Obwohl Religion deutlich an Relevanz verloren hat, plädiert Judith Könemann dafür, dass die theologische Ausbildung weiterhin an den staatlichen Universitäten verbleiben soll. Dazu führt sie drei Gründe an: Die Bedeutung von Religion als gesellschaftlicher Faktor, den Öffentlichkeitsanspruch des Christentums und die Tatsache, dass eine ihrer wesentlichen Aufgabe in der Befähigung zur Unsicherheitstoleranz ist.
Der Beitrag beruht auf einem im Rahmen der Podiumsdiskussion anlässlich der Verabschiedung von Prof. Martina Blasberg-Kuhnke am 22.November 2024 in Osnabrück vorgetragenen Statement. Der mündliche Stil wurde beibehalten.
Religion als wichtiger gesellschaftlicher Faktor
Religion hat in den vergangenen Jahrzehnten in erheblichem Maße an sozialer und gesellschaftlicher Relevanz verloren, nichtsdestotrotz bleibt sie – betrachtet man die vielen politischen und gesellschaftlichen, oftmals konfliktiven Debatten um Religion der Vergangenheit und Gegenwart – ein wichtiger und zentraler Faktor in unserer Gesellschaft. Dabei scheint sich die Bedeutung von Religion von der individuell-religiösen auf die politisch-gesellschaftliche Ebene zu verschieben. Die öffentlich-politische Ebene tritt angesichts des sozialen Bedeutungsverlusts der individuellen Religiosität stärker in den Vordergrund. Zudem ist Religion ein wichtiger Marker auf bildungspolitischer Ebene, viele religionspolitische Entscheidungen werden im Bereich der Bildungspolitik ausgetragen, z.B. die Einrichtung islamischen Religionsunterrichts oder die Auseinandersetzung um religiöse Symbole in Klassenzimmern.
Es braucht ein kognitives Wissen über Religion, um religiöse Phänomene wahrnehmen und ihre Bedeutung erschließen zu können.
Angesichts dieser Situation bedarf es einer Grundkompetenz in Sachen Religion, d.h. es bedarf eines kognitiven und nicht zuletzt auch affektiven Wissens über religiöse Deutungssysteme, um religiöse Phänomene wahrnehmen und in ihrer Bedeutung erschließen zu können, und zwar unabhängig von dem, was Max Weber religiöse Musikalität genannt hat, also unabhängig davon, ob jemand religiös gestimmt ist oder nicht.
Diese Grundkompetenz in Religion ist notwendig, um ein grundlegendes Verstehen von und gegebenenfalls Verständnis für Religion zu ermöglichen. Das beinhaltet, über die kognitive und affektive Auseinandersetzung mit religiöse Deutungssystemen einen Verstehenshorizont dafür zu eröffnen,
- warum sich Menschen an Religion binden,
- warum sie unter den pluralen Sinndeutungssystemen gerade Religion als das für sie passende oder für sie „richtige“ wählen, und
- warum die individuelle Entscheidung für Religion bzw. für ein religiöses Leben keine irrationale Entscheidung ist, auch wenn diese Entscheidung individuell nicht geteilt wird.
Erst wenn ein solches Verstehen im Sinne eines Nachvollziehens möglich ist, wird Akzeptanz und Verständnis für die Haltung der Anderen ermöglicht.
Es bedarf also, so meine Überzeugung, unabhängig von der je eigenen Haltung gegenüber Religion eines Wissens und einer Kompetenz im Umgang mit religiösen Phänomenen, um der religiösen Bindung von Menschen an Religion in einer Gesellschaft und den daraus resultierenden auch öffentlichen und politischen Ansprüchen zum einen gerecht zu werden, und zum anderen damit umgehen zu können.
Dabei erstreckt sich – wie schon angedeutet – eine solche Grundkompetenz nicht allein auf die kognitiven Gehalte von Religion, sondern ebenso auf die religiösen Praktiken und emotionalen Gehalte des Religiösen. Für die Vermittlung einer solchen Grundkompetenz in Sachen Religion bedarf es gut ausgebildeten Personals. Dass die Ausbildung dafür an staatlichen Universitäten stattfinden sollte, liegt auf der Hand.
Öffentlichkeitscharakter des Christlichen
Die Verortung theologisch/religiöser Bildung im öffentlichen Bildungssystems, ob in der Schule oder an der Universität, hat seinen Grund zum Zweiten im öffentlichen Charakter von Religion und dem daraus resultierenden Anspruch zumindest der monotheistischen Religionen auf gesellschaftliche Mitgestaltung. In der späten Moderne ist nun der Monopolanspruch der christlichen Kirchen auf übergreifende und Gesellschaft orientierende wie normierende Sinndeutung verloren gegangen; es finden sich religiöse Sinndeutungssysteme neben säkularen. Bereits vor weit mehr als zwanzig Jahren hat der Theologe und Religionssoziologe Karl Gabriel die Kirchen daher als zivilgesellschaftliche Player bestimmt. Zivilgesellschaft, heute vielfach auch als Bürger:innengesellschaft bezeichnet, verstanden als der soziale Raum zwischen privat und staatlich, ist der ‚zivile‘ Ort der öffentlichen und gesellschaftlichen Diskussionen, Auseinandersetzungen und somit auch Ort der Konfliktaushandlung. In diesen diskursiven öffentlichen Raum können auch die Kirchen ihre Vorstellungen von gutem Leben, von Gemeinwohl und gelingendem Zusammenleben einbringen.
