GOTT hat Konjunktur im gegenwärtigen Rückgriff auf den Wertekanon des „christlichen Abendlands“. Ist damit auch die wissenschaftliche Theologie im Aufwind? Wie steht es um die Theologie und wie um GOTT, ihrem Zentrum? Eine Annäherung mit Eberhard Jüngel. Von Birgit Hoyer.
Pervertiert sich Theologie in den Komfortzonen von Universität und Kirche?
Wo ist die Theologie? Was ist Theologie? Wo wird Theologie praktisch? Das ist keine Pastoraltheologie. Dieser Satz wurde mir kürzlich bei einem Vortrag über die „Liebe Gott“ entgegengeschleudert. „Und wo war dieser Gott bei den Anschlägen in Paris?“ „Wir brauchen wieder Recht und Ordnung in Deutschland.“ „Was nutzt da eine Theologie, so ein soziales Gerede von Liebe.“ Das waren die Vorwürfe.
Ist Theologie, die Theologie, eine Theologie nicht in Ordnung? Soll Theologie in Ordnung sein? Soll Theologie ordnen? Wer ist die Theologie, dass sie ordnen könnte? Das Chaos ordnen, ohne es durch Ordnung zu ersetzen? Was fehlt der Theologie? Wem fehlt etwas? Wer erwartet etwas von der Theologie? Wer hegt Unbehagen? Hat die Theologie eine Pflicht zur Unbehaglichkeit? Gilt es nicht geradezu, Unbehagen zu kultivieren mit Theologie? Pervertiert sich Theologie in den Komfortzonen von Universität und Kirche? Fehlt der Welt etwa gar nichts, wenn die Theologie fehlt?
Mir behagt eine Theologie nicht, die behaglich ist. Mir fehlt etwas in der Theologie, wenn sie sich nicht dem Leben hingibt, wenn sie eine Kirche, gar ganze Gesellschaften in den angeblich klaren Ordnungen von gut und böse, Moral und Unmoral bestärkt. Mir fehlt eine Theologie, die sich mit all ihrer wissenschaftlichen Leidenschaft gegen Reglementierungen und Ausschlüsse wirft, die Menschen vom Leben abhalten.
Mir fehlt das breite Bewusstsein der eigenen Freiheit in vielen Theologien und der Aufschrei, wenn Kirche, Staat, Politik Menschen nicht in Freiheit lässt, ihre Freiheit schützt und fördert. Mich als Theologin beschleicht Unbehagen, dass die Theologie die Würde der Menschen, des kranken, flüchtenden, modernen, alten, verwirrten, jungen, glücklichen Menschen nicht thematisiert und verteidigt.
Fehlt der Kirche Theologie und umgekehrt? Theologie gehört zum Selbstvollzug der christlichen Kirche. „Theologie ist also zuerst und vor allem ein elementarer Lebensakt der christlichen Kirche und partizipiert als solcher an ihrer Katholizität“, schreibt Eberhard Jüngel in seinen Bemerkungen zur Katholizität evangelischer Theologie (Jüngel, Katholizität, 17). Der Kirche mangelt es an Leben, wenn die Theologie fehlt, wenn in der Theologie etwas fehlt, gar das Leben fehlt, die Katholizität, weil sie auf ein konfessionell enggeführtes „Katholisch-Sein“ reduziert wird.
Das Kriterium für die Katholizität der Kirche ist für Eberhard Jüngel die Apostolizität der Kirche: ihre Verpflichtung auf die mit der Person Jesu Christi identische und bezeugte Wahrheit des Evangeliums. „Doch die Wahrheit des Evangeliums will nicht nur kirchlich verkündigt, sie will erkannt, begriffen und denkend verantwortet werden. […] Die Katholizität der Kirche aber verdankt sich der Katholizität der Wahrheit des Evangeliums. […] wenn in der Sprache der Wissenschaft nicht wenigstens ein fernes Echo der verkündigenden, bekennenden, lobpreisenden und – ja, auch singenden Sprache des Glaubens zu vernehmen ist, dann droht die Theologie einem Narzissmus zum Opfer zu fallen.“ (Jüngel, Katholizität, 17)
Was in Theologie und Kirche fehlt, ist das ganze Leben, die Katholizität des Lebens und damit auch des Glaubens, eine Theologie weit in die Rat-, Ausweg-, Sinnlosigkeiten des Lebens hinein.
