Die Zeitenwende wird auch vor der Theologie nicht haltmachen. Für die Zukunft der Theologie braucht es einen Neuansatz. Denn jenseits kirchlicher Berufe wächst der Bedarf an theologischem Wissen und Denken. Von Annette Schavan.
Die christliche Theologie gehört zur Tradition der europäischen Universität. Sie etablierte sich dort zur Ausbildung kirchlicher Berufe und ebenso als Teil eines umfassenden Bildungskonzeptes. Letzteres spielt in den Vereinbarungen zwischen dem Staat und den Kirchen zur Errichtung theologischer Fakultäten eine nachgeordnete Rolle gegenüber den Erfordernissen der akademischen Ausbildung kirchlicher Berufe. Doch das könnte sich schon bald ändern.
Die christliche Theologie gehört zur Tradition der europäischen Universität.
Die Zahl derer, die Theologie studieren, um in den Kirchen zu arbeiten, ist seit Jahren rückläufig. Die größte Gruppe der Studierenden in der Theologie sind heute – dank des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen – angehende Lehrerinnen und Lehrer. Auch das wird sich in absehbarer Zeit ändern, weil es weniger getaufte Kinder gibt und entsprechend Alternativen zum konfessionellen Religionsunterricht gesucht werden. Es könnten sich neben – oder auch anstelle von – bekannten Angeboten wie Ethik und Lebenskunde neue Wege auftun, die der Philosophie einen festen Platz in den Schulen geben, beginnend mit den Grundschulen. Dann liegt auch nahe, ausgewählte religionsphilosophische Themen und damit verbundene klassische Fragestellungen in den Kanon der Schulen aufzunehmen. Jedenfalls scheint das fundierter und attraktiver zu sein als die Reduzierung der Inhalte des früheren Religionsunterrichts auf Ethik.
Die Entwicklung hin zu einer religiös pluralen Gesellschaft einerseits und religiöser Ungebundenheit andererseits provoziert neue Wege in den Schulen. Sie betreffen den christlichen Religionsunterricht, für den eine Zusammenarbeit der Konfessionen in Zukunft zwingend ist. Religionsunterricht für jüdische und muslimische Kinder und Jugendliche in öffentlichen Schulen gewinnt an Bedeutung. In Zukunft wird für eine stark wachsende Zahl von Schülerinnen und Schülern eine Alternative, am besten Philosophie, zum Curriculum der öffentlichen Schule gehören. Für den größeren Teil der Schülerschaft in den Großstädten wird das schon bald im Bildungsplan stehen.
Es ist zu kurz gesprungen, wenn angesichts eines rückläufigen Interesses an kirchlichen Berufen vor allem Pläne für die Schließung von Fakultäten gemacht werden.
Was bedeutet diese Entwicklung für die Theologie an den Universitäten? Sie kann ihr Potenzial im Dialog mit anderen Fakultäten entdecken; sie wird ihre Rolle in der Begleitung, Beratung und Reflexion globaler Prozesse der Transformation definieren können; sie kann aus den Erfahrungen eines breiten Spektrums an Fächern in einer theologischen Fakultät schöpfen, wenn es um die Entwicklung von Forschungsfragen einer interaktiven Theologie geht. Kühn gesagt: Jenseits kirchlicher Berufe wächst der Bedarf an theologischem Wissen und Denken. Das heißt dann auch: Es ist zu kurz gesprungen, wenn – angesichts eines rückläufigen Interesses an kirchlichen Berufen wie am Religionsunterricht in öffentlichen Schulen – vor allem Pläne für die Schließung von Fakultäten gemacht werden.
Es braucht neben den klassischen Fakultäten gut ausgestattete Theologische Zentren, mit denen Schwerpunkte verbunden werden, die die Theologie zu einer attraktiven Gesprächspartnerin für alle Fakultäten und zu einem inspirierenden Angebot im allgemeinen Bildungskonzept der Universität werden lässt. So kann Theologie auch über die Universität hinaus hineinwirken in eine Gesellschaft, in der viele Menschen religiös heimatlos sind, gleichwohl suchend und fragend bleiben; in eine Gesellschaft, in der Institutionen um neue Wege jenseits von Technokratie und nicht mehr tragfähigen Strategien ringen; in eine Gesellschaft, in der Ungewissheit wieder stärker den Alltag bestimmt, als uns lieb ist.