Religionspädagogik als theologisches Fach ist von ihrem Gegenstand, der Bildung, und von ihren Bildungsorten her gerade keine Privatsache, sondern eine zutiefst das Gemeinwesen und das Gemeinwohl betreffende öffentliche Angelegenheit
In diesen Öffentlichkeitscharakter des Christlichen ist die Religionspädagogik als theologisches Fach bereits von ihrem Entstehungskontext in der Aufklärung und durch ihre konstitutive Bezogenheit auf eine sich ausdifferenzierende Gesellschaft eingebunden. Sie ist von ihrem Gegenstand, der Bildung, und von ihren Bildungsorten her gerade keine Privatsache, sondern eine zutiefst das Gemeinwesen und das Gemeinwohl betreffende öffentliche Angelegenheit.
Hinsichtlich der Differenzierung zwischen staatlicher und zivilgesellschaftlicher Sphäre ist die Religionspädagogik nun sowohl Teil der staatlichen wie der zivilgesellschaftlichen Sphäre:
- Teil der staatlichen ist sie durch den von ihr verantworteten Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach und seine Einbindung in den öffentlichen Bildungsauftrag.
- Teil der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit ist sie, da es ein wichtiges Bildungsziel ist, Schüler:innen über den Erwerb grundlegender kognitiver wie affektiver Kompetenzen zu einem zivilgesellschaftlichen Handeln zu befähigen und damit zu einem Handeln, das zu einem gelingenden gesellschaftlichen Zusammenleben beiträgt.
Die gegenwärtigen Debatten um Pluralität, Migration, Diskriminierung, Antisemitismus machen deutlich, wie wichtig der Erwerb entsprechender Kompetenzen ist.
Bildung als Befähigung zur Auseinandersetzung mit Grundfragen der Existenz
Schließlich spricht für eine gute theologische Bildung, die sich auch in der Auseinandersetzung mit den anderen Wissenschaften behauptet, dass (religiöse) Bildung, versteht man darunter nicht nur einen puren Bildungsmaterialismus, unabdingbar mit existentiellen Fragen, mit der Frage nach letzten Gründen, mit Unbedingtheitsansprüchen, man könnte auch sagen: mit Metaphysik, zu tun hat.
Jürgen Baumert hat dies in seinem Plädoyer für einen konstitutiv-rationalen Weltzugang als einem der vier entscheidenden Bildungszugänge auch aus nicht-theologischer Perspektive deutlich gemacht. Bildung will das Subjekt zu einer Erschließung und Deutung seiner Selbst, der Welt und der Wirklichkeit befähigen. Damit ist Religion zwar nicht der einzige, aber ein bedeutender Weltzugang, der sich mit den jedem Menschen aufgegebenen existentiellen Fragen auseinandersetzt und als solche eine entscheidende Rolle für das menschliches Sein spielt. In diesem Sinne muss der moderne Mensch nicht, aber er kann auf religiöse Deutungen zurückgreifen, wenn es um den Grund und Ursprung der eigenen Existenz und der Welt als Ganzer, wenn es um Kontingenzbewältigung, Sinnfrage oder Zielbestimmung des Lebens geht, oder auch, wenn es um den Bezug zu Anderen geht, also gerade dann, wenn soziale Beziehungen und Anerkennungspraxen im Mittelpunkt stehen.
Bildung will das Subjekt zu einer Erschließung und Deutung seiner Selbst, der Welt und der Wirklichkeit befähigen.
Der evangelische Religionspädagoge Peter Biehl sah die bleibende Bedeutung der über zweihundert Jahre alten klassischen, neuhumanistischen Bildungskonzepte darin, dass diese die „neuzeitliche Grundsituation“ erkannt hätten. Er meint damit das Zerbrechen kosmologischer Einheit und die Durchsetzung der Moderne mit all ihrer Differenzierung, all ihren Errungenschaften, aber auch ihren Verwerfungen. Die neuhumanistischen Bildungskonzepte hätten diese Situation in aller Schärfe erfasst. Die entscheidende Aufgabe von Bildung sei es nun, den Menschen zu befähigen, mit dieser „neuzeitlichen Grundsituation“ umzugehen und diese zu bewältigen.
Damit zielt (religiöse) Bildung gerade nicht auf die Wiederherstellung einer Einheitsperspektive oder auf eine ganzheitliche Weltsicht ab. Es ist ihr auch nicht darum zu tun, gegebene Widersprüche aufzulösen. Vielmehr richtet sie sich auf die Befähigung des Individuums, Widersprüche, ambige Situationen auszuhalten und mit ihnen umgehen zu können. Es geht also nicht in erster Linie darum, Sicherheit und Eindeutigkeit zu schaffen, sondern Unsicherheit und Mehrdeutigkeit auszuhalten. Religiöse Bildung zielt also letztlich auf die Befähigung zu einer Unsicherheitstoleranz oder auf das, was Ernst Troeltsch mit dem wunderbaren Ausdruck „Zusammenbestehbarkeit“ bezeichnet hat. Die Befähigung dazu wird in der theologischen Bildung gerade im Kontext staatlicher Universitäten vermittelt.
Ausführlicher sind obige Überlegungen nachzulesen in: Judith Könemann, Religiöse Bildung für religiös Unmusikalische, in: Knauth, Thorsten/Mitchell, Gordon/Weiße, Wolfram (Hrsg.), Ansätze, Kontexte und Impulse zu dialogischem Religionsunterricht, Münster: Waxmann 2020, 71-82.
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Prof. Dr. theol. Judith Könemann, Dipl-Theol., Soziologin, Erziehungswissenschaftlerin (M.A.), seit 2009 Lehrstuhl für Religionspädagogik, Bildungs- und Genderforschung sowie Co-Leiterin der Arbeitsstelle Theologische Genderforschung an der Katholisch-Theologischen Fakultät Münster.
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