Texte ausloten, mit den Regeln der exegetischen Handwerkzeuge zu suchen, ob das, was gemeinhin als Textsinn erhoben wurde, tatsächlich die einzige Bedeutung sein könne, das hat mich in meiner Arbeit immer am meisten fasziniert. Enzyklopädisch zu arbeiten und das eh schon Bekannte wieder zusammenzufassen, war nie Meines.
Die Erzeltern Israels
So wurde mir bei meiner ersten Wahlvorlesung Ende der Achtziger Jahre über die Frauen in den Patriarchenerzählungen klar, dass die Engführung der Forschung auf ausschließlich die männlichen Erzählfiguren eine exegetische Klitterung mit massiven theologischen Folgen darstellt. Gerade dieser Teil der Genesis erzählt fast in jedem zweiten Text von starken Frauen, die etwa von Martin Noth allesamt nur als „Staffage“ bezeichnet wurden, während hinter den männlichen Figuren historische Gegebenheiten und Ethnien stecken würden. Diese Vorlesung wurde die Grundlage für meine Habilitation Die Erzeltern Israels und auch für das Buch der Gottesstreiterinnen.
Wenn das feministische Forschung ist, dann brauchen wir sie! (Otto Kaiser)
Texte ausloten führte in diesem Fall zu einer umfassenderen Wahrnehmung der Texte, die androzentrisch enggeführt ausschließlich selektiv wahrgenommen wurden. Otto Kaiser, der in meiner Marburger Zeit frisch emeritiert war, kommentierte die Arbeit mit folgendem Satz: Wenn das feministische Forschung ist, dann brauchen wir sie! und nahm es in die renommierte Reihe der BZAW auf – ohne Druckkostenzuschuss, versteht sich. Diese Arbeit hat es inzwischen quasi zur Ehre der Altäre geschafft: Die Neue Einheitsübersetzung, die offizielle Übersetzung der Katholischen Kirche in deutschsprachigen Ländern, betitelt den Textbereich nicht mehr mit Vätererzählungen, sondern mit Erzeltern.
Genderbias am Offenbarungszelt
Ein zweites Beispiel sei aus meinem Buch Genderfaire Exegese gewählt, das ich 2003 beim Vorsingen für meine Professur in Graz vorgestellt habe. An zwei Stellen im AT, in Ex 38,8 und 1 Sam 2,22 werden Frauen erwähnt, die am Eingang zum Begegnungszelt ihren Dienst versehen. Diese Kurznotiz, die nirgends näher erläutert wird, wurde immer als „dunkle Stelle“ bezeichnet, obwohl der angegebene Dienstort, nämlich der Eingang zum Offenbarungszelt, an anderen Stellen den Dienstort der Hohepriester angibt und das verwendete Verb für einen „Dienst versehen“ häufig für unterschiedliche kultische Ämter am Tempel Verwendung findet.
Die traditionelle Exegese und die Bibelübersetzungen haben mit diesen Kurznotizen ein Zweifaches gemacht: Sie haben einerseits die Frauen vor den Eingang des Zeltes hinausgesetzt – ein klassischer Genderbias, da dies beim Dienst von Männern nie geschehen ist. Andererseits haben sie den ein Amt angebenden Dienst unsichtbar gemacht. Während die neue EÜ Ex 38,8 korrekt übersetzt, lautet die 1 Sam 2,22 immer noch: Frauen „die sich vor dem Eingang des Offenbarungszeltes aufhielten.“ Männer versehen ihren Dienst im Amt, Frauen halten sich bloß zufällig dort auf.
Weil, so schließt er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf! (Christian Morgenstern)
Die Übersetzungsmaxime lautet wohl frei nach Christian Morgenstern „Weil, so schließt er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf!“ Eine der typischen Auslegungen, was denn diese Frauen wohl dort zu suchen gehabt hätten, stammt von Stoebe, der die Frauen zu Putzfrauen macht, die dann freilich auch dort aufräumen müssen, wo Männer ihre wichtigen Dienste versehen.
männlich und weiblich schuf er sie?
Als drittes Beispiel, das vor allem in meinem letzten Buch über Sexualität im Alten Textament, Liebe, Laster, Lust und Leiden ausführlich begründet ist, sei das Verständnis von „männlich und weiblich“ schuf Gott den Menschen in Gen 1,26-28 vorgestellt. Auch ich habe in meinen älteren Publikationen diesen Text als Normativität von heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit ausgelegt. Das scheint mir in Anbetracht des gesamten Aufbaus des Kapitels jedoch nicht mehr angebracht:
Die heutige Geschlechterdebatte ist … nicht einfach durch den lapidaren Satz „Das steht doch in der Bibel!“ aushebelbar.
Die Schöpfungswerke werden polar einander gegenübergestellt – Licht und Finsternis, Tag und Nacht, das Meer und das Trockene usw. – das bedeutet freilich nicht, dass Gott die Dämmerung oder den Strand und die Lagune, das Watt nicht erschaffen hätte, sondern zur Bezeichnung des Ganzen werden nur die äußeren Pole benannt. Gott hat damit nicht nur Männliches und Weibliches erschaffen, sondern alle geschlechtlichen Variationen dazwischen, allerdings sind nur die äußeren Pole fruchtbar und diese erhalten sodann den Mehrungsauftrag.
Die heutige Geschlechterdebatte ist für Genderismusleute also nicht einfach durch den lapidaren Satz „Das steht doch in der Bibel!“ aushebelbar. Ein Ausloten der Texte ermöglicht durchaus ein anderes Verständnis als das traditionell vorherrschende.
Eunuchen?
