Gibt es im Alten Testament, näherhin in der Tora so etwas wie Tierethik? Und hat die Tora zum Thema „Tierethik“ etwas Maßgebliches zu sagen? Ja, betont Anna Kraml und beschreibt auch, warum und was.
Die Tierethik gehört neben Umwelt- und Klimaethik wohl zu den großen Themen des beginnenden 21. Jahrhunderts. Sie befasst sich als Teilgebiet der Ethik mit jenen Fragen, die das Zusammenleben zwischen Mensch und Tier betreffen. Nun postulieren Theolog:innen, besonders aber Bibelwissenschaftler:innen ja gerne, dass die Bibel auch heute noch Relevanz für unser Leben hat. Wie also sieht es mit der Relevanz der Tora für die Tierethik aus? Gibt es so etwas wie Tierethik in der Tora?
Die Schöpfung als veganes Paradies?
„Im Anfang schuf Gott…“ nicht nur den Menschen. Die beiden Schöpfungserzählungen in Gen 1-2 weisen auf verschiedene Aspekte des Miteinanders zwischen Mensch und Tier hin. In Gen 2,7.19 werden Menschen und Tiere als nephesch chaja „Lebewesen“ geschaffen. In Gen 1,20-21.24 werden nur die Tiere dezidiert als nephesch chaja bezeichnet. Die hebräische Bezeichnung nephesch wird jedoch innerbiblisch häufig mit Bezug auf den Menschen verwendet und kann auch mit ‚Seele‘ oder ‚Person‘ übersetzt werden. Zugleich lässt Gen 1,29-30 über eines keinen Zweifel: Menschen und Tiere sollen sich von Pflanzen ernähren – vegan also.
Furcht und Schrecken vor euch soll sich auf alle Tiere der Erde legen (Gen 9,2)
Es bleibt nicht bei diesem Idealzustand. Gen 9 eröffnet einen neuen Blick und führt zu einer einschneidenden Neubestimmung der Mensch-Tier-Beziehung. Einerseits schließt Gott in Gen 9 seinen Bund mit allen Lebewesen (Gen 9,9-10). Schon in dieser Formulierung der Bundespartner wird klar, dass dieser Bund umfassend ist – und dass die Tiere selbstverständliche Partner dieses Bundes sind. Wenn der Bund als rechtliche Vereinbarung verstanden wird, dann sind die Tiere auch Rechtssubjekte dieses Bundes. Eine Wertschätzung der Tiere, von der die moderne Gesetzgebung weit entfernt ist. Jedoch darf der Mensch ab jetzt das Fleisch der Tiere als Nahrung zu sich nehmen (Gen 9,3-4) – er darf sie töten. Wechselwirkend gilt das nicht für die Tiere – sie werden von Gott zur Rechenschaft gezogen, wenn sie menschliches Blut vergießen (Gen 9,5).
Auch darin zeigt sich der Status der Tiere als Rechtssubjekte, die, wie der Mensch auch, von Gott für ihr Tun zur Verantwortung gezogen werden. Gleichzeitig ergibt sich daraus eine – durchaus problematische – Asymmetrie zwischen Mensch und Tier. Es ist also kein Wunder, dass die Tiere sich vor den Menschen fürchten (müssen) (Gen 9,2: „Furcht und Schrecken vor euch soll sich auf alle Tiere der Erde legen“). Und ist diese Furcht nicht auch heute noch gerechtfertigt?
Der Mensch als Herrscher über die Tiere?
Es bleibt (zum Glück) nicht nur bei diesem Bild. In der Tora kommen den Tieren bestimmte Rechte zu. Ex 20,10; 23,12 und Dtn 5,14 beziehen die Tiere explizit in das Sabbatgebot mit ein. Die markanteste Begründung dafür liefert Ex 23,12: „… damit dein Rind und dein Esel ausruhen“. Auch die Tiere haben ein Recht auf Ruhe. Mehr noch: Sie sind einer der Gründe für das Arbeitsverbot.
