Die Arbeitsgruppe „Theologie im Dritten Korridor“ plädiert für eine Ausweitung der Diskussion rund um die Zukunft der Theologie: auf gesellschaftliche Felder jenseits der akademischen Theologie. Und sie lädt zur Vernetzung von Theolog:innen über ‚klassische Tellerränder‘ hinaus ein.
1. Die Frage nach der Zukunft in der Theologie – aktuelle Debatten zwischen Scheuklappen und Potenzial
Es gibt viel Rumoren rund um die „Zukunft der Theologie“. Sinkende Studierendenzahlen und die Ergebnisse der jüngsten Kirchenmitgliedschaftsstudie[1] verstärken Reflexionsprozesse: Wohin entwickelt sich Theologie? Was bleibt von ihrer früheren Relevanz? Welche neuen Wege geht und welche Zukunft hat Theologie?
Noch tauglich?
In den vergangenen Monaten sind einige Publikationen erschienen und wurden Studientage veranstaltet[2], die sich diesen Fragen in drängender Weise widmen. Theologische Einrichtungen beginnen abzuklären, ob bisherige Orte und Formate noch tauglich sind und tasten sich an neue Profilbildungen und inhaltlich-strukturelle Transformationen heran.
Es sind dabei vor allem Akteur*innen aus dem inner-akademischen Bereich, die sich zur Zukunft der Theologie äußern. In der eigenen Perspektive aus der Universität sprechen sie über die eigene Arbeit an der Uni, die Formen und Funktionen von akademischer Theologie. Von „Theologie“ wird dabei überraschenderweise häufig im Singular gesprochen, manchmal ergänzt durch „Theologie als Wissenschaft“. Kirchenbindung wird wie selbstverständlich als Konstituens von Theologie vorausgesetzt.
Wer tritt hier wie selbstverständlich als Player*in in Erscheinung – in welchen Leitperspektiven wird gesprochen – wessen Fragen nach „Zukunft“ werden favorisiert?
Dritter Korridor
Wir möchten in der laufenden Debatte eine Ausweitung der Perspektive vorschlagen und anregen, einen spezifischen „Außen“-Bereich von Theologie aufmerksamer in den Blick zu nehmen: den sog. „Dritten Korridor“ (Michael Schüßler) jenseits von Kirche und Schule als theologisch-praktischen Arbeitsorten. Theologie wird in vielfältigen Weisen jenseits der klassischen und dominanten Verortungen betrieben. In der dortigen „Theologie über den Tellerrand“ liegt eine eigene Stärke, sie hat eigene Stile und Ausdrucksformen – und eine eigene gesellschaftliche Autorität, in Qualität und Reichweite oft über akademisch-kirchliche Theologie hinaus. Darin steckt Zukunft für Theologie und Gesellschaft.
2. Erfahrungskontexte als theologische Ressource verstehen
Bei einer Tagung im Sommer 2023 ist unsere Aufmerksamkeit auf dieses Thema gelenkt worden. Vom 27. bis 29. Juli fanden sich knapp 30 Nachwuchswissenschaftler*innen der Theologie in Freiburg zusammen, um über die “Zukunft (in) der Theologie” zu diskutieren[3]. Nach spannenden Workshops und Diskussionen im Plenum bildeten sich verschiedene Arbeitsgruppen, um Handlungsoptionen über die Tagung hinaus zu entwickeln. Unsere Arbeitsgruppe beschäftigte sich speziell mit dem Dritten Korridor.
Blinder Fleck im Diskurs
Unser Austausch brachte einige gemeinsame Erfahrungen zur Sprache:
- Wir nehmen wahr, dass viele Menschen mit theologischen Bezügen und Kompetenzen außerhalb der klassischen Berufsfelder in Diözese, Universität und Schule arbeiten – im Dritten Korridor –, etwa in Medizin, Journalismus, Therapie, Soziale Arbeit, Tourismus, Kunst, Lebensberatung, Technologie, Social Media, Politik, Pflege, Fitness, Musik.
- In jüngster Zeit verlassen Menschen in unseren Umfeldern kirchliche und universitäre Kontexte vermehrt – auch aufgrund der Defizite in kirchlicher Struktur und Lehre – und gehen in andere Bereiche. Sie nehmen ihre Theologien mit und entwickeln sie außerhalb der bisherigen Anbindungen weiter. Manchmal ist die Lösung von institutionellen „Verkündigungsimperativen“[4] gerade auch ein Schritt, um kreativer und menschennäher Theologie zu betreiben.
- Obwohl sich in vielen Arbeitsbereichen im „Dritten Korridor“ Theolog*innen finden, spielen die dortigen Lebensrealitäten und erforderten Kompetenzprofile wenig oder gar keine Rolle in der Gestaltung der Studienwege in „klassischen“ theologisch-akademischen Institutionen.
