Die Kolumne für die kommenden Tage 38
Irgendwie komisch – als mein Mann und ich uns letzten Oktober während unseres Venedig-Urlaubs auf der Biennale zwei T-Shirts mit dem Biennale-Motto „May You Live in Interesting Times“ gekauft haben, war uns nicht klar, wie f……. interesting diese Zeiten werden würden. Jetzt leben wir seit drei Wochen mit meinem Bruder und meiner 21-jährigen Tochter in einer unverhofft unfreiwilligen Corona-Quarantäne-WG. „That’s life“ oder „Shit happens“ könnte man denken, aber ich halte mich da an unsere Bundeskanzlerin „Wir schaffen das“. So ein WG-Leben ist ja nun auch wirklich nichts Schlimmes. Ich denke, wir machen das Beste aus unserer Situation: Wir können zum Beispiel jetzt alle Zoomen! Wir haben viel Spaß bei den Würfelspielen „Ganz schön clever“ und „Doppelt so clever“, auch wenn mein Bruder jedes Mal verzweifelt, wenn die WG-Ältesten von einem auf den anderen Tag die Hälfte der Regeln vergessen haben. Es findet sich dann doch immer jemand, der die Spülmaschine ausräumt, und wir werden meinen Mann für das Bundesverdienstkreuz vorschlagen, weil er die ganze Wäsche bügelt, was sonst keiner so richtig gern macht. Wir haben unsere eigene Osternacht gefeiert, mit Osterfeuer im Grill, einem schön gesungenen Exsultet am Flügel begleitet, Wein von unserem Winzerbruder und Hostien, die uns der Pfarrer vorbei gebracht hatte. Nie zuvor habe ich intensiver den Satz erlebt, „Wo Zwei oder Vier in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“
Ein Quarantäne-Erlebnis, sind auch die Netflix-Serien, die ich dank meiner Mitbewohner kennengelernt habe. „Sex Education“ zum Beispiel hätte ich sicher nie entdeckt und angeschaut. Nicht weil ich der Meinung bin, diesbezüglich nicht mehr dazulernen zu können, aber ohne die dringende Empfehlung meines Bruders und meiner Tochter hätte ich dahinter eher die 21. Jahrhundert-Version von Schulmädchen-Report vermutet. Dem war keinesfalls so und so warte nun auch ich – wie viele andere – auf die dritte Staffel.
Gestern haben wir eine Miniserie mit dem Titel „Unorthodox“ geschaut. Großartig. Meine Tochter hat mir erzählt, dass das Drehbuch auf dem gleichnamigen Autobiografie der Amerikanerin Deborah Feldman beruht, die darin ihr Leben in und dann ihr neues Leben außerhalb der ultraorthodoxen Gemeinschaft der Satmarer Juden im New Yorker Stadtteil Williamsburg beschreibt. Es wird wieder einmal tragisch klar, dass eine Religion, Kirche oder Glaubensgemeinschaft, die die Freiheit und Würde des Einzelnen und seiner Beziehung zu Gott nicht achtet, zerstörerisch ist. Wenn Gottes Liebe verloren geht, die Barmherzigkeit im regulatorischen Absolutismus untergeht und die Angst die Hoffnung erdrückt, dann bleibt nur eine verzweifelte Seele. In dieser Situation beschließt die Hauptdarstellerin der Serie, Esther genannt Etsy – wunderbar gespielt von der israelischen Nachwuchsschauspielerin Shira Haas – ihren Mann und ihre Gemeinschaft zu verlassen und einen Neuanfang ausgerechnet in Deutschland, in Berlin zu wagen. „I have to find my own path“ erklärt Etsy ihren neuen Freunden ihre Entscheidung. Sehr beeindruckend und sehenswert. Bloß blöde, dass ich bei dieser Serie auch auf die nächste Staffel warten muss…
Nur noch vier Tage, dann ist unsere WG-Zeit vorbei, dann geht wieder jeder seinen eigenen Pfad. Gut so, aber auch schade.
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Autorin und Bildrechte: Judith Weingart, Bamberg, zwei Kinder, Dipl. Politologin und Kommunikationsmanagerin