Als letztes Beispiel sei ein noch unpubliziertes nur kurz im Ergebnis vorgestellt. Es geht um jene Passagen, in denen saris in den meisten Übersetzungen mit „Eunuch“ oder „Verschnittener“ übersetzt wird, wenn damit nicht ein hoher Beamter bezeichnet wird. Mit dieser Übersetzung wird automatisch signalisiert, dass ein betreffender Mann einem kastrativem Eingriff unterzogen wurde. Nach Jes 56,3 werden solche Menschen, wenn sie entsprechend ethisch leben, seliggepriesen und brauchen den Ausschluss aus der Gemeinde nicht zu fürchten. Nach Dtn 23,2 werden Männer mit beschädigten Genitalien jedoch aus der Gemeinde ausgeschlossen.
Allerdings übersetzt die Septuaginta hier nicht mit dem griechischen terminus technicus, die Vulgata jedoch sehr wohl (eunuchus adtritis vel amputatis testiculis Dtn 23,1). Das AT kennt keine Kastration als Voraussetzung für einen hohen Beamtenstatus, wohingegen in der Patristik Kastration, sogar Selbstkastration durchaus denkbar war – Eusebius behauptet dies ja von Origenes.
Wie Christoph Markschies allerdings vor kurzem gezeigt hat ist die Aussage auch nur metaphorisch zu verstehen. Ein Ausloten der parallelen Texte und deren semantische Bezüge, ergibt auch hier eine andere Bedeutung als jene des Kastraten: Viel wahrscheinlicher ist es, dass mit saris und auch mit der Beschreibung in Dtn 23,2 ein Mensch des dritten Geschlechts bezeichnet wurde. Das würde auch einleuchtend erklären, warum in der Seligpreisung von Jes 56,2 nicht „Mann“, steht, sondern vielmehr „Mensch“ und „Menschenkind“, was einer Deutung auf eine nicht in ein binäres Geschlechtersystem einzuordnende Geschlechteridentität entgegenkommt, die übrigens im Judentum – konträr zum Christentum – dem männlichen zugeordnet wird.
Ausblick
Das Ausloten der Texte ist nie zu Ende. Wer Texte immer in derselben Manier auslegt und versteht, und meint, ihren Sinngehalt ein für alle Mal festzulegen und vielleicht gar damit den Glauben rein zu bewahren, der nimmt den biblischen Texten ihre kanonische Dignität. Denn das Prädikat kanonisch bedeutet nichts anderes, als dass diese Texte im Bestand fixiert sind – um es mit den NT zu sagen: kein Jota darf verändert werden – dass aber der Augenblick der Kanonisierung der Beginn einer adaptierenden Kommentierung sein muss, wenn diese Texte für eine gläubige Gemeinschaft durch alle Zeiten bindend sein sollen:
- Der kanonische Text ist starr. Gott sei Dank, denn sonst hätte jede Generation daran herumgeschnipselt und wir hätten nur mehr ein paar Sprüche von der Bibel erhalten.
- Aber die Auslegung der Texte kann nicht fluide genug sein, wenn die Texte zu den Menschen sprechen und nicht nur als historische Texte von Interesse sein sollen.
Es ist also ein Paradox: Gerade jene, die meinen, mit der Unveränderlichkeit des Verständnisses ganz nahe bei einer postulierten überzeitlichen Wahrheit zu sein, berauben die Texte ihrer kanonischen Dignität. Aber jene, die – selbstverständlich in Texttreue und unter Einhaltung exegetischer Standards – die Texte kreativ mit den Fragen der heutigen Zeit konfrontieren und sie nach neuen Bedeutungen auszuloten versuchen, sind eindeutig die besseren Hüter*innen der bleibenden Bedeutung der Heiligen Schriften.
Der kanonische Text ist starr. … Aber die Auslegung der Texte kann nicht fluide genug sein.
Die Bibel und die Frauen
Wenn Frauen und für Genderfragen Offene heute die Bibel kreativ lesen, tun sie aber nichts Neues. Im internationalen Großforschungsprojekt Die Bibel und die Frauen, dessen Design ich mit Adriana Valerio entwickelt und dessen Administration von Graz aus gemanagt habe, arbeiten mehr als 300 Wissenschaftler*innen weltweit an einer Rezeptionsgeschichte mit Gender awareness. Sie zeigen,
- dass Frauen in wesentlich mehr biblischen Texten präsent sind als die sogenannte offizielle Tradition es wahrhaben will,
- Frauen immer die Bibel gegen den androzentrischen Mainstream gelesen und damit ungeahnte Sinnpotentiale ausgelotet haben,
- und dass die zur offiziellen Tradition hochstilisierte Auslegung biblischer Texte häufig durch Auslassung und Verbiegung von Textteilen zustande kam.
Die Bibel und die Frauen wird in vier Sprachen und 21 Bänden publiziert, 16 Bände sind bislang erschienen, für das kommende Halbjahr sind zwei weitere Bände angesagt – ich hoffe sehr, dass die Reihe, die ich als Lebenswerk bezeichnen würde, bis zu meiner endgültigen Pensionierung fertiggestellt sein wird. Auf alle Fälle erfüllt sie aber bereits jetzt ihre Funktion, indem sie aufzeigt, dass die in der Katholischen Kirche behauptete geschlossene Tradition in Bezug auf den Ausschluss von Frauen aus der Lehre und der Textauslegung sowie aus allen letztverantwortlichen Positionen nicht existiert, sondern als Geschichtsklitterung zu demaskieren ist.
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Irmtraud Fischer, Univ. Prof. Dr.theol. Dr.phil. h.c., wurde 2022 als Professorin für alttestamentliche Bibelwissenschaft pensioniert und arbeitet seitdem am Institut für Antike für das internationale Graduiertenkolleg „Resonante Weltbeziehungen“.
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