Die mögliche Einführung eines dritten Geschlechtseintrags im deutschen Personenstandsregister bis Jahresende könnte die Gesellschaft verändern. Gerhard Schreiber hat sich kirchliche Stellungsnahmen angesehen und plädiert für die Wertschätzung des ganzen Spektrums menschlicher Existenz.
»Es ist ein Mädchen!« »Es ist ein Junge!« So verkünden Eltern überglücklich die Geburt ihres Kindes. Ein Zwischendrin gibt es nicht, denkt man. Diese Einteilung in Frau und Mann hat Folgen für das ganze weitere Leben. Doch ausgerechnet die Biologie, von der wir uns gerne diese Ordnung der Geschlechter als naturgegeben attestieren lassen, belehrt uns eines Besseren.
Biologisch gesehen entspricht die Einteilung der Menschen in zwei sich ausschließende, aber komplementär aufeinander bezogene Geschlechter nicht der Fülle menschlicher Wirklichkeit. Gemeinhin werden vier Variablen der biologischen Geschlechterdifferenzierung unterschieden: genetisches oder chromosomales Geschlecht, Keimdrüsengeschlecht, Hormongeschlecht und morphologisches Geschlecht. Jedes dieser Merkmale weist nicht nur an sich eine erhebliche Variationsbreite auf. Sie können sich auch untereinander überkreuzen. Eine trennscharfe Einordnung eines Menschen in die Kategorien »weiblich« oder »männlich« ist daher nicht immer möglich.
»Es ist ein Mädchen!« »Es ist ein Junge!«
Es gibt Menschen, die zwischen diesen Geschlechtern stehen. Der Begriff Intersexualität steht für Varianten der Geschlechtsentwicklung, die jeweils dazu führen, dass sich eine Person weder dem »weiblichen« noch dem »männlichen« Geschlecht zuordnen lässt. Auf anatomischer Ebene kommt das bei einer von zweitausend Geburten vor. Unter Einschluss von Varianten auf chromosomaler Ebene ist der Anteil intersexueller Menschen an der Bevölkerung wesentlich höher. Das medizinische Fachlexikon Pschyrembel geht von einer Häufigkeit von mindestens 1 zu 500 Intersexuellen aus.[1] In Deutschland sind das mindestens 160.000 Menschen, in etwa die Einwohnerzahl Würzburgs.
Dem Befund der wissenschaftlichen Forschung hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) am 10. Oktober 2017 (1 BvR 2019/16)[2] Rechnung getragen und entschieden, dass der Gesetzgeber für diejenigen »Personen, deren Geschlechtsentwicklung gegenüber einer weiblichen oder männlichen Geschlechtsentwicklung Varianten aufweist und die sich selbst dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen« (Rn. 35), eine dritte Eintragsmöglichkeit von Geschlecht im Personenstandsregister neben »weiblich« und »männlich« zu schaffen hat.
Mit Schreiben vom 17. Oktober 2016 hatte das BVerfG insgesamt 19 Institutionen, Verbänden und Vereinen Gelegenheit gegeben, zur Verfassungsbeschwerde gegen die Versagung eines dritten Geschlechtseintrags als sachkundige Dritte (gemäß § 27a BVerfGG) Stellung zu nehmen. 16 Stellungnahmen, darunter mehrere eigeninitiativ eingereichte, waren eingegangen, die allesamt – von zwei Ausnahmen abgesehen – mehr oder weniger deutlich die Intention der Verfassungsbeschwerde, einen dritten Geschlechtseintrag zu ermöglichen, unterstützt haben.[3]
Unterschiede zwischen ZDK und EKD
Als eine der beiden Ausnahmen sprach sich das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) gegen die Einführung eines dritten Geschlechtseintrags aus.[4] Die von ihm befragten katholischen Personalverbände seien gegenwärtig gegen die Auflösung einer binär orientierten Geschlechterordnung, weil sie den von Katholikinnen und Katholiken mehrheitlich vertretenen Wertvorstellungen widerspreche. Intersexualität sei unbestreitbar ein biologisches Phänomen, kein körperlicher Defekt. Überdies verbiete die unbedingte Personenwürde die Diskriminierung aufgrund körperlicher Merkmale. Das Erfordernis der Nichtdiskriminierung intersexueller Menschen sei jedoch durch die 2013 eingeführte Änderung des Personenstandsgesetzes (PStG) bereits angemessen berücksichtigt, wonach der Personenstand auch ohne Angabe eines Geschlechtes registriert werden könne (vgl. § 22 Abs. 3 PStG).
Dagegen war das Studienzentrum der EKD für Genderfragen[5] der Auffassung, dass Menschen, »die sich aufgrund ihrer selbst empfundenen geschlechtlichen Identität weder dem ›weiblichen‹ noch dem ›männlichen‹ Geschlecht zuordnen können und wollen, erst dann eine diesen beiden Kategorien gleichwertige Zuordnung erfahren haben, wenn diese ebenfalls als Geschlechtszuordnung erkennbar ist.« Die Geschlechtsidentität sei eine für Menschen so wesentliche Kategorie, dass eine Fehlzuschreibung schwerwiegende Folgen haben könne. Wer als weder eindeutig weiblich noch eindeutig männlich zugeordnet werden könne und wolle, sei deshalb kein geschlechtliches »nullum«, sondern ein »aliud«.