… damit dein Rind und dein Esel ausruhen. (Ex 23,12)
Weitere Gebote betreffen die Arbeitsbedingungen der Tiere: Während der Arbeit darf etwa einem Ochsen das Maul nicht verbunden werden (Dtn 25,4). Grundsätzlich bedeutet das Gebot, dass auch dem Tier sein Anteil an seiner Arbeit zusteht. Zudem dürfen Ochs und Esel nicht gemeinsam vor den Pflug gespannt werden (Dtn 22,10) – ein Gesetz, das auch dem Schutz der Tiere dient. Das Zusammenspannen wäre durch den Unterschied in Größe und Gewicht für beide Tiere unvorteilhaft und würde das Verletzungsrisiko erhöhen.
Achtsamkeit und Hilfeleistungen
Auch Hilfeleistungen an Tieren werden vom Menschen gefordert: Verirrt sich ein Tier, so muss der Mensch sich um es kümmern und es versorgen, bis sein Besitzer gefunden ist (Dtn 22,1-3) – sogar wenn es sich um das Tier eines Feindes handelt (Ex 23,4). Stürzt ein Tier, dann muss ihm geholfen werden (Ex 23,5; Dtn 22,4). Und der Tierschutz erstreckt sich auch auf Wildtiere: Ihnen soll der Mensch im Sabbatjahr einen Anteil an der Ernte übrig lassen (Ex 23,10).
Gleichzeitig wird eine grundlegende Achtsamkeit des Menschen dem Leben gegenüber gefordert: Eine Vogelmutter darf nicht getötet werden (Dtn 22,6) – ein Gesetz, das häufig als Arterhaltungsgesetz gelesen wird, das aber schon Maimonides (12. Jh. n. Chr.) als Tierschutzgesetz interpretierte. Nach Lev 22,27 muss ein Jungtier sieben Tage bei seiner Mutter bleiben, bevor es geschlachtet werden darf (ähnlich auch Ex 22,29). Gebote, die, wie Ex 23,19 (das Böcklein nicht in der Milch seiner Mutter zu kochen), die Verbindung zwischen Mutter und Jungtier unter einen besonderen göttlichen Schutz stellen.
Lev 22,24 verbietet die Opferung kastrierter Tiere, betont aber in einem Beisatz: „Ihr dürft das in eurem Land nicht tun“. Es ist davon auszugehen, dass es sich um ein generelles Kastrationsverbot handelt. Ein Verbot, das es im österreichischen Tierschutzgesetz ebenfalls gäbe, das aber in §7 Abs. 2 zur Verhütung der Fortpflanzung umgangen wird.
Was habe ich dir getan?
Im Sinne der Tora sind Tiere selbstverständlich Teil der menschlichen Lebens- und Arbeitswelt und werden vom Menschen als Arbeitshilfe, aber auch zur Nahrungsmittelproduktion genutzt. Jedoch erfolgt diese Nutzung immer mit einer entsprechenden Achtsamkeit für die Bedürfnisse der Tiere. Ihnen kommen Rechte zu, die der Mensch gewährleisten muss und auf die er zu achten hat. Nach dem Verständnis der Tora beschwert sich Bileams Esel zu Recht, wenn er ausruft: „Was habe ich dir getan, dass du mich nun schon zum dritten Mal schlägst?“ (Num 22,28).
Nach dem Verständnis der Tora beschwert sich Bileams Esel zu Recht.
Diese Achtsamkeit dem Tier gegenüber scheint in der heutigen Tierhaltung oft verloren gegangen zu sein – besonders, wenn es sich nicht um das „süße“ Haustier handelt. Und so wird der biblische Esel zur Chiffre für das „Warum?“ aller Tiere.
Anna Kraml ist Religionslehrerin und Referentin für Bibelpastoral in Innsbruck und promoviert demnächst im Fach Altes Testament.
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