Was in Theologie und Kirche fehlt, ist das ganze Leben, die Katholizität des Lebens und damit auch des Glaubens, eine Theologie weit in die Rat-, Ausweg-, Sinnlosigkeiten des Lebens hinein. Katholische Kirche und Theologie als ihr elementarer Lebensakt zimmern sich dagegen ihre Lebenswelten selbst, schnitzen sich ihre Gläubigen, haben sehr viel damit zu tun, Zugehörigkeiten und Ausschlüsse zu regeln, um angebliche Wahrheiten oder angeblich Wahrheiten zu schützen, ohne zu merken, dass sie sich in der Selbstbespiegelung verlieren, an der Wahrheit des Evangeliums vorbeischauen, an den Lebensrealitäten und -fragen, -versuchen und -antworten der Menschen und damit an Gott.
„Die Wahrheit des Evangeliums unterscheidet sich von allen anderen Wahrheiten dieser Welt sehr penetrant dadurch, dass sie die Wahrheit des Wortes vom Kreuz ist. Und das Kreuz stört. Das Kreuz weist in einer die Weisheit dieser Welt irritierenden Weise darauf hin, dass nichts in unserer Wirklichkeit die Welt im innersten zusammenhält – auch der höchste Gedanke, auch die tiefste Einsicht nicht.“ (Jüngel, Katholizität, 18)
Ist sich Theologie ihrer Bedeutung für Welt und Wissenschaft bewusst? Weiß sie darum, elementarer Lebensakt der Kirche zu sein? Weicht sie mit der Kirche der Wahrheit des Kreuzes aus? Macht sie sich zum weichspülenden Erfüllungsgehilfen und traut sich das Widerstehen im Angesicht anderer Wissenschaft nicht zu? Mit Eberhard Jüngel lässt sich eine Theologie denken, die in die Leerstellen des Lebens das Kreuz stellt, denn: „Gibt es in einer von den Mächten des Verderbens durchwalteten Welt einen Weg zu Gott, dann besteht Grund zu der Annahme, dass Aporien, wenn man sie sich nur eingesteht, sich zu einem Problembewusstsein verarbeiten lassen, das weiter führt.“ (Jüngel, Katholizität, 19) Eine solche Theologie erfordert ein schonungsloses Exposure, ein Sich-Aussetzen und Ausgesetztsein.
Die Schonungslosigkeit des Todes, des Kreuzes, Gottes aushalten…
Die Schonungslosigkeit des Todes, des Kreuzes, Gottes auszuhalten und zu durchdenken, zu Ende zu denken, nicht einzuknicken, nicht zu vereinfachen und nicht zu vertrösten, ist die Aufgabe der Theologie. Ihre Aufgabe ist es, sich der Ausweglosigkeit des Kreuzes auszusetzen, der Undenkbarkeit Gottes, der Unverfügbarkeit von Auferstehung. Und nicht einen Gott aus dem Hut zaubern, der im Letzten dann doch die Position wechselt und der Übervater wird, der ER, der Mann, der er immer war, der liebe Gott mit der Hand, in die man fällt, der Richter, der die Freien nicht an seiner Seite sitzen lässt, weil sie sich gegen ihn entschieden haben, weil der Ahnung nicht getraut wird, werden kann,
Gott als das ganz Andere zu denken, bedingungslos, sperrig gerecht, ein Geheimnis, die Wahrheit des Evangeliums, ein sich hartnäckig entziehendes Mysterium, unlösbar verbunden mit dem Risiko der Sinnlosigkeit – eine Ahnung, eine Idee, eine Erzählung – die keinen Absolutheitsanspruch erhebt, sondern als Ferment wirkt.
Wir leben im Zeitalter der sprachlichen Ortlosigkeit Gottes.
Wo ist die schonungslose, widerständige, sich aussetzende Theologie wider alle Vernunft als elementarer Lebensakt der Kirche aller Menschen, und als elementare Life Science, eine Wissenschaft mit Option, für die Menschen, gegen Vereinfachung und Banalisierung, für die Komplexität des Über-, Quer- und Hinter-Allem – offener Denkraum, in dem in Musing und Abduktion Transformation erwartet wird? „Vielfach und auf vielfältige Weise hat das Reden von Gott den menschlichen Geist in Verlegenheit gebracht. Am Ende einer langen Geschichte des Redens von Gott scheint die Verlegenheit heute zur Ausweglosigkeit geworden zu sein. […] Wir leben im Zeitalter der sprachlichen Ortlosigkeit Gottes. Ihr entspricht die immer noch zunehmende Undenkbarkeit Gottes und die – auch unter ihrem Gegenteil schlecht verborgene – Sprachlosigkeit der Theologie. Diese ist übel dran.“ (Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 1f)
Der Theologie fehlt Gott.
