlich ist auch der Faktor der finanziellen und personellen Entlastung nicht zu unterschätzen. Doch unter Umständen verschieben sich viele Kosten lediglich in das Ingenieurswesens, den IT-Bereich und in das Feld der Prüfungs- oder Wartungsarbeiten. Davon abgesehen sind Technik und finanzielle Ressourcen dazu da, dem Menschen zu dienen, also letztlich immer nur Mittel zum Zweck. Somit ist zu fragen, inwieweit AAL zum Gelingen des Lebens in hohem Alter beiträgt. Es ist naheliegend, dass Menschen in hohem Alter, die in den eigenen vier Wänden wohnen bleiben möchten, für ihr Wohlbefinden neben technischen Hilfen vor allem attraktive Modelle sozialen Wohnens, flexible ambulante Dienstleistungen und bürgerschaftliches Engagement brauchen.
Um welche Autonomie geht es eigentlich?
Hochbetagte Frauen und Männer gewinnen Autonomie, indem sie in ihrer gewohnten Umgebung bleiben können, was ihrem Wunsch entspricht. Sie verlieren jedoch auch Autonomie im Sinne von Unabhängigkeit und Selbstkontrolle, da sie Privatheit verlieren und anderen Kontroll- und Manipulationsmöglichkeiten eröffnen. Wer sich im Alter vor sozialer Isolation und Einsamkeit fürchtet, davor, wenig Ansprache zu haben und gebraucht zu werden, wünscht sich vermutlich Autonomie im Sinne von Entwicklung und Entfaltung auch in dieser Lebensphase. Wenn Familienmitglieder, Freunde und Bekannte vorbeikommen, dann ist das eine Herausforderung im guten Sinne, weil Menschen interagieren und weil zwischenmenschliche Beziehungen uns auf vielen Ebenen mit Leben erfüllen.
Technische Hilfen werden in erster Linie Routinen und alltägliche Abläufe unterstützen. Nun schließt das eine das andere sicherlich nicht aus. Im besten Fall nutzen wir die Leistungen des technischen und digitalen Fortschritts, und der Mensch bleibt das Maß der Dinge. Um jedoch selbstbestimmt entscheiden zu können, brauchen wir gute Wahlmöglichkeiten. Daher ist es notwendig, noch weitere Alternativen, etwa soziale Formen der „Patenschaft“ oder der „Nachbarschaftshilfe“ zu entwickeln.
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Prof. Dr. Monika Bobbert lehrt theologische Ethik an der Universität Münster.
Anna Kohlwey ist studentische Mitarbeiterin am dortigen Seminar für Moraltheologie.
Bild: Campomalo / pixelio.de