Die Missbrauchskrise stellt Anfragen auch an die Theologie. Und Theologinnen und Theologen stellen sich der Thematik. Der Leiter Kirchlichen Arbeitsstelle für Männerseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz, Andreas Heek, bespricht das Buch von Remenyi / Schärtl (Hg.), Nicht ausweichen.
Homosexuelle Menschen leiden psychisch am IH-„Virus“. Hinter der Abkürzung IH verbirgt sich die wissenschaftlich breit erforschte „internalisierte Homophobie“, jene psychische Deformation im Selbstgefühl, unter der viele – der Autor des entsprechenden Beitrags, Ruben Schneider, sagt alle – LSBTIQ-Menschen leiden, besonders aber religiöse Menschen, die zu diesen Personengruppen gehören, eben weil die katholische Kirche gelebte Homosexualität entschieden ablehnt. Daran zu erinnern hat der vorliegende Band selbigem Ruben Schneider zu verdanken, der aus sehr persönlichen Gründen und aus seiner wissenschaftlichen Forschung als Religionsphilosoph einen instruktiven Aufsatz zu dieser Thematik beisteuert.
Internalisierte und externalisierte Homophobie
Diese internalisierte Homophobie ist dann oft – und dies ist für die katholische Kirche dramatisch – die Grundlage für externalisierte Homophobie, die sich nicht nur in Äußerungen von Priestern, Bischöfen und Kardinälen wiederfindet, sondern auch in lehramtlichen Stellungnahmen, z.B. im Katechismus der Katholischen Kirche. Wenn stimmt, was Wunibald Müller in seinem Beitrag schreibt, dass 30 Prozent des Klerus homophil sind, ist auch hier die Verbreitung einer tief liegenden Selbstablehnung aufgrund homophilen Begehrens mehr als eine Vermutung.
Nicht die homosexuelle Neigung an sich ist Ursache für sexuellen Missbrauch. Dies konstatieren auch hier wieder drei der Autoren der MHG-Studie. Immerhin betreffen 36 Prozent der in der MHG-Studie festgestellten Missbrauchsfälle Mädchen. Das missbräuchlich gelenkte Begehren ist vor allem zurückzuführen auf die Verleugnung von sexuellem Begehren an sich und Beziehungswünschen, die dieses ausdrückt. Wenn dann ein starkes Machtgefälle zwischen „dem Priester“ und „dem Laien“ besteht (Kinder und Erwachsenen), das keinen Widerspruch duldet, ist denen, die mit sich nicht im Reinen sind, Tür und Tor geöffnet zu den schrecklichen Taten, die sich ein normal gläubiger Christ gar nicht vorstellen kann.
Gibt es nicht auch eine Mitschuld der Theologie?
Buch: Remenyi, Matthias, Schärtl, Thomas (Hg.), Nicht ausweichen. Theologie angesichts der Missbrauchskrise, Regensburg (Pustet), 2019.
Und die Theologie selbst? Ist sie nicht mitschuldig geworden, weil sie jahrzehntelang geschwiegen hat zu den theologischen Fehlschlüssen, die besonders in der Amtsfrage besonders im vergangenen Jahrhundert immer radikaler wurden? Ja, bekennen viele Autorinnen und Autoren des Buches. Erst jetzt, wo die Krise himmelschreiend ist und klar wird, dass es so nicht weitergeht, trauen sie sich, die Widersprüche, besonders aber die unnötige Sakralisierung des Priesteramtes, zu problematisieren.
Aber, so muss trotz geleisteter Selbstkritik zu ihrer Verteidigung gesagt werden: der Machtmissbrauch hatte in den vergangenen Jahrzehnten auch die Theologie fest im Griff. Lehramtswächter in Rom achteten in der Vergangenheit penibel darauf, dass Theologinnen und Theologen mehr oder weniger nur paraphrasierten, was das Lehramt vorgab. Wenn Professorinnen und Professoren sich jedoch – was kirchlicherseits schon als unanständig und rebellisch empfunden wurde – auf die Standards wissenschaftlichen Arbeitens beriefen, wurde ihnen entgegengehalten, Theologie könne „authentisch“ letztlich nur vom Papst und in der Folge durch Bischöfe und Priester betrieben werden, die qua Weihe nicht an diese Standards gebunden seien.
Überlebende und Opfer mit eindrücklichen Selbstzeugnissen
Die Überlebenden und Opfer (Hildegund Keul fordert zu Recht in ihrem Beitrag über Vulneraliblität und Vulneranz, auch diejenigen mitzubedenken, die den sexuellen Missbrauch nicht überlebt haben, z.B. weil sie Suizid begangen haben) haben im Buch mit eindrücklichen Selbstzeugnissen zunächst das Wort. Der weitere Beitrag des Bandes zur theologischen Reflexion besonders zur unmenschlichen Überhöhung des Weihecharakters des Priesteramtes (vgl. auch „Unheilige Theologie“, vgl. https://kath-maennerarbeit.de/striet-werden-hg-unheilige-theologie/) macht aber deutlich, dass es nicht damit getan ist, Täter zu überführen und zu bestrafen und Präventionsmaßnahmen zu installieren. Es ist eben kein „Missbrauch des Missbrauchs“, wie manchmal zu hören ist, wenn die Autorinnen und Autoren des Buches eine Revision der Ämterfrage fordern. Das Nachdenken über das lehramtliche Selbstverständnis ist längst überfällig. Der Offenheit der Missbrauchsopfer ist es zu verdanken, dass dies nun wieder auf der Tagesordnung ist (Eugen Drewermann hat dies 1990 schon einmal getan).
Gewaltenteilung würde befreien
Natürlich würde beispielsweise Gewaltenteilung zwar zu einem Teil-Machtverlust der Bischöfe und Priester führen. Aber sie würde sie auch befreien. Befreien von der ungeheuren Last, mit dem Weiheakt eine Art Übermensch sein zu müssen, dessen Anspruch den einzelnen Menschen schier überfordern kann. Die Würde des Menschen, so konstatiert denn auch Erwin Dirscherl schlicht, sei nicht steigerbar durch eine Überhöhung durch eine Weihe. Der Anspruch, dieser Würde auch im Umgang miteinander gerecht zu werden, sei schon hoch genug (wie die Missbrauchsfälle traurigerweise bezeugen), als dass es einer Art Sonderschaltstelle zu Gott bedürfe. Eine Kirchenverfassung, die aufs Engste mit dem Anspruch einer Übermenschlichkeit seiner geweihten Mitarbeiter verbunden ist, droht, wenn diese an diesem Anspruch scheitern, insgesamt selbst das Scheitern.
Hoffnung macht das Buch u.a. dadurch, dass Priester selbst (die Jesuiten Godehard Brüntrup und Hans Zollner, Wolfgang Beinert und der Generalvikar des Bistums Essen Klaus Pfeffer) durch ihre Aufsätze zeigen, wie die Fallstricke, in die Priester durch ihre Weihe verwickelt sind, aufgelöst werden können.
Wieder einmal ein wichtiges Buch und ein nötiges Buch, das neben vielen offenen Fragen vor allem aber zeigt, dass Theologie und Kirche aus der Missbrauchskatastrophe lernen können. Jetzt braucht es „nur“ noch den Mut zum Handeln. Der nun beginnende „Synodale Weg“ bietet eine weitere Chance dazu.
Autor: Dr. Andreas Heek, Leiter der Kirchlichen Arbeitsstelle für Männerseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz und Sprecher der „Arbeitsgemeinschaft LSBTIQ-Seelsorge in den deutschen Diözesen“
Beitragsbild: Buchcover