Bernd Jochen Hilberath und Mahmoud Abdallah haben 2018 in zweiter Auflage das Buch herausgegeben: „Theologie des Zusammenlebens. Christen und Muslime beginnen einen Weg.“ Regina Polak stellt in ihrer Rezension zentrale Gedankengänge des Bandes vor und formuliert weitergehende Fragen.
Als im Jahr 797 nach Christus im Kloster Mar Saba, zehn Kilometer von Jerusalem entfernt, 20 Mönche unter der Folter durch eine Gruppe arabischer Krieger ermordet werden, beginnt nach 150 Jahren des für damalige Verhältnisse relativ friedlichen Zusammenlebens zwischen Christen und Muslimen für die orthodoxen Christen des Kalifats eine neue Ära. Sie findet als drohende Auslöschung durch die Figur des „Anti-Christen“, für den die muslimische Herrschaft steht, in apokalyptischen Texten ihren Niederschlag.
In seinen Analysen der damit verbundenen weltpolitischen Ereignisse zeigt der christliche Theologe Nestor Kavvadas, welchen verhängnisvollen Einfluss die damalige europäische Außenpolitik bzw. Diplomatie auf die nun folgenden zerstörerischen Ereignisse haben sollte: Während die Christen des Kalifats unterdrückt und dezimiert werden, rivalisieren die drei größten Reiche der damaligen Zeit – das fränkische, das abbasidische und das byzantinische Reich – darum, wer deren eigentlicher Protektor ist.
Internationale Hegemonie-Politik wirkt sich auf das alltägliche Zusammenleben von Menschen verschiedener Religionen aus.
Ohne daraus unmittelbare Schlüsse für die Gegenwart zu ziehen, erinnert Kavaddas daran, „dass, wenn international aktive politische Eliten das Islam-Christentum-Problem ganz oben auf ihre geopolitische Agenda stellen, dies oft zu einem Moment der Zerstörung werden kann für die zutiefst problematischen, jedoch irgendwie überlebensfähigen Strukturen eines geteilten Alltags, vielleicht auch eines Zusammenlebens von Muslimen und Christen im Nahen Osten.“ (S. 140).
Wie sehr sich internationale Hegemonie-Politik auf das alltägliche Zusammenleben von Menschen verschiedener Religionen auswirken kann, ist nur eine von unzähligen und mit Blick auf global- und nationalpolitische Entwicklungen hochaktuellen Einsichten, die sich dem Leser, der Leserin des höchst informativen Sammelbandes „Theologie der Zusammenlebens“ eröffnen. 2018 in bereits zweiter Auflage im Matthias-Grünewald Verlag erschienen, eröffnet der Band, herausgegeben von Bernd Jochen Hilberath und Mahmoud Abdallah, als erster die Reihe „Theologie des Zusammenlebens. Christliche und Muslimische Beiträge“.
Was kann die jeweilige Expertise zur Frage des Zusammenlebens zwischen Christ/innen und Muslim/innen beitragen?
Christliche und islamische Theolog/innen, Vertreter/innen anderer Wissenschaften sowie Praktiker/innen gehen darin der Frage nach, was die jeweilige Expertise zu der heute so brisanten Frage des Zusammenlebens zwischen Christ/innen und Muslim/innen beitragen kann. Zwei exemplarische Beispiele seien angeführt.
Ein Juwel ist der Beitrag des Professors für Theologie der Kultur und des interreligiösen Dialoges Karl-Josef Kuschel, der ausgehend von einer differenzierten Zeitanalyse vom „Kältestrom der Entfremdung“ (S. 51) ebenso spricht wie von einem „Wärmestrom wechselseitiger Koexistenz und Kooperation“ (S. 55). Seine theologischen Überlegungen zu Abraham, der als „Wurzel“ ebenso trennt wie eint (S. 56ff.), werden in diesen zeitgenössischen Kontext eingebettet und führen zu praktischen Konsequenzen (S. 60ff.). Dazu zählt Kuschel u.a. die Aufgaben, „gemeinsame Überlieferungen gesprächsfähig machen“ und ein „gemeinsames Wurzelbewusstsein entwickeln“, zu denen auch die Auseinandersetzung mit den „persistierenden Traumata der gemeinsamen Geschichte“ (S. 61) gehört.
