Norbert Mette fragt nach den heutigen Bedingungen und Möglichkeiten religiöser Bildung – und mischt sich zugleich in die Debatte um die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung ein: Was bedeutet Glaubensvermittlung im Horizont manifester Erfolglosigkeit?
1. Kulturelle Transformation des Religiösen
Kulturell dominant geworden ist, so muss man schlicht und einfach feststellen, was Peter L. Berger den „säkularen Diskurs“ nennt. Charles Taylor spricht ähnlich in seinem Werk „Ein säkulares Zeitalter“ von einem „immanenten Rahmen“, innerhalb dessen das Leben ohne jeglichen Bezug zu einer Transzendenz geführt werde und der für weite Bevölkerungskreise in der Gegenwart bestimmend geworden sei – wobei umstritten ist, ob das global der Fall ist oder nur für bestimmte Regionen (insbesondere in Europa) zutrifft.
Beunruhigung ohne religiöse Codierung
Besonders nachhaltig ist von dieser kulturellen Transformation die Jugend erfasst. Bert Roebben resümiert, dass die unter heutigen Jugendlichen am weitesten verbreitete Einstellung als agnostisch zu charakterisieren ist: Ob ein Gott existiere oder nicht und ob die Frage für ihr Leben relevant sei, kümmere sie nicht. Ihre existenziellen Erfahrungen seien rein diesseitig und bei ihren Peers sei das nicht anders. Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach Leidenschaft und Hingabe, nach Dingen, die wirklich wichtig seien und für die man sich einsetzen möchte, würden sie durchaus beunruhigen – aber ohne dafür auf religiöse Codierungen zurückzugriefen. Angesichts aller ansonsten nicht mehr vorhandenen Sicherheiten bietet für viele der Rückzug auf das eigene Ich für sie die einzige Gewissheit bietet.
Das bestätigt drastisch, was der Soziologe Franz-Xaver Kaufmann bereits 1979 prognostiziert hat: „Wir müssen … davon ausgehen, daß alles Bedenken der Probleme der Glaubensvermittlung heute im Horizont ihrer manifesten Erfolglosigkeit geschieht.“
2. Herausforderungen für die Theologie
Welche Herausforderungen und Aufgaben ergeben sich daraus für die Theologie (und kirchliche Praxis)?
Einige Thesen dazu:
- Die Annahme, dass Religion bzw. Religiosität ein anthropologisches Existential seien, bedarf einer grundlegenden Revision. Nichtreligiösen Menschen im Unterschied von den religiösen bescheinigen zu wollen, ihnen würde etwas an der vollen Entfaltung ihres Menschseins fehlen, geht fehl.
- Die Denk- und Sprachformen, in denen eine religiöse Überlieferung auszudrücken versucht wird, bedürfen der ständigen Revision, ob sie vor dem zeitgenössischen Verstehenshintergrund für Menschen überhaupt noch nachvollziehbar sind. Wie kann in einem säkularen Zeitalter mit vernünftigen Gründen Zeugnis von Gott abgelegt werden? Das ist die zentrale Frage. Dietrich Bonhoeffer zog die Konsequenz, dass eine neue Form des Christentums zu entwickeln sei, religionslos, verwiesen auf die Welt, wie sie ist – im, so eine prägnante Formel von ihm, „Teilnehmen am Leiden Gottes im weltlichen Leben“.
- Auf ihre Weise ist die sog. Postmoderne aufgrund des hohen Potentials an Ungewissheit, Angst und Unsicherheit in Gefolge der radikalisierten Modernisierung, religionsproduktiv, sei es in kompensatorischen oder sei es in gesellschaftskritischen Formen. Daraus ergibt sich die Aufgabe einer religionskritischen „Unterscheidung der Geister“.
- Spätestens seitdem der Pluralität von Religionen und Weltanschauungen nicht mehr ausgewichen werden kann und auch Versäumnisse und Versagen der eigenen Religion nicht mehr geleugnet werden können, gehört eine kritische Selbstreflexion zum Handwerk des Theologie-Treibens.
