Was hat Jerusalem mit Minneapolis und dem Mord an George Floyd zu tun? Oder mit Twitter und #MeToo? Eine Zwischen-Zeit von Stefanie Knauß.
Was hat Jerusalem mit Hollywood zu tun? Oder mit einer Pride Parade? Oder mit, sagen wir, einer Performance von Marina Abramovic? Mit einer Werbung für Unterwäsche?? Manche würden wohl mit Tertullian übereinstimmen, dass die Antwort eigentlich nur lauten kann: „Nichts!“ Oder wenn überhaupt, dann haben sie nur in dem Sinn miteinander zu tun, dass die Theologie die Aufgabe hat, die irregeleitete säkular(isiert)e Kultur wieder auf den rechten Pfad zurückzuführen.
Das ist es aber nicht, was mich am Verhältnis zwischen Theologie(n) und Religion(en) und Kultur(en) fasziniert und warum ich in meiner Arbeit der Frage nachgehe, wie religiöse Traditionen und theologische Reflexionen mit Kultur interagieren, wie sie sich gegenseitig prägen, wie Religionen und Theologien in ihren kulturellen Kontexten funktionieren und wo sie sich aneinander reiben – manchmal kontroversiell und oft konstruktiv.
„Kultur“ ist natürlich ein weites Feld und fast so schwer zu definieren wie „Religion“. Kultur umfasst für mich alle menschlichen Aktivitäten, durch die wir in unserer Welt Sinn stiften – von der Zubereitung und dem Verzehr von Speisen über ein Musikvideo von Beyoncé bis zu Ingeborg Bachmanns Gedichten. Oder, um in meinen etwas enger gefassten Interessensbereichen zu bleiben: von der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Organisation von Geschlechterverhältnissen über die Bedeutung von Körpern und Sexualitäten, bis zur Erfahrung von Film, Kunst und visueller Kultur.
Wie erleben Menschen diese kulturellen Phänomene? Wie helfen sie ihnen, in der Komplexität ihres Lebens und ihrer Beziehungen zu anderen Menschen und ihrer Umwelt sich selbst zu verstehen und Bedeutung zu finden? Wo verweisen sie in der konkreten Materialität des Körpers, der Gegebenheit eines Kunstwerks, der Weltlichkeit eines Spielfilms über sich selbst hinaus? Was sagen diese sinnstiftenden Aktivitäten über die Menschen aus, die sie ausüben, darüber, wie sie sich selbst sehen und sehen wollen, ihre Ideale, Hoffnungen, Träume? Welche Ressourcen bieten Religionen und Theologien für die Produktion von kulturellen Phänomenen und ihre Interpretation? Und welche Ressourcen bieten kulturelle Phänomene für die theologische Reflexion über das Verhältnis von Menschen zur Transzendenz?
Sich theologisch und religionswissenschaftlich mit Kultur zu beschäftigen, bedeutet, sich mit diesen grundlegenden Fragen nach dem Selbstverständnis des Menschen im Kontext der Gottesbeziehung, nach der Möglichkeit von Offenbarung in der konkreten sozialen und historischen Situiertheit unserer Existenz, nach der kulturellen Einbettung der religiösen Sinnsuche auseinanderzusetzen. Und es bedeutet, nicht im Vorhinein festzulegen, wie sich Kultur zu realisieren hat, um theologisch oder religiös produktiv zu sein, sondern in einem wirklichen Dialog und gegenseitiger kritischer Offenheit darauf zu hören, was sie sich zu sagen haben.
Also zum Beispiel nicht vorschnell die expliziten Darstellungen von Sexualität in den Medien verurteilen, sondern genau hinsehen, wie sie uns menschliche Sexualität zeigen: als Verobjektivierung und Kommerzialisierung? Als Erfahrung von Verletzlichkeit? Als Ekstase, Transzendenz? Als sinnlich erlebte Gnade und Offenbarung? Wie prägen kulturelle Muster wie die Geschlechterordnung oder sexuelle Normen diese Darstellungen und ihre Deutung, und wie haben religiöse Traditionen und theologische Diskurse die kulturellen Vorstellungen von Sexualität beeinflusst?
Immer deutlicher – und drängender in meiner Arbeit – wird neben Sinnstiftung und Identitätsbildung ein dritter Aspekt von Kultur: die Frage der Macht. Während ich diesen Text schreibe, sind weiterhin unverhältnismäßig viele Schwarze und ethnische Minderheiten von der erneut steigenden COVID-19-Infektions- und Sterberate hier in den USA betroffen und es gibt eine breite Protestbewegung gegen die rassistische Ungleichheit der amerikanischen Gesellschaft und die die amerikanische Kultur prägende Ideologie weißer Überlegenheit.
Kultur ist nicht unschuldig oder neutral; ihre sinnstiftenden und identitätsbildenden Funktionen sind durch Machtbeziehungen geprägt, die in kulturellen Prozessen reproduziert und legitimiert werden. Religionen und Theologien sind daran immer schon beteiligt – bestärkend und kritisch – und die Frage von Macht muss deshalb in der Analyse der vieldimensionalen, komplexen Interaktionen zwischen Religion, Theologie und Kultur explizit thematisiert werden.
Was also hat Jerusalem mit Minneapolis und dem Mord an George Floyd zu tun? Oder mit Twitter und #MeToo? Alles!
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Dr. Stefanie Knauß ist Associate Professor am Department of Theology and Religious Studies an der Villanova University, Villanova, Pennsylvania, USA.