- Einige von uns haben exkludierende Erfahrungen gemacht. Wer aus dem Feld der institutionell-akademischen Theologie der Lehre und Forschung in andere Bereiche wechselt, wird zum Outsider – hier zeigt sich ein „Innen“ und „Außen“ im universitären Betrieb, eine Unterscheidung, die von beiden Seiten gut eingeübt ist und selten hinterfragt wird. In Diskussionen zur Zukunft der Theologie kommen diese Ausschlussmechanismen bislang zu wenig vor – ein blinder Fleck im aktuellen Diskurs.
Theologie erschließt Zukünfte
Zusammen mit diesen kritischen Wahrnehmungen entsteht für uns zugleich auch eine geweitete Perspektive auf theologische Prozesse: Menschen mit theologischer Ausbildung haben einen theologischen Blick auch – oder vielleicht gerade –, wenn sie in Feldern arbeiten, in denen sie mit anderen Fragestellungen, Anliegen und Personenkreisen konfrontiert sind, als es klassischerweise in “theologischen Tätigkeitsfeldern” der Fall ist. Hier wird theologisches Denken anders notwendig, und es entfalten sich neue Impulse. In diesen vielfach ausgeklammerten Kontexten ergeben sich auch völlig neue Ideen für theologische Antworten auf die Fragen unserer Zeit. Theologie entsteht über die etablierten Tellerränder hinaus und erschließt Zukünfte – in neuen Formen, mit eigener gesellschaftlicher und theologischer Kompetenz und Kraft, mit theoretisch-wissenschaftlicher Expertise und konkreter Praxisgestaltung.
3. Theologie über den Tellerrand – sichtbar werden!
Aus diesen Wahrnehmungen, Erfahrungen und Überlegungen ist ein dreifaches Anliegen entstanden: Wir möchten Theologien im Dritten Korridor sichtbar(er) machen. Wir möchten einen intensiveren Austausch und Vernetzungen zwischen Theolog*innen im Dritten Korridor anregen. Und wir möchten gemeinsam Impulse und Optionen für eine „Zukunft der Theologie“ in/aus Perspektiven des Dritten Korridors entwickeln, auch mit einem kritisch-kreativen Blick auf Grenzziehungen zwischen „Innen” und “Außen“ und institutionellen Anbindungen.
Unseres Erachtens lässt sich diese Problematik nicht abstrakt bearbeiten, sondern es braucht praktische Begegnung in konkreten Kontaktzonen oder open spaces, in denen gemeinsam kreativ gedacht wird und andere Haltungen und neue Formen entstehen können.
Lust auf ein Experiment
Zu einem solchen open space möchten wir alle einladen, die Lust haben, sich zu vernetzen, neue Perspektiven auf Theologie und auf praktische Felder zu gewinnen und ein Experiment zu wagen: Macht mit uns theologische Arbeit jenseits der klassischen Tellerränder sichtbar, gebt ihr ein Gesicht und denkt mit uns nach, wie wir Formen und Stile des Theologietreibens mit Zukunft prägen können, die den Austausch über klassische Innen-Außen-Dichotomien hinaus nachhaltig fördern und professionalisieren.
Wie? Hier sind unsere Vorschläge und Angebote:
Online-Treffen im Februar 2024: Komm am 27. Februar 2024 von 19:30 bis 21:30 Uhr zu unserem Auftakt- und Vernetzungstreffen auf Zoom. Wir beginnen mit einem open space (vgl. https://liberatingstructures.de/open-space-technology/) und sammeln Erfahrungen, Themen, Interessen, Ideen rund um „Theologie über den Tellerrand“ / „Theologie im Dritten Korridor“. Dann sehen wir weiter. Der Zoom-Raum ist hier[5] in der Fußnote zu finden, eine Anmeldung ist nicht notwendig.