Die Theologie ist übel dran, weil sie – auch sie – nicht von Gott sprechen, Gott nicht denken kann – nicht unter den Bedingungen postmoderner Moderne, nicht so, dass das Denken und Sprechen ernst zu nehmen wäre im Kreis der Wissenschaften, eine Relevanz entwickeln würde für den Menschen von heute. Der Theologie fehlt Gott. Selbstverständlich fehlt ihr nicht das Wort, aber bezeichnet das Wort GOTT? Im allgemeinen Sprachgebrauch bezeichnet Gott das absolut Unüberbietbare. „Gott kann alles. Gott entscheidet alles. Gott wirkt alles. […] Gott ist in jeder Hinsicht perfekt – wobei die temporale Komponente durchaus mitzudenken ist: Gott kann immer schon ganz und gar auf sich zurückblicken, sein Sein ist frei von Werden. […] Gott ist über allem, er ist also auch über uns, er ist uns schlechthin überlegen.“ (Jüngel, Geheimnis, 6f ) Gott ist undenkbar, unbegreifbar. Damit Theologie ist übel dran, denn damit steht sie an ihrem Ende. Was ist ihr Inhalt und ihr Anspruch, wenn sich ihr Gegenstand nicht denken lässt?
Theologie: eingerichtet in der eigenen Bedeutungslosigkeit.
Theologie und Kirche scheinen sich in der Bequemlichkeit des prinzipiell undenkbaren Gottes und der damit verbundenen eigenen Bedeutungslosigkeit in Wissenschaft und Leben gut eingerichtet zu haben. Kirchlicherseits lässt es sich offensichtlich auch und gerade ohne Theologie gut leben, besonders ohne eine Theologie, die den Finger in die Wunde einer Macht legen könnte, die sich immer noch aus dem Besitzanspruch auf die Wahrheit eines exklusiv denkbaren und sich ebenso exklusiv offenbarenden Gottes speist. Das reformatorische „allein aus Glauben“ wird hier unredlicher Weise zum Programm gegen eine wissenschaftlich wie praktisch ernsthafte Auseinandersetzung mit der Denkbarkeit und Sagbarkeit Gottes unter den Bedingungen postmodern-modernen Lebens.
Gott ist nicht notwendig.
Die Neuzeit stellte Theologie und Kirche vor die Frage, ob Gott notwendig sei, und beantwortete die Frage damit bereits. Denn „wer aber so fragen muß, wer die Notwendigkeit Gottes in Frage stellen muß, der hat sie im Grunde auch schon verneint. […] Gott ist weltlich nicht notwendig“ (Jüngel, Geheimnis, 19), auch nicht um die Welt vor den Abgründen der Unmenschlichkeit zu schützen. „Der Mensch [kann] ohne Gott menschlich sein […]. Der Mensch hat das Kriterium seiner eigenen Notwendigkeit und Wirklichkeit nicht mehr in Gott, sondern er versteht sich – sei es als notwendig, sei es als notwendig – aus sich selbst.“ (Jüngel, Geheimnis, 19)
Die Neuzeit macht das bis dahin selbstverständliche Zentrum des Alls GOTT zur Leerstelle. Damit wird die Herr-schaft Gottes in Zweifel gezogen. „Der weltlich notwendige Gott wurde begriffen als der allmächtige Herr, dessen Liebe und Erbarmen gegenüber seinem Herrschaftsanspruch grundsätzlich sekundär und nachgeordnet erscheinen. So denkt man sich ja auf Erden einen Herrn: daß er zunächst einmal Macht hat und daraufhin dann vielleicht auch barmherzig sein kann – oder eben auch nicht.“ (Jüngel, Geheimnis, 25f)
Die neuzeitliche Theorie enttrohnt Gott, aber nicht die Macht der Kirche. Sie verliert zweifelsohne über die Jahrhunderte an Einfluss, aber sie hält erfolgreich theologisch, liturgisch und in der Legitimation ihrer Strukturen und Ämter am (Sprach-)Bild der weltlich notwendigen Herrschaft Gottes fest. Und offensichtlich profitiert auch die Theologie von der Verschleierung der Leerstelle – selbst der Preis der eigenen Sprachlosigkeit, der immer deutlicher zu Tage tretenden Schizophrenie im Anspruch der Denkbarkeit Gottes zwischen Nichtnotwendigkeit und Allmacht, selbst der Preis der Implosion scheint im Vergleich zum Gewinn nicht zu hoch. Theologie und Kirche laufen damit absehbar und in Teilen bereits angekommen ins Leere.
