Wer in Österreich alternatives Schuhwerk mag, trägt Waldviertler Schuhe. Diese gibt es nun schon seit genau 40 Jahren. Karl A. Immervoll, studierter Theologe und gelernter Schuhmacher, erzählt ein spannendes Stück Geschichte der Sozialpastoral.
Der Beginn war ein Zufall, so wie Ereignisse eben zusammen fallen. Sommer 1982: Der Bürgermeister von Heidenreichstein hält eine Rede zu 50 Jahre Stadterhebung. Er spricht über Krisenjahre, über Betriebsschließungen, über Arbeitslosigkeit. Neben mir sitzt der Redakteur einer Lokalzeitung und flüstert mir zu: „Willst du nicht eine Werkstätte für Jugendliche initiieren?“ In meinem Ohr war ein Floh, der nicht mehr still wurde und ich begann Gespräche mit möglichen Fördergebern. Der Gedanke wurde so laut – ich war zu dieser Zeit Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Katholischer Jugend Österreichs und damit in den Vorbereitungen des Katholikentages und Papstbesuchs 1983 involviert –, dass bei einer Vorbereitungstagung der Finanzreferent auf mich zu kam und sagte: „Wir haben gehört, ihr wollt ein Projekt gegen Arbeitslosigkeit machen. Wieviel Geld braucht ihr? Eine Million, zwei?“ Ich war in Panik, so viel Geld – Schillinge natürlich. Was, wenn das schief geht?! „Das Risiko gehen wir ein, wir wollen ein Zeichen setzen und ein Drittel der Kollekte der Papstmesse dafür geben.“ So geschah es auch.
Gut, ich mache für dich Schuhe
In der Zwischenzeit lief mir ein kleiner Schuhhändler namens Heini Staudinger (der Chef der von ihm später gegründeten GEA-Kette, welche unsere Schremser Schuhwerkstatt 1994 übernahm) über den Weg. Er hatte einen Laden in Wien und beklagte die schlechte Sohlenqualität der von ihm importierten Earth-Shoes. Er war auf der Suche nach einer österreichischen Produktion. Ich war Betriebsseelsorger und unterrichtete damals Religion in der Berufsschule für Schuhmacher in Schrems, dachte also, dass ich dort das dafür nötige Knowhow bekomme und sagte zu ihm: „Gut, ich mache für dich Schuhe!“
Die nun entstehende Fertigung war nicht der erste Selbstverwaltungsbetrieb im Waldviertel. Bisher allerdings waren es Betriebe, deren Vorgängerfirma in Konkurs ging und wo Beschäftigte die Produktion weiterführten. Nun war die Frage: Können Leute, die noch nie zusammengearbeitet haben und für die auch das Produkt neu ist, das auch schaffen? Es waren neun Mitarbeiter:innen, die nach einigen Wochen Vorbereitungszeit am 2. Mai 1984 begannen, Schuhe mit „Minusabsatz“ zu produzieren. Außer mir und einem externen Fachmann waren alle „langzeitarbeitslos“, darunter ein Jugendlicher als Lehrling und zwei Mitarbeiter mit Behinderung, einer davon körperlich, der zweite geistig. Es war ein Sozialprojekt, das vor allem der aktiven Arbeitsmarktpolitik des damaligen Sozialministers Alfred Dallinger zu verdanken war. „Auch wenn von zehn Versuchen neun schief gehen, dann wäre der eine nicht entstanden.“ Das war seine Philosophie.
Betrieb, Sozialprojekt, Experimentierraum
Es war ein gewagtes Experiment, das war allen Fördergebern und auch uns klar. Von Beginn an wurden wir von Handelskammer und Wirtschaft bekämpft, weil Arbeiter:innen, die ein Unternehmen gründen, eine Provokation darstellten. Man gab uns keine zwei Jahre bis zur Pleite. Wir hatten Schwierigkeiten, Material zu bekommen, mussten bei Lieferanten darum betteln. Eigentlich waren wir von Beginn an unterfinanziert. Heini Staudinger kaufte nicht die vereinbarte Menge an Schuhen. So suchten wir uns andere Absatzmärkte: Das Katholische Jugendwerk in der Wiener Johannesgasse war ein Verteilerzentrum. Wenn irgendwo in Österreich eine Veranstaltung von KAJ, Studierender- oder Landjugend war, hatte jemand Schuhe im Kofferraum dabei. Auch das Seminar für kirchliche Berufe in Wien und die Sozialakademie in St. Pölten waren Verkaufsstellen.
Engagierte Jugendliche sorgten für unseren Absatz. Und aus ganz Österreich bekamen wir immer wieder Besucher, die schauten, was wir da so tun. 1988 erhielt die Schuhwerkstatt sogar den Papst-Leo-Preis für Verdienste im Sinne der katholischen Soziallehre in der Praxis, nämlich: gleicher Lohn für Frauen und Männer sowie Angestellte und Arbeiter:innen, Mitbestimmung, Betriebsrat, Integration von Menschen mit Behinderung, Beschäftigung Strafentlassener, nachhaltiges und gesundes Produkt u.a. Die Schuhwerkstatt war Betrieb, Sozialprojekt und Experimentierraum.