Instagram-Account „Theologie über den Tellerrand“: Mit unserem neuen Instagram-Kanal wollen wir die vielen verschiedenen Gesichter von Theolog*innen und ihre Arbeitsbereiche sichtbar machen. Du hast Lust, bei der Kampagne mitzumachen? Dafür brauchst du selbst kein Instagram. Mach’ einfach ein Foto von dir, gerne mit einem Teller deiner Wahl, antworte auf eine, zwei oder alle der folgenden Fragen und schick’ beides an tuedt@tutanota.com: Was ist mein Tellerrand? Wo und wie schaue ich über meinen Tellerrand? Welche Ressource, Inspiration, Kraft ist Theologie in meiner Arbeit? (maximal 2100 Zeichen mit Leerzeichen). Anschließend stellen wir deinen Beitrag online. Das könnte dann so aussehen:
Unsere Einladung richtet sich an alle Interessierten, besonders an Menschen, die…
- … Theologie studiert haben oder studieren,
- … in beruflichen Feldern im Sinne des Dritten Korridor arbeiten,
- … in klassischen Arbeitsbereichen von Theolog*innen – an der Uni, der Diözesan- oder Landeskirchenpastoral, im Religionsunterricht – tätig sind und Interesse an einer Theologie im Dritten Korridor haben,
- … aus Arbeitsbereichen in Kirche oder Uni (bewusst) ausgestiegen sind und sich mit ihrer theologischen Kompetenz in neue Felder aufgemacht haben,
- … Lust haben, sich mit anderen auszutauschen, welche Rolle Theologie in ihrer Arbeit spielt,
- … mitüberlegen möchten, in welchen Formen Theologie von anderen Orten her zukunftsfähig entwickelt werden kann.
Keine fertige Theorie
Wir geben offen zu: Wir haben keine fertige Theorie zu diesem „Dritten Korridor“ und keine Lösung für die akuten Probleme der Zukunft der Theologie. Was uns eint, ist das Unbehagen mit der aktuellen Situation und der dringende Impuls, Theologie neu und weiter zu denken – helft uns dabei!
Leitend kann die Freude daran sein, Theologie zu betreiben. Es geht um die Bedeutsamkeit, die sie für Dich auf Deinem persönlichen Lebensweg hat, wo auch immer Du Dich aktuell verortest bzw. wo es Dich hin verschlagen hat. Unsere Wege mit der Theologie haben ihre je eigene Qualität, Weisheit, Rationalität, und diese können wir gemeinsam erkunden, miteinander teilen, zur Geltung bringen.
Lassen wir uns überraschen
Was wird dabei herumkommen? Werden wir auf dem Weg ein neues Verständnis dessen, was Theologie, was Glaube, was Kirche ist, entdecken? Oder werden wir hauptsächlich die Erfahrung mitnehmen, was es mit Theologie macht, wenn sie „raus“ ist aus institutionalisierten Formen? Probieren wir’s aus, lassen wir uns überraschen – über die eigenen und fremden Tellerränder hinaus.
Zur Arbeitsgruppe „Dritter Korridor“ / “Theologie über den Tellerrand”, die diesen Text verfasst hat, gehören: Anna Schönhütte, Christian Kern, Hannah Judith, Julia Hahn, Thomas Sojer, Justin Veit. Die Gruppe ist offen für weitere Interessierte. Bei Rückfragen zu den beschriebenen Vernetzungen oder zur Mitarbeit wendet Euch gerne an tuedt@tutanota.com. Updates zu den Aktivitäten gibt’s auf https://www.instagram.com/theologie_ueber_den_tellerrand/
[2] Vgl. Lebendige Seelsorge (https://archiv.echter.de/PDF-Lebendige-Seelsorge/Jahrgang-2023/LS-2023-04-Zukunft%20der%20Theologie/ ), ET Studies (https://poj.peeters-leuven.be/content.php?url=issue&journal_code=ETS&issue=2&vol=14), das Caritas-Pirckheimer-Haus (https://www.cph-nuernberg.de/veranstaltungen/info/termin/20231111/endspiele-einer-letzten-generation-zukunftsszenarien-katholischer-theologie-im-21-jahrhundert) oder die kath.-theol. Fakultät der Uni Münster (https://www.uni-muenster.de/FB2/aktuelles/Studientag_Zukunft_Theologiestudium_2023.html). Es intensiviert sich eine schon länger schwelende Diskussion, vgl. https://www.herder.de/theologie-pastoral/shop/p2/51259-zur-zukunft-der-theologie-in-kirche-universitaet-und-gesellschaft-kartonierte-ausgabe/ ; ebenso https://www.feinschwarz.net/zur-zukunft-der-theologie/; ebenso in Österreich: Limina 6:1 (2023) Theologie(n) der Zukunft. Zwischen kirchlichen Vorgaben, gesellschaftlichen Erwartungen und universitären Rahmenbedingungen. Bd. 6 Nr. 1 (2023) und Limina 6:2 (2023) Transforming Theology. Welche Theologie hat Zukunft? Bd. 6 Nr. 2 (2023).
[3] https://www.ku.de/fileadmin/Personenbilder_oeffentlich/THF/Systematische_Theologie/Call_Zukunft__in__der_Theologie2.pdf
[4] https://www.feinschwarz.net/ich-verkuendige-nicht-ueber-einen-anderen-modus-von-theologie/ .
[5] https://wwu.zoom-x.de/j/68738520073 .
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