Gottes Allmacht ist die Macht seiner Liebe.
„Man wird dabei die Vermutung nicht unterschlagen können, daß der Herrschaftsanspruch des Wortes ‚Gott‘, wenn er als ein die Freiheit des Denkens beeinträchtigender Anspruch auftritt, das Wesen Gottes theologisch kaum zutreffend begriffen haben dürfte. […] Gottes Allmacht ist vielmehr als die Macht seiner Liebe zu verstehen. Nur die Liebe ist allmächtig. Gottes Herrschaft ist deshalb als das Regiment seiner Barmherzigkeit und Gottes Recht dementsprechend als das Recht seiner Gnade zu verstehen.“ (Jüngel, Geheimnis, 27) Und spätestens hier hört das Wort GOTT auf, ein Denk- und Sprachspiel von Theologie und Kirche, ein Spielball zwischen vorgeblich wissenschaftlicher Reflexion und institutioneller Praxis zu sein, muss ein Schlussstrich unter das unwürdige Machtspiel gezogen werden. Hier stehen Würde und Menschlichkeit, das Leben selbst auf dem Spiel.
Eberhard Jüngel zeigt den fatalen Zusammenhang zwischen der Behauptung der Allmachtsherrschaft Gottes und dem Drang des Menschen zur Abhängigkeit bzw. zur Unterdrückung. Er stellt die Frage, ob „die Identifizierung der allmächtigen Herrschaft, von der der Mensch schlechthin abhängig sein soll, mit Gott, nicht die Kaschierung des elementaren anthropologischen Tatbestands ist, daß der Mensch in schlechthinniger Abhängigkeit vom Menschen existiert, weil der Mensch über den Menschen total herrschen will.“ (Jüngel, Geheimnis, 27) Hinterlässt also die Vertreibung Gottes aus dem Zentrum gar keine Leerstelle, sondern deckt einen menschlichen Abgrund auf?
„Die Theologie hätte also, wenn sie die Entdeckung der weltlichen Nichtnotwendigkeit Gottes nicht als Fremdkörper akzeptiert, sondern aus theologischen Gründen selber vollzieht, zur Erhellung des Selbstverständnis des neuzeitlichen Menschen insofern einen fundamentalen Beitrag zu leisten, als sie zu einer vertieften Einsicht in den Sachverhalt verhelfen könnte, daß der Mensch durch die Bestreitung der weltlichen Notwendigkeit doch die anthropologische Funktion noch nicht gelöscht hat, die bis dahin eines Gottes Funktion gewesen sein soll. Die Theologie könnte einen Beitrag zur Umwertung dieser Funktion leisten, insofern sie die Tendenz nach totaler Herrschaft über Menschen als eine ursprüngliche Tendenz zur Vergötzung des Herrschens und zur Versklavung des Menschen enthüllt.“ (Jüngel, Geheimnis, 28)
Die Auswirkung dieser theologischen Leerstelle lassen sich gegenwärtig in unglaublich brutaler Form als Schneise der Vernichtung von Menschen und Kultur durch den sogenannten islamischen Staat beobachten. Theologie könnte die Welt nicht retten, selbst wenn sie sich seit der Neuzeit als Wissenschaft von und in der Akzeptanz der Nichtnotwendigkeit Gottes erfunden und profiliert hätte. Zugleich gilt es die Chancen und Möglichkeiten der Theologie zu nutzen, sich dieser Grundaporie menschlichen Lebens auszusetzen. Exposure heißt in diesem Zusammenhang, sich hartnäckig denkend und handelnd dem Zusammenfallen, der Gleichzeitigkeit von Macht und Liebe zu nähern. „An einem theologisch angemessenen Begriff der Herrschaft Gottes [wäre] die Erkenntnis zu gewinnen, daß Herrschen und Dienen sich keineswegs paradox zueinander verhalten müssen und daß Herrschaft keineswegs notwendig die Knechtschaft anderer impliziert.“ (Jüngel, Geheimnis, 28)
….notwendig: eine andere Theorie des Gegensätzlichen.