Über den kirchlichen Kontext hinaus
Papst Franziskus kann sich die Theologie als »kulturelles Laboratorium« vorstellen. So ist es in seiner Apostolischen Konstitution über die kirchlichen Universitäten und Fakultäten mit dem Titel »Veritatis gaudium« (»Die Freude der Wahrheit«) formuliert. Er hat zu akademischer Bildung und wissenschaftlicher Forschung generell die Vorstellung, sie sollten zu einer »mutigen kulturellen Revolution« beitragen. Die intellektuelle Rolle, die dabei der Theologie zukommt, geht nicht nur über den kirchlichen Kontext hinaus. Der Papst erinnert sie und letztlich auch die Universität an ihre Möglichkeiten und auch an ihre Verantwortung in modernen Gesellschaften. Wer, wenn nicht die Wissenschaft, hat zu den globalen Debatten über epochal bedeutsame Themen Erkenntnisse und Erfahrungen einzubringen, die für die zivilgesellschaftlichen Gruppen wie für die Politik grundlegend sind?
Beitrag der Theologie zu einem überzeugenden Konzept akademischer Bildung
Die Zeit der Pandemie hat zu einer öffentlichen Präsenz der Wissenschaft geführt, die das deutlich werden lässt. Das ist auch bei anderen Themen wünschenswert. Theologie im Haus der Wissenschaft ist nicht nur eine Angelegenheit der Kirchen. Es geht um einen Erfahrungsschatz und ein Erkenntnisspektrum, das im globalen Dialog über Zukunftsfragen wertvoll ist. Es geht auch um einen Beitrag der Theologie zu einem überzeugenden Konzept akademischer Bildung.
Zunehmen sollte die Zahl der Universitäten, an denen Studien zum Judentum, zum Christentum und zum Islam existieren. Der Anfang ist gemacht, weitere Standorte sind wünschenswert. An diesen Standorten besteht die Chance, ein bloßes Nebeneinander dadurch zu überwinden, dass gemeinsame Forschungsfragen erarbeitet werden und eine tatsächlich interaktive Theologie entsteht. Das ist ein Schlüssel zu tragfähigen Beziehungen der Kirchen und Religionsgemeinschaften – auch für deren Dienst für Frieden und Versöhnung, für humane Entwicklung und die Lösung epochaler Probleme.
Ein Dienst für Frieden und Versöhnung, für humane Entwicklung und die Lösung epochaler Probleme
Für die Theologie als »kulturelles Laboratorium« besteht ein hoher Bedarf. Deren Zukunft im Haus der Wissenschaft verlangt neue Konzepte, die nicht auf die lange Bank geschoben werden dürfen. Jetzt ist die Zeit dafür. Es könnte deutlich werden, dass die Kirchen und Religionsgemeinschaften verstanden haben, dass es nicht vor allem um sie, sondern um ihren Dienst an einer fragilen Welt geht und darum, religiöse Heimatlosigkeit zu erkennen.
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Der Text ist dem eben erschienen Buch geistesgegenwärtig sein. Anspruch des Christentums, Patmos: Ostfildern 2021 entnommen.
Annette Schavan war von 2005 bis 2013 Bundesministerin für Bildung und Forschung, zuvor 1995 bis 2005 baden-württembergische Ministerin für Kultus, Jugend und Sport. Von 2014 bis 2018 war sie deutsche Botschafterin beim Heiligen Stuhl.
Von der Autorin bereits auf feinschwarz.net erschienen:
Z U K Ü N F T I G E S. Wohin Wege führen ist so bedeutsam wie ihr Woher
Photo: Maria Teneva (Unsplash)