Daniela Feichtinger geht der Frage nach, was das eigene Tun zu Theologie macht: Ist es der Ort? Ist es das Sprachspiel? Ist es Expertise? Es ist noch mehr und ganz anderes.
Ich hatte nicht Theologie studiert, um in ihr zu wohnen wie in einem kuriosen alten Haus mit wertvollen Möbeln und einem Dachboden voll staubiger Kisten. Die Theologie sollte mir eine altehrwürdige Schule sein – ein Durchgangsort, an dem ich gern zum Lernen verweilte. Am Ende würde ich aber ausziehen müssen: Schulen sind schließlich kein Selbstzweck.
Als der Tag gekommen war, ich meine Finger auf das Zepter der Fakultät legte und gelobte, hatte ich mich entschieden, das Doktorat anzuschließen. Meine Doktormutter und ein bewilligtes Projekt ermöglichten es mir, eine Stelle an der Universität zu bekommen. Einige Monate nach dem Studienabschluss durfte ich schließlich mein Büro beziehen.
Nun wohnte ich also doch in der Schule.
Was ich in meinem Kämmerchen machte, wurde mehr und mehr Wissenschaft. Aber war es Theologie?
Die Freude darüber war und ist sehr groß: Inmitten meiner unzähligen Bücher kann ich ungestört forschen und mir mit der alttestamentlichen Bibelwissenschaft mein Leben finanzieren. Doch nach dem ersten halben Jahr setzte ein gewisses Unbehagen ein. Die Arbeit ging zwar gut voran – aber war das Theologie, was ich da in meinem Kämmerchen trieb?
Allmählich begann ich, auf Konferenzen meine ersten Forschungsergebnisse zur Diskussion zu stellen. Dieser Aufbruch hinein in den Austausch belebte mein Arbeiten immens. Gleichzeitig kam ich an neue Grenzen. Das Vortragsdeutsch oder ‑englisch beherrschte ich intuitiv, doch das Sprachspiel des restlichen Tagungsgeschehens war mir fremd. Stilles Beobachten und dreiste Fragen helfen mir seither, die Gesetzmäßigkeiten dieser Welt zu verstehen, in der ich schließlich heimisch werden will. Manchmal bleibt mir auch nur der beschämende Weg durch den Fettnapf. (Erzählen Sie einem Professor nicht von der Festschrift, die gerade für ihn in Arbeit ist. Er ahnt es bestimmt. Aber Festschriften sind top secret.)
Was ich in meinem Kämmerchen machte, wurde mehr und mehr Wissenschaft. Aber war es Theologie?
Eingepackt in meine Expertise treibe ich auch bei starker Strömung immer obenauf.
Eine Bibelrunde und eine Vortragsreihe in einer Pfarre boten mir die Möglichkeit zum road testing meiner Ansätze. Was hielten wohl Christinnen und Christen von ihnen, die ihre je eigenen Fragen an die Texte hatten? – Sie begegneten meiner fabrikneuen Theologie begeistert bis ablehnend.
Es ist mir kein Anliegen, jemandem Enttäuschungen zu ersparen. Sie sind unvermeidlich, wenn man mit dem Text am Lebensflussufer um das Wort Gottes ringt. Doch sie sind nicht mein Ziel. Ich will die Menschen zum Ringen ausrüsten, einen Kreis um sie und mich ziehen, in dem wir uns im Rudel an den Text heranpirschen und unsere Beute miteinander teilen. Das ist in Wirklichkeit eine unblutige Angelegenheit, aber alles andere als harmlos.
Auch noch im Büro beschäftigen mich die Gefühle, die Alte und Junge, Handwerker und Ärztinnen, Hausfrauen und Lehrer in ihrer je eigenen Sprache an mir oder der Bibel auslassen. Manche der Menschen hatten gerade einen schlechten Tag, andere ein schlechtes Leben. Für viele ist Gott der liebe Gott, für einige ein Despot: Fast jedes Gottesbild kollidiert einmal mit einem Bibeltext. Alle waren willens, sich einen Abend mit mir der Heiligen Schrift auszusetzen. Viele konnten und wollten sich äußern. – Kein einziges Anliegen war trivial.