Die Frage nach Gott eine Frage der Führung? Gegenstand christlicher Theologie 2016 Jahre Führung? Die neuzeitliche Leerstelle mit Führung statt mit Vergötzung von Herrschaft füllen? Theologie als Wissenschaft einer neuen Idee von Führung, die Mündigkeit und Freiheit fördert? Praktische Theologie wäre nicht nur Reflexion kirchlicher Praxis, sondern würde neue Praxis initiieren – in Kirche und Wissenschaft, eine Praxis, die sich weder in Kirche noch in Wissenschaft über Ausschluss und Herrschaft realisiert, die ihren Wert nicht über Knechtschaft und Ausgrenzung definiert.
Dafür ist in Kirche und Wissenschaft eine andere Theorie des Gegensätzlichen nötig, die nicht auf eine Auflösung in eine Über-Unter-Ordnung hinein setzt, sondern den Gegensatz durchdenkt, ihm standhält, in der Grundirritation vom Ende der Herrschaft Gottes und dem immer wieder neuen Anfang der Allmacht der Liebe, der Gnade ausharrt. In dieser Irritation hat sich Wahrheit immer wieder neu zu bewähren, endet die Herrschaft der letzten Schlüsse, des schon immer Gewussten, der klaren und beständigen Deutungen.
Gott ist nicht notwendig, weil mehr als notwendig.
Eberhard Jüngel positioniert als Proprium des Christlichen GOTT genau inmitten der Irritation: „Daß Gott, obwohl er der zwischen Sein und Nichtsein Entscheidende ist, dennoch nicht nur oberhalb dieses Gegensatzes von Sein und Nichtsein, sondern inmitten dieses Gegensatzes Gott ist […] er selbst aber bestimmt sich dazu, nicht ohne den Menschen Gott zu sein. […] Deshalb gehört schon zu Gottes Göttlichkeit seine Menschlichkeit. Das ist es, was die Theologie endlich zu lernen hat.“ (Jüngel, Geheimnis , 44) „Wie denn überhaupt zu befürchten ist, daß die Theologie nicht an den Bastionen des Unglaubens, sondern vielmehr an ihrer eigenen Verschlafenheit zugrunde geht.“ (Jüngel, Geheimnis , 57) Eberhard Jüngel ist die Ungeduld anzumerken, mit der er für ein theologisches Bewusstsein kämpft, dass Gott „nicht notwendig [ist], weil mehr als notwendig“. (Jüngel, Geheimnis , 30)
Joseph Beuys beschreibt dieses Nicht-notwendig-Sein mit seinem erweiterten Kunstbegriff als Freiheit und soziale Verantwortung des Menschen. Im Gespräch mit Friedhelm Mennekes erklärt er, warum er sich von der traditionellen Beschäftigung mit der Christusfigur abgewandt hat: „Dieses Anknüpfen an das Traditionelle hat mich nicht befriedigt, ganz besonders nicht im Zusammenhang mit der Idee des Christlichen. [… Diese Versuche] bewirken nicht; sie sind traditionell gebunden, impotent, regressiv.“ (Mennekes/Beuys: Christus DENKEN, 27)
Joseph Beuys betont dagegen die Kraft, „eine stetig anwesende und sich verstörende Gegenwart“ (Mennekes/Beuys, Christus DENKEN, 29) , und ist überzeugt: „Der Mensch in dieser Zeit ist selbstverständlich nicht von Gott verlassen. Und diese schöne These ‚Gott ist tot’ ist vom Gesichtspunkt materialistischer Weltanschauung und von dem, was der Materialismus über die Menschen hinübergewälzt hat, wohl richtig. Aber gerade in dieser absoluten Abgeschiedenheit – daß er eben tot ist – für diese einfachen instinktiven Kräfte oder Glaubenskräfte, die die Menschen früher hatten, und die erloschen sind, ist dennoch die Kraft nicht tot, sondern lebendiger als je zuvor.“
Das bedeutet; „Du mußt versuchen, ‚exakt’ zu ‚glauben’; du mußt erst deinen Glauben verlieren, so wie Christus für einen Augenblick seinen Glauben verloren hat, als er am Kreuz war. Das heißt, der Mensch muß diesen Vorgang der Kreuzigung, der vollen Inkarnation in die Stoffeswelt durch den Materialismus hindurch selbst auch erleiden. Er muß selbst sterben, er muß völlig verlassen sein von Gott, wie Christus damals vom Vater in diesem Mysterium verlassen war.“ (Mennekes/Beuys: Christus DENKEN, 33)
Theologie hat die Wahl, sich aufzulösen oder sich aufzuraffen, Gegensätze zu vollziehen mit voller Kraft und vollem Risiko, Wissenschaft als Exposure-Prozess zu gestalten, als Prozess des Sich-Aussetzens und der Annäherung an konkrete Lebenssituationen. Begrifflich und inhaltlich macht die Mischung aus traditionellem Restbestand und akuter Aktualisierung die Brisanz einer Exposure-Wissenschaft aus, macht sie „zum neuen unumgänglichen Denkereignis, das sowohl überraschende Assoziationen auslöst als auch konkretes zeitdiagnostisches Potenzial innehat.“ (Deleuze/Guattari, Kapitalismus und Schizophrenie, 30)
Das Zweite Vatikanische Konzil verpflichtet die Theologie zum radikalen Hinsehen und Mitgehen in die Situationen der Freude und der Trauer der Menschen und setzt Glaubende wie die Theologie selbst damit offensiv und permanent dem Risiko der Transformation aus.