Vom Defizit- zum Alteritätsmodell
- Die vorfindliche Pluralität der Religionen, Ideologien und Weltanschauungen wirft für diese noch ein weiteres Problem auf: Wie können sie ihre jeweils eigene Identität wahren? Statt sich exklusiv voneinander abzugrenzen, gilt es bewusst und konsequent der Dialog miteinander zu suchen – aus der Überzeugung heraus, dass in der Pluralität die Chance steckt, voneinander zu lernen, indem man sich auf Augenhöhe untereinander begegnet und miteinander kooperiert. Nach Eberhard Tiefensee handelt es sich dabei um einen Wechsel vom Defizitmodell zum Alteritätsmodell, das von Respekt voreinander und gegenseitiger Wertschätzung getragen sei und dabei auch die Unterschiede gelten lasse, Schließlich habe, so bemerkt er, „keine der Seiten die Wahrheit für sich gepachtet, die sowieso immer größer“ sei „als das, was du glaubst und denkst, und als das, was ich glaube und denke“. Gerade angesichts der in vielfacher Hinsicht desolaten Weltlage wäre es wichtig, dass sich wenigstens die Religionen solidarisch mit allen ähnlich denkenden Menschen und Bewegungen dazu entschließen könnten, eine Koalition zur Globalisierung universaler Solidarität zu bilden.
- Die letzte Bemerkung weist darauf hin, dass das Entscheidende einer religiösen bzw. gläubigen Einstellung, an der sich auch ihre Glaubwürdigkeit erweist, die Praxis, die Lebensform ist, die ihr zu eigen ist (und zwar individuell und sozial in vielfältigen Ausdrucksformen der Einheit von Gottes- und Nächstenliebe) – was sehr wohl deren theoretische Grundlegung erforderlich macht, die aber in deren Dienst zu stehen hat.
3. Ansätze zu einer religiösen Bildung in einer weltanschaulich diversen Gesellschaft
Wie können unter den Bedingungen einer weithin vorherrschenden Säkularität die Zeitgenossinnen und -genossen dafür aufgeschlossen werden, dass es – um Dorothee Sölle zu zitieren – „mehr als alles“ gibt?
Diese Frage bildet eins der erkenntnisleitenden Interessen, die Charles Taylor bei der Abfassung seines Werks „Ein säkulares Zeitalter“ verfolgt hat: Seiner Zeitdiagnose zufolge ist heutzutage das Denken und Tun der Menschen weithin in einem „immanenten Rahmen“ befangen, der sie gegenüber allem, was darüber hinausweisen könnte, hat „abgepuffert“ (buffered/gedämpft im Gegensatz zu porous/porös) werden lassen. Selbst die allenthalben antreffbare Sehnsucht nach einer „Fülle des Lebens“ werde auf verschiedene Weise innerhalb dieses Rahmens (Taylor charakterisiert ihn als „ausgrenzenden Humanismus“) einzulösen versucht. Doch damit, so argumentiert Taylor, könne der erwähnten Sehnsucht nicht Genüge getan werden. Sie ziele nämlich auf eine transzendente Realität ab, die den geschlossenen Rahmen aufbrechen und damit die Wirklichkeit anders, gewissermaßen mit größerer Tiefgenschärfe wahrnehmen und deuten lasse. Auf diese Weise ereigne sich eine Konversion, eine Abkehr vom gesellschaftlichen Mainstream.