Säkularisierung als Erfolg durch Förderung von Pluralität
Die islamische Theologin Lejla Demiri wiederum würdigt die bisherige Geschichte der Säkularisierung als „Geschichte des Erfolgs“ (S. 83), da sie eine historisch neuartige Pluralität ebenso fördert wie zahlreiche gute interreligiöse Kontakte und Beziehungen. Diese jedoch werden aus ihrer Sicht nicht ausreichend gewürdigt. Dies wäre aber notwendig, weil sie verdeutlichen, dass „unsere Species nicht von Natur aus allergisch auf Unterschiedlichkeit reagiert“ (S. 61). Zugleich ruft sie in Erinnerung, dass die heute gesuchte Theologie der Koexistenz keinesfalls ausschließlich Produkt der Aufklärung und Moderne ist, sondern zeigt anhand von historischen Beispielen, dass diese als „jahrhundertealte, dem Islam intrinsische Tradition“ (S. 84) existiert.
Der Sammelband eröffnet einen weiten und interdisziplinärer Horizont und bietet sowohl christlich als auch islamisch theologisch fundiert und praxisbezogen reichhaltiges Material. Aus einer praktisch-theologischen Perspektive ist überdies erfreulich, dass diesem Zugang ein eigener Teil gewidmet ist. Gleichwohl möchte ich aus dieser Sicht einige Ideen und Fragen formulieren.
Desiderat: Rezeption der Diskurse über „Andere“ und „Fremde“
Zum ersten erscheint mir der Begriff des Zusammenlebens differenzierungsbedürftig. Was genau wird damit beschrieben – empirisch und normativ, und auf welcher Ebene der Gesellschaft, der Mikro-, Meso-, oder Makroebene? Welche impliziten Vorstellungen und Ethiken vom „guten Zusammenleben“ sind leitend? Was wissen wir über die sozialpsychologischen, politikwissenschaftlichen und soziologischen Rahmenbedingungen und Gesetzmäßigkeiten des Zusammenlebens? Die Stimmen anderer Disziplinen und deren theologische Würdigung sind in einem solchen Projekt unverzichtbar, da damit die Theologien des Zusammenlebens besser eingebettet sind und auch fruchtbar werden können.
Die Frage der Unterschiede und der Differenz zwischen Christentum und Islam wird in den Beiträgen immer wieder reflektiert. Aber eine fundamentale, interdisziplinäre Auseinandersetzung mit dem Phänomen des „Anderen“, vor allem mit „dem Fremden“, fehlt noch. Die Rezeption der Alteritäts- und Alienitätsdiskurse in den Philosophien und der Theologien der 1980er- und 1990er-Jahre scheint mir ein wichtiges Desiderat zu sein. Ohne fundierte theologische Würdigung v.a. des schmerzend und bleibend Fremden wird der Friede immer nur fragil gesichert sein.
Praxis ist mehr als Konsequenz und Schlussfolgerung aus Systematik und Geschichte.
Praxis-Erfahrungen werden als Konsequenzen erkannt und bedacht. Aber als loci theologici, als glaubens- und theologiegenerative Orte, werden sie kaum systematisch gewürdigt. Aus christlicher Sicht stellt sich jedoch die Frage: Wodurch werden diese guten Erfahrungen des Zusammenlebens aus theologischer Sicht möglich? Was erzählen sie uns über Gottes Wirken und Wirklichkeit in der Gegenwart? Praxis ist mehr als Konsequenz und Schlussfolgerung aus Systematik und Geschichte.
Diese Rückfragen sollen keinesfalls als beckmesserische Kritik verstanden werden. Kein erster Band kann die Fülle der Facetten und Fragestellungen, die dieses Projekt aufwirft, abdecken. Ich führe sie an, weil ich dieses Projekt für zukunftsweisend und hervorragend gelungen erachte und dem ersten Band noch viele weitere wünsche. Denn es geht bei der Frage des Zusammenlebens von Menschen unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Selbstverständnisses um eine der zentralen Lebens- und Überlebensfragen des 21. Jahrhunderts.
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Der vorliegende Beitrag ist eine Rezension zu: Bernd Jochen Hilberath/Mahmoud Abdallah (Hg.): Theologie des Zusammenlebens. Christen und Muslime beginnen einen Weg. Reihe: Theologie des Zusammenlebens. Christliche und muslimische Beiträge. Band 1, Ostfildern: Matthias Grünewald Verlag, 2. Auflage, 2018. ISBN: 978-3-7867-4010-0
Die ausführliche Fassung dieser Rezension finden Sie HIER: Polak Rezension Hilberath.
Autorin: Regina Polak ist Professorin am Institut für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien
Beitragsbild: Gerd Altmann auf Pixabay
Bereits auf feinschwarz.net erschienen von Regina Polak u.a.:
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