Theologie, die ihre Wissenschaftlichkeit riskiert.
Auf Gedeih und Verderb sind Kirche und Theologie den Höhen und Tiefen menschlichen Lebens ausgesetzt, wenn sie ihrem pastoralen und in aller Konsequenz ihrem wissenschaftlichen Auftrag nachkommen wollen. Entscheidet sich die Theologie für Exposure, gibt es keine Rückkehr- oder Rückzugsmöglichkeit in gewohnte Leben und Bequemlichkeiten. Radikal, d.h. ohne Distanz und Distanzierbarkeit setzt die Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils Kirche und Theologie den Krisen des Lebens aus, wenn sie mit ihrem Einleitungssatz das enge Verhältnis des Lebens aller Menschen und des Lebens der Jünger Christi beschreibt. Die damit angesagte Pastoral verlangt eine Theologie, die sich Lebenssituationen so weit aussetzt, dass sie sich selbst, ihre Wissenschaftlichkeit riskiert.
Ihre Wissenschaftlichkeit riskieren, heißt, dass sich die Theologie aus den engen, ihr vom Wissenschaftssystem zugestandenen Kategorien von Wissenschaft löst und sich ihrer eigenen wissenschaftlichen Freiheit und Selbstbestimmung gewahr wird, dass der Mut, selbstbewusst aus der Nichtnotwendigkeit Gottes und damit auch der eigenen Nichtnotwendigkeit heraus Wissenschaft zu betreiben als Stachel, Anspruch und permanente Irritation in einem zweck- und ergebnisorientiertem Umfeld, die Angst, im Wissenschaftsbetrieb nicht anerkannt zu sein, überwiegt und sich Theologie im eigenen wissenschaftlichen Treiben durch die Kriterien anderer Wissenschaften nicht einengen und blockieren lässt.
Theologie ist Wissenschaft im permanenten Risiko der Krise, der Transformation, der Negierung, ohne Sicherheit, ob und welches Ergebnis erzielt wird. Theologie kann damit nicht objektiv forschen und urteilen, sondern gewinnt aus dem Verlust der Distanz, aus der Schwächung der Position der allein wissenden Expertin, wird zur Mitspielerin, die selbst transformiert. Eine solche Wissenschaft hat den Elfenbeinturm verlassen und kann durchgewalkt von Lebenspraxis wissenschaftliche Kraft entwickeln, neu denken. Voraussetzung ist, dass sie ihre Unantastbarkeit aufgibt und ihre Unschuld verliert. Der Gegensatz von Theorie und Praxis schwindet und damit auch die Rechtfertigungen elitärer Wissenschaftlichkeit, die sich darauf berufen. Grenzziehungen zwischen Realität und wissenschaftlicher Reflexion, Wissen und Nicht-Wissen, ExpertInnen und Nicht-ExpertInnen werden unscharf, Hierarchien geraten ins Wanken.