Nie vollständig erfassbares Sich-Ergreifen-Lassen
Diese Gedanken lassen sich gut mit Überlegungen in Verbindung bringen, die Karl Rahner bereits 1966 in seinem Beitrag „Frömmigkeit früher und heute“ vorgetragen hat. Bekannt, weil viel zitiert daraus ist der Satz: „der Fromme von morgen wird ein `Mystiker´ sein, einer, der etwas `erfahren´ hat, oder er wird nicht mehr sein.“ Den Weg dahin bezeichnete Rahner – einen altkirchlichen Terminus aufgreifend – als „Mystagogie“. Es handelt sich um einen Prozess, in dem der Mensch dem Grund seines eigenen Selbstbewusstseins auf die Spur zu kommen bestrebt ist. Nach Rahners Worten geht es dabei um ein existentielles und im Leben nie vollständig erfassbares Sich-Ergreifen-Lassen von der selbstverständlichen Unentrinnbarkeit des Menschen bezüglich „der Verwiesenheit seines um sich wissenden und sich selbst aufgebürdeten Daseins auf das absolute Geheimnis“ seines Lebens hin, das( nicht nur in der christlichen Religion) „Gott“ genannt wird. Diese Sicht auf den Grund des eigenen Selbstbewusstseins unterscheide sich von der trostlos machenden Ahnung, es handele sich bei der Verwiesenheit um die Projektion der „eigenen Sehnsucht in die Ungeheuerlichkeit des leeren Nichts hinein“.
Mystagogie vollzieht sich nach Rahner nicht nur als bloßer Rückzug in das eigene Innere, sondern eröffnet auch eine bestimmte Sichtweise auf den jeweils gegebenen gesellschaftlichen und religiösen Kontext. Mystik, richtig verstanden, führt nicht aus der Welt heraus, sondern in ihre „tiefe Diesseitigkeit“ (Dietrich Bonhoeffer) hinein. Es ist eine „Mystik der offenen Augen“ (Johann Baptist Metz), die Spuren der Transzendenz in der Welt entdecken lässt – in der Spannung zwischen der Freude an der Schönheit der Schöpfung und der mit den Betroffenen solidarischen Empörung (Compassion) über die globale himmelsschreiende Ungerechtigkeit.
Mystagogie als geeigneter Ansatz
Die so praktizierte Mystagogie stellt einen gerade unter den Bedingungen der (Post-)Moderne geeigneten Ansatz für religiöse Bildungsprozesse dar. Wenn Rahner fordert, dass sie „so vermittelt werden muß, daß einer sein eigener Mystagoge wird“, nimmt er ernst, dass religiöses Erleben nur im Vollzug des Selbstbewusstsein entdeckt werden kann, Religiosität also in einer erstpersönlichen Haltung besteht, die mit dem Vollzug von Freiheit einhergeht. Genau ein solcher selbstreflexiver Prozess macht im klassischen Verständnis Bildung aus.
Bevor nicht ein Bewusstsein für Religiosität bzw. Glauben im Sinne eines Gefühls der Verwiesenheit auf das absolute Geheimnis und der Verdanktheit dafür entwickelt worden ist, können die Botschaften der Religionen nur schwerlich in eine bedeutsame Verbindung mit dem eigenen Leben gebracht werden. Wie deren Überzeugungen und Praktiken angeeignet werden, haben die Betroffene wiederum frei zu entscheiden. Dass es dabei zu pluralen und hybriden Glaubensmustern kommt, die sich zusätzlich im Laufe des Lebens verändern können, ist keineswegs erst neueren Datums – vielleicht nur heute aufgrund der Vielfalt der möglichen Optionen verschärft der Fall. Gerade das erhöht allerdings die Notwendigkeit einer jeweiligen selbstreflexiven Vergewisserung.
Prof. Dr. Dr. hc. Norbert Mette war Professor für Praktische Theologie in Paderborn (1984 – 2002) und für Religionspädagogik bzw. Praktische Theologie in Dortmund (2002-2011).
Thesenförmige Kurzfassung des Artikels „Religiöse Bildung in einer religiös sich transformierenden Gesellschaft“ [in: Andrea Lehner-Hartmann/Viera Pirker (Hg.), Religiöse Bildung – Perspektiven für die Zukunft, Ostfildern 2021, 81-103]. Belege für die Zitate sind der Langfassung zu entnehmen.
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