Fast zehn Jahre hielten wir durch
Die Selbstverwaltung war aus heutiger Sicht unter den damaligen Verhältnissen eine Überforderung. Wir waren einerseits genötigt, Vollzeit zu produzieren, um den Preis zu halten, andererseits mussten wir alles lernen und auch entscheiden: Ein- und Verkauf, Planung, Buchhaltung, Erstellen und Lesen von Kennzahlen, … und das in der Freizeit. Dazu kamen wirtschaftliche Schwierigkeiten. So kam es zur Entscheidung für eine Übernahme durch Heini Staudinger. Aber wider aller Prognosen hielten wir fast 10 Jahre durch, in einem Zeitraum, in dem andere – große – Schuhfabriken in Österreich schließen mussten.
Von Anfang an arbeitete ich immer wieder mit, vor allem in der Produktion. Schuhe wurden zu meiner Leidenschaft. Sind sie doch jenes Kleidungsstück, das seine Form behält, wenn Menschen es ausziehen. Und sie tragen unseren Körper, beeinflussen Haltung und Gesundheit. Eines Tages fragte ich meinen Schuhmacherkollegen in der Berufsschule, ob er mir das theoretische Wissen beibringen könnte, damit ich auch die Lehrabschlussprüfung ablegen kann. Seine Gegenfrage: Was ich denn kann? Und ich gab zur Antwort, dass ich jeden Arbeitsschritt im Produktionsablauf der Schuhwerkstatt beherrsche. Er lachte mich aus und meinte: „Damit hast du noch keine Ahnung vom Schuhemachen.“
Die Philosoph:innen unter den Handwerker:innen
Also lernte ich bei ihm das Handwerk neu, nämlich Schuhe per Hand herzustellen und die Philosophie dazu. Denn Schuhmacher gelten als die Philosoph:innen unter den Handwerker:innen. War doch Hans Sachs einer der produktivsten deutschen Schriftsteller! Stunden-, tage-, ja nächtelang war ich mit meinem Meister – einem sehr gebildeten Mann – in seiner Werkstatt ins Gespräch vertieft. Während wir mit unseren Händen Schuhe formten, veränderten wir im Disput die Welt. Und ich weiß nicht, was anstrengender war: die Tätigkeit unserer Hände oder die Fragen, die wir wälzten. In jedem Fall waren wir kreativ. Denn es geht nicht ja einfach darum, irgendwelche Schuhe herzustellen, die vielleicht irgendjemand anziehen möchte.
Das ist keine Begegnung zwischen Unbekannten! Vor allem nicht, wenn Schuhe handwerklich geschaffen werden. Da ist zuerst der Wunsch einer Person, die neue Schuhe haben will. Welcher Art, wofür, … Und damit die Auseinandersetzung des Schuhmachers mit den Ansprüchen und dem Menschen ihm gegenüber. Dann geht der Weg ins Lager. Allein schon der Geruch wirkt und beflügelt die Fantasie. Das Leder wird ausgesucht, dann noch die anderen Materialien und es kann losgehen. Jeder Arbeitsschritt wird bewusst gemacht, so lange, bis der Schuh fertig ist. Dann bleibt er noch stehen, wird betrachtet. Das Werk ist getan. Das gehört für mich zum Handwerk dazu. … zu sehen, dass es gut ist… (vgl. Genesis).
Während meiner Lehre hat mir mein Meister zwar Respekt gezollt für die Qualität meiner Arbeit, hat aber auch dazu gesagt, er hoffe, dass ich davon nie leben muss! Am Fließband habe ich es anders kennen gelernt. Da gab es nicht die Zeit für Details. Die Handgriffe waren eingeübt und es gab nur richtig oder falsch – und möglichst schnell.
Menschen mit Namen
Aber es sind eben nicht irgendwelche Schuhe. Sie sind ein Einzelpaar! Für eine bestimmte Person. Was für ein Unterschied zu in Serie produzierten Schuhen. Wer hat sie gemacht? Meist wissen wir nicht einmal, woher sie kommen, schon gar nicht, unter welchen Bedingungen sie hergestellt wurden. Wie denken Menschen, die so produzieren, über Arbeit nach? Es sind die Produkte von „Namenlosen“, ohne Gesichter, ohne die Geschichte der Menschen, die dahinter stehen. In der Ostererzählung des Johannes (20,16) erkennt Maria von Magdala den Auferweckten erst, als er sie beim Namen nennt: Maria! Erst die Namensnennung bringt die entscheidende Wende, gleichsam eine Rückkehr ins Leben.
Wie wichtig doch die kleinen Geschichten sind!
Karl Immervoll ist Theologe, Schuhmacher und Bundesseelsorger der Katholischen Arbeitnehmer*innenbewegung Österreichs.