Die Philosophin Gesa Ziemer zeigt diese Prozesse für die Entwicklung einer praktischen Ästhetik auf. „Theoria wird gemeinhin als das rein gedankliche Betrachten, das An- oder Zuschauen, die Schau auf etwas definiert. Gewöhnlich wird der Terminus Theorie in den Gegensatz zur Praxis gestellt, […]. Vor allem aber liegt dieser Definition eine klare Trennung zwischen Zuschauenden und den zu betrachtenden Gegenständen zugrunde, welche die Distanz herstellt, die für die Theorie notwendig zu sein scheint. Die Zuschauenden (theoros) widmen sich der Anschauung und erstellen aus eben dieser Schau durch abstrahierende Betrachtungsweisen Systeme wissenschaftlich begründbarer Aussagen, die uns bestimmte Phänomene erklären […]. Derjenige, der den Gegenstand betrachtet, soll Wissen generieren und dieses über seine Gegenstände ausbreiten. Der Zuschauer nimmt mit kühler Distanz die Position des Betrachtenden ein, die ihn dazu ermächtigt, das Systematische, dem Einzelfall selten gerecht werdende, dafür Universale zu erkennen und es in begriffliche Sprache zu verwandeln.“ (Ziemer, Verletzbare Orte. 41).
Die Frage der Wissenschaftlichkeit der Theologie konzentriert sich im verletzbarsten Punkt der Theologie – der Praktischen Theologie. Diese Achillesferse birgt zugleich ihre größte Stärke: die Angreifbarkeit, die Verwundbarkeit der Theorie durch die Lebenswelten der Menschen von heute. Die Fähigkeit, sich betreffen zu lassen, sich irritieren zu lassen, abduktive Wissenschaft zu sein, weist den Weg für die Theologie insgesamt und die Praktische Theologie im Speziellen, sich als Wissenschaft neu zu erfinden, Praxis und Theorie in ein selbstbewusstes und kontinuierliches Spiel miteinander zu bringen. Analog zur praktischen Ästhetik in der Kunsttheorie verlässt aber auch die Praktische Theologie als Exposure-Wissenschaft den Platz der Zuschauerin.
Es bleibt nicht beim theoretischen Schauen auf Situationen, der Blick der Praktischen Theologie wird reflektiert, verändert zurückgeworfen, in ein Wechselspiel hineingezogen. Das Verhältnis zwischen Wissenschaftler/-in und Forschungsgegenstand definiert sich nicht mehr in einer klaren Hierarchie, sondern in der Frage nach der Art und Weise des Involviertseins, des Verhältnisses zwischen ForschungspartnerInnen. Theologische Exposure-Forschung setzt sich der Ungewissheit und Heimatlosigkeit aus – kann sich aussetzen in der Denkbarkeit und Sagbarkeit Gottes, im Wissen um sein Wort als Ereignis der Begegnung voll von Beziehung.
In diesem risikoreichen Gegensatzraum, im Moment der Differenz, des Schon und Noch-Nicht kann Theologie im Denken des Glaubens und dessen Geglaubten aus sich herausgehen, sich selbst bestimmen, eigene Wege gehen. Theologie erfindet sich in diesem Exposure-Prozess als Spiel- und Transformationsraum, der aus Annäherung und Unschärfe heraus lebt – im Vollziehen von Gegensätzen, die existentiell aufeinander verwiesen sind.
Es ist die Freiheit der Theologie, quer und leidenschaftlich zu denken in Begegnungen, im Ereignis des Wortes voll von Beziehung, die nicht erst und nur das Jahr 2016 dringend nötig hat.
Literatur
Deleuze, Gilles; Guattari, Felix, Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus, Berlin 3.Aufl.1997.
Jüngel, Eberhard, Gott als Geheimnis der Welt, 7. Aufl., Tübingen 2001.
Jüngel, Eberhard, Bemerkungen zur Katholizität evangelischer Theologie, Greifswald 2007, 17 (Greifswalder Universitätsreden 130).
Mennekes, Friedhelm, Joseph Beuys: Christus DENKEN, Stuttgart 1996.
Ziemer, Gesa, Verletzbare Orte. Entwurf einer praktischen Ästhetik, Dissertation, Potsdam 2005, 41; online unter: http://opus.kobv.de/ubp/volltexte/2006/737/.
Text: Birgit Hoyer Bild: Sabrina Knak / pixelio.de, Blaue Wassertropfen
Ausführlicher: Birgit Hoyer, Theologie ohne Gott?, in: R. Bucher/R. Oxenknecht-Witzsch (Hrsg), Was fehlt? Leerstellen der katholischen Theologie in spätmodernen Zeiten: Ein Experiment, Würzburg 2015, 55-74.