Gemeindereferentin Helena Rimmele und Pfarrer Herbert Rochlitz haben John D. Caputos Buch „The Folly of God“ im englischen Original gelesen, waren elektrisiert und fasziniert. Hier erzählen sie von ihrem verrückten Übersetzungsprojekt.
Am Anfang stand die Entdeckung eines Buches. Die Lektüre von „The Folly of God“ des amerikanischen Philosophen und Theologen John D. Caputo erschüttert.[1] Sehr schnell ist man hineingezogen in eine tiefgründige, kluge und ehrliche „radikale Theologie“, ist fasziniert, berührt und spürt: Das meint mich, mein Denken von Gott, meine Spiritualität. Und zugleich lässt es einen immer wieder herzlich lachen angesichts einer pointierten und humorvollen Sprache und wirklich origineller Gedanken. Das Buch ist anschlussfähig auch für Menschen, die der konfessionell gebundenen Religion den Rücken kehren, die zweifeln oder sich als Atheisten bezeichnen. Begeistert haben wir Freunden von diesem Fundstück erzählt und so entstand der verrückte Plan, dieses Buch zunächst einmal für sie ins Deutsche zu übersetzen, ermutigt durch den entstandenen Corona-Freiraum der weniger werdenden Abendtermine.
Übersetzung von „pastoralen Graswurzelarbeiter:innen“
Diese Übersetzung hat uns als „pastorale Graswurzelarbeiter“ in einen bewegenden Prozess hineingenommen. Wir fanden eigene Überzeugungen darin in neue Worte gefasst und spürten zugleich, wie diese radikale Theologie uns in unserer eigenen Religiosität und in unserer pastoralen Praxis herausfordert und auf den Prüfstand stellt.
Caputo kennt die großen europäischen Philosophen und knüpft an ihre Ansätze an, liest Hegel, Tillich, Derrida und Heidegger in der Originalsprache (betont aber, dass er zwar Heideggers Bücher auf Deutsch lesen kann, an der Gebrauchsanleitung einer Waschmaschine jedoch scheitert). Er konfrontiert die Leser:innen mit der Frage nach Gott und Religion, nimmt sie mit auf eine Reise durch die abendländische Philosophiegeschichte und lädt dann dazu ein, noch einen Schritt weiterzugehen, neu und mutig zu denken. Er hat mit diesem 2016 erschienen Buch unserer Meinung nach den Nerv der Zeit getroffen, es spricht hinein in eine Zeit der Krise der Gesellschaften und der Kirche, in den USA und in Europa.
Gott ist kein höchstes Wesen – er existiert nicht, er insistiert!
Gott ist kein höchstes Wesen – er existiert nicht, er insistiert! Dieser herausfordernde Gedanke prägt Caputos Ansatz. Das theistische Bild des „höchsten Wesens“, entstanden in Zeiten von Lehenswesen und Feudalismus, spiegelt sich bis heute wieder in der wie es Caputo ausdrückt „hohen Theologie“ und in klerikalen kirchlichen Machtstrukturen. Fasziniert hat uns auch Caputos Gedanke, dass Dogmen, Rituale und institutionelle Strukturen „gemacht nicht vorgefunden“ (made not found), d.h. historisch so geworden und konstruiert und deshalb dekonstruierbar (Tillich) sind. Das nicht Dekonstruierbare oder das Unbedingte liegt darunter oder jenseits davon. Es ist nicht dingfest oder greifbar zu machen, sondern fordert uns heraus als Ruf, als Ereignis, als die Möglichkeit des Unmöglichen.
Wir können in der Kürze nicht annähernd die faszinierenden Gedanken Caputos wiedergeben. Wir können Sie nur ein wenig teilhaben lassen an unserer Begeisterung – und Ihnen wärmstens empfehlen das Buch als Ganzes zu studieren, sich hineinnehmen zu lassen in seine Suche nach dem Göttlichen, dem nicht Dekonstruierbaren, und seine scharfsinnigen Urteile z.B. über die konfessionell gebundene Religion und seine poetischen Sprachbilder kennenzulernen.
Sich hineinnehmen lassen in seine Suche nach dem Göttlichen, dem nicht Dekonstruierbaren
Es war für uns, die wir ja keine Übersetzungsprofis, sondern einfach zwei sprach- und theologiebegeisterte Menschen sind, eine spannende Herausforderung, die originelle Sprachmischung Caputos zwischen elaborierter philosophischer Fachsprache, umgangssprachlichen Redewendungen, Wortspielen und witzigen Pointen passend ins Deutsche zu übersetzen. Wie übersetzt man z.B.: „Paul has apocalyptic power up his apostolic sleeve”? Wir haben uns für die Übersetzung „Paulus hat apokalyptische Macht als Ass in seinem apostolischen Ärmel“[2] entschieden – und freuen uns hier und an anderen Stellen diebisch, wenn uns eine zu Caputos sprachlicher Spritzigkeit passende Übersetzung gelungen ist. Eine besondere Herausforderung sind die Zitate von deutschen Philosophen oder Theologen. Ein von Caputo übersetztes Zitat von Heidegger galt es im deutschen Original zu finden und den ursprünglichen Text dann einzufügen. Dabei stellten wir erstaunt fest, dass die englische Übertragung von Caputo fast besser verständlich ist als das Originalzitat.