Abkehr von einer Pathologisierung intersexueller Körper
Die wegweisende Entscheidung des BVerfG vom 10. Oktober 2017 ist aus drei Gründen bemerkenswert: Erstens erklärt das BVerfG nicht die Verfassungswidrigkeit, sondern die Unvereinbarkeit der gegenwärtigen Regelungen des PStG mit den grundgesetzlichen Anforderungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) einerseits, dem besonderen Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG andererseits. Die gegenwärtigen Regelungen begründen eine Pflicht zur Angabe des Geschlechts, bieten der genannten Personengruppe jedoch keine Möglichkeit, neben dem Geschlechtseintrag »weiblich« oder »männlich« ein weiteres Geschlecht eintragen zu lassen.
Zweitens geht es bei der Entscheidung des BVerfG nicht, wie nahezu sämtliche Medienberichte kolportierten, um die Schaffung eines »dritten Geschlechts«, sondern um die Schaffung einer dritten Eintragungsmöglichkeit von Geschlecht. Dieser Umstand muss auch deshalb betont werden, weil »Geschlecht« im Recht als feststehende Kategorie zwar vorausgesetzt wird, selbst aber ein unbestimmter Rechtsbegriff bleibt.
Drittens spricht das BVerfG nicht von »intersexuellen Menschen«, sondern deutungsoffen von Personen »mit Varianten der Geschlechtsentwicklung« und mit dauerhafter Selbst-Zuordnung weder zum »männlichen« noch zum »weiblichen« Geschlecht. Mit dieser eindeutigen Abkehr von einer Pathologisierung intersexueller Körper wird, wie zu hoffen ist, der noch immer üblichen medizinischen Praxis der Genitaloperationen an Kindern ein wirksamer Riegel vorgeschoben werden können. Diese meist bereits kurz nach der Geburt durchgeführten irreversiblen, aber medizinisch nicht notwendigen Maßnahmen zur Geschlechtszuordnung bei Kindern mit sogenannten »uneindeutigen« körperlichen Geschlechtsmerkmalen werden von Betroffenenverbänden mit medizinischer Folter und der Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung gleichgesetzt.
Die Argumentation des BVerfG erscheint konsequent.
Die Argumentation des BVerfG erscheint konsequent. Jeder Mensch, auch ein intergeschlechtlicher, hat ein Geschlecht. Durch die Schaffung einer weiteren Eintragungsmöglichkeit von Geschlecht jenseits der Geschlechterbinarität wird vielen Menschen etwas gegeben, aber niemandem etwas genommen.
Der Gesetzgeber hat bis zum 31. Dezember 2018 Zeit, entweder eine dritte Eintragungsmöglichkeit von Geschlecht zu schaffen oder aber, wie das BVerfG ebenfalls klarstellt, »auf einen personenstandsrechtlichen Geschlechtseintrag generell [zu] verzichten.« (Rn. 65) Wie auch immer sich der Gesetzgeber entscheiden wird – die Folgen sind für unser soziales Zusammenleben noch nicht abzuschätzen.
Was, wenn sich Gott nicht an die menschliche Ordnung hält?
Geschlecht ist weitaus vielfältiger als man denkt. Doch was bedeuten diese Erkenntnisse für einen Christenmenschen?
Juden und Christen glauben: Gott ist der Schöpfer. Gott hat alles Geschaffene ins Sein gerufen. Kein Mensch wandelt ohne den Schöpferwillen Gottes über diese Erde. Insbesondere die normativ (als Festlegung auf zwei Geschlechter) statt deskriptiv (als Beschreibung zweier Merkmale) verstandene Stelle Gen 1,27 hat das christliche Menschenbild auf verengende Weise geprägt, die den Aussagegehalt dieses Textes weder sachlich noch sprachlich unverkürzt zur Geltung zu bringen vermochte.
Warum aber verstört es uns so sehr, wenn Gott sich, frei nach einem Diktum von Regina Ammicht Quinn, nicht an die von uns Menschen gemachten Ordnungen hält? Menschen, die jenseits oder zwischen den als »männlich« und »weiblich« bezeichneten Geschlechtergruppen stehen und leben, sind keine defizitären Abweichungen von einer als »naturgegeben« oder gar »gottgewollt« angesehenen »Norm« der Zweigeschlechtlichkeit. Sie sind ein Ausdruck der Vielfältigkeit und Vielgestaltigkeit von Gottes Schöpfung.
Intersexualität fordert das theologische Denken und das kirchliche Handeln heraus. Das weite Spektrum menschlicher Wirklichkeit gilt es wertzuschätzen und nach Maßgabe des biblischen Liebesgebotes mit aller verfügbaren Kraft zu schützen.
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Dr. theol. Gerhard Schreiber ist Akademischer Rat am Institut für Theologie und Sozialethik der Technischen Universität Darmstadt.
Bild: pixabay.com
[1] Vgl. www.pschyrembel.de/Intersexualit%C3%A4t/K0B01.
[2] Vgl. www.bverfg.de/e/rs20171010_1bvr201916.html. Zu Hintergrund und Verlauf der Verfassungsbeschwerde vgl. Gerhard Schreiber, „Geschlecht als Leerstelle? Zur Verfassungsbeschwerde 1 BvR 2019/16 gegen die Versagung eines dritten Geschlechtseintrags“, in: Ethik und Gesellschaft, Nr. 1, 2017, Abruf unter: http://www.ethik-und-gesellschaft.de/ojs/index.php/eug/article/view/1-2017-art-7.
[3] Vgl. die Zusammenfassung der Stellungnahmen, 1 BvR 2019/16, Rn. 18-34.
[4] Vgl. www.zdk.de/veroeffentlichungen/reden-und-beitraege/detail/Stellungnahme-zur-Verfassungsbeschwerde-gegen-21-Abs-1-Nr-3-22-Abs-3-PStG-397N.