Ob die Begegnungen nun am unteren Ende der universitären Hierarchie oder an vorderster Front des Pfarrsaals stattfinden – ich bin eine Expertin. Eingepackt in meine Expertise treibe ich auch bei starker Strömung immer obenauf. Nachdem ich dieser Logik zuvor stets treu geblieben war, fing ich vergangenes Jahr schließlich an, ehrenamtlich – und ohne intellektuelle Schwimmweste – in einer Einrichtung für psychisch schwer belastete Frauen zu arbeiten.
Begegnungen ohne intellektuelle Schwimmweste. Selten kommt Gott zur Sprache.
Mittlerweile verbringe ich seit einem Jahr regelmäßig meine Freizeit mit ihnen. Ihre Sprache weist mir einen Ort zu, an dem ich mich nicht halb so wohl fühle wie sonst als Expertin. Sie sprechen mit mir im Dialekt – mir gelang das erst langsam. Schließlich war diese theologisch seltsam machtlose Redeweise sonst auf mein Zuhause beschränkt. Manche der Frauen nennen mich „Mädel“, weil ich ihre Enkelin sein könnte, oder sie tätscheln mir liebevoll die Wange. Hin und wieder erzählen sie mir von den Grausamkeiten ihres Lebens. Manchmal attackieren sie mich – aus Gehässigkeit oder Krankheit.
Ich fühle mich dort weder wie Wonder Woman noch wie der unkonventionelle Bicycle Repair Man aus dem Monty Python Sketch von 1969, der endlich das Lebenswissen mitbringt, das allen fehlt. Niemand fragt mich als Theologin an. Keine will Antworten. Selten kommt Gott zur Sprache. Ich bin die aufmerksame Schülerin dieser Frauen, die viel zu sagen haben und von mir nichts brauchen als Zeit und Aufmerksamkeit.
Wie könnte eine Theologie klingen, die auch jene nicht ausgrenzt, die nichts von Gott hören können?
Auch diese Begegnungen folgen mir in mein Büro, wo mir Dorothee Sölle in den Sinn kommt: „Am schwersten ist es unsere wahrheit zu sagen / so daß sie niemanden ausschließt“[1]. Wie könnte eine Theologie klingen, die um diese Frauen weiß – die auch jene nicht ausgrenzt, die nichts von Gott gehört haben oder hören können, weil ihnen das Gedröhne des Lebens das Trommelfell zerfetzt hat?
Es wäre wohl keine universale Theologie, die alle ohne ihre Zustimmung eingemeindet, sondern jeder Mensch könnte für oder gegen sie sein, weil er sie versteht. Es wäre nicht Theologie auf einem besonders niedrigen Niveau: Die Rede von Gott ist anspruchsvoll, an wen auch immer sie sich richtet. Sie müsste sich allerdings bewusst sein, mit wem sie es zu tun hat: Denn es ist unverschämt, an der Universität bibelpastorale Übergriffe zu starten oder sich vor dem wehrlosen Kirchenvolk in belanglosem Gebrabbel zu verlieren.
Letztendlich ist es zu einfach, sich als heilbringende Boje anzubieten. Die Kunst wird sein, in die fremdsprachlichen Meere zu steigen und von denen schwimmen zu lernen, die in ihnen leben. Mein Kämmerchen ist ein Zelt am Strand. Was darin geschieht, ist vermutlich Theologie.
Daniela Feichtinger promoviert im Fach Altes Testament an der Katholisch-theologischen Fakultät Graz. Wie sie zur Theologie kam, das beschrieb sie vor einiger Zeit auf feinschwarz.
(Photo: Daniela Feichtinger)
[1] Sölle, Dorothee: Weitere versuche lieben zu lernen, in: verrückt nach licht. gedichte, Berlin: Fietkau 32003, 79.