Nicht die „neuen Atheisten“ sind die schlimmste Bedrohung Gottes und der Religion, sondern die neue Rechte.
Durch die Übersetzung kamen wir auch in einen sehr intensiven und inspirierenden Austausch mit Professor Caputo selbst. Von Anfang an war er sehr begeistert von unserem Projekt und hat es mit großer Freude unterstützt. Neben zahlreichen Mailkontakten war der Höhepunkt eine über zweistündige Videokonferenz, bei der Caputo mit sehr viel Leidenschaft und Humor erzählte und uns erfahren ließ, wie sehr sein theologisch-philosophischer Ansatz in seinem Leben verwurzelt ist. So erzählte er mit einem Augenzwinkern folgende Geschichte: „Eines Tages kam mein Sohn nach Hause und sagte zu mir: Papa, ich bin jetzt Atheist. Ich gab ihm zwei Antworten: Erstens: Bitte erzähl es nicht deiner Oma. Und zweitens: Komm mir bitte nicht nach Hause und erzähl mir, dass du jetzt die Republikaner wählst! “ Die sehr ernste Botschaft hinter dieser humorvollen Episode: Nicht die „neuen Atheisten“ sind die schlimmste Bedrohung Gottes und der Religion, sondern die neue Rechte, die Gottes Namen zur Durchsetzung von Nationalismus, weißer Vorherrschaft und Patriarchat missbraucht.
Darf man so denken und so radikal die Traditionen und die Lehre der Kirche in Frage stellen?
Wir hatten selbst nicht erwartet, dass aus unserem „privaten“ Übersetzungsprojekt ein offiziell im Grünewald-Verlag erscheinendes Buch entstehen würde. Aber das hohe Interesse Professor Caputos an einer deutschen Übersetzung und das Engagement von Frau Dr. Bundschuh-Schramm, die den Kontakt zu Prof. Dr. Schüßler und zum Verlag herstellte, führten schließlich dazu, dass dieses Buch nun einer breiteren Leserschaft auf Deutsch zur Verfügung steht, was uns sehr freut.
Parallel dazu haben wir unsere Übersetzung sowohl in der Kirchengemeinde als auch in der Aus- und Weiterbildung für angehende Seelsorgerinnen und Seelsorger vorgestellt und damit gearbeitet. Es war spannend, die unterschiedlichen Reaktionen zu erleben. Die Mehrheit reagierte positiv und fast euphorisch. „Ich bin ja doch nicht allein mit meinen ketzerischen Gedanken“, war die Reaktion einer jungen Frau. Ältere Menschen erzählten davon, wie ihnen nicht erlaubt war, Zweifel zu äußern und wie sie ihr Unbehagen und ihre inneren Widersprüche ängstlich weggedrückt hatten. In einer Gruppe versuchten wir miteinander, das Gloria ins Heute und ins Eigene zu übersetzen. Das entstandene „Lied“ mit den Beiträgen der einzelnen war beeindruckend, ein Gänsehautmoment. Manche reagierten aber auch verunsichert oder sogar aggressiv: Darf man so denken und so radikal die Traditionen und die Lehre der Kirche in Frage stellen? Ist dieser Gott überhaupt noch ein Du, zu dem man beten, dem man sein Leben anvertrauen kann? Herausfordernde Fragen auch für uns, intensive Gespräche ergaben sich im Nachklang der Veranstaltungen.
Ja, wir sind noch lange nicht fertig mit Caputo und den Folgen: Wir bleiben dran.
Nicht zuletzt bleibt Caputos Buch auch für uns selbst Herausforderung im teilweise kontroversen Ringen um das richtige Verständnis von Caputos radikaler Theologie und um die ganz konkreten Folgen für unsere pastorale Arbeit. Wir diskutierten leidenschaftlich über Rituale wie den Wettersegen, über Messintentionen oder das Verständnis der Eucharistie. Was kann man noch als „Theopoesie“, wie es Caputo ausdrückt, verstehen, wo genügt eine behutsame Anpassung, die die Kraft von religiöser Sprache und Ritualen und die Bedürfnisse der Menschen schützt – und wo sind diese „katholischen Erbstücke“ eben doch nur Ausweise priesterlicher Macht, die religionspädagogisch nicht mehr verantwortbar und deshalb zu „entsorgen“ sind?
Ja, wir sind noch lange nicht fertig mit Caputo und den Folgen. Wir bleiben dran.
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Text: Helena Rimmele ist Religionspädagogin und Gemeindereferentin in der katholischen Kirchengemeinde Emmendingen-Teningen. Herbert Rochlitz ist dort Pfarrer.
Bild: Grünewald-Verlag
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[1] John D. Caputo, The Folly of God. A Theology of the Unconditional, Salem: Polebridge Press 2016. Die deutsche Übersetzung erscheint in diesen Tagen: John D. Caputo, Die Torheit Gottes. Eine radikale Theologie des Unbedingten, Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern 2022.
[2] Ebd. S. 82