Eine kurze theologische Zeitansage mit Augustinus und der Literatin Naomi Alderman (Stefan Gärtner)
„Was ist also die Zeit? Wenn mich niemand fragt, weiß ich es; wenn ich es aber jemandem auf seine Frage erklären möchte, weiß ich es nicht.“ Solche stilistischen Balanceakte erwartet man nicht bei einem Kirchenlehrer. Keine Dogmatik, sondern östlich angehauchte Weisheit, die Augustinus im elften Buch seiner Bekenntnisse aufgeschrieben hat. Das wäre auch etwas für den Glückskeks beim Chinesen.
Zeitdruck, Eigenzeit und Beschleunigung
Menschen können heute wahrscheinlich auch nicht genau sagen, was die Zeit ist. Was sie aber wissen ist, dass sie oftmals zu wenig Zeit haben. Viele fühlen sich gehetzt. Der Rhythmus ihres Lebens verläuft nicht mehr synchron mit dem Leben anderer, manchmal selbst nicht von Familie, Partnerin/Partner und Freunden. Ganz zu schweigen vom Chef, der Überstunden erwartet, oder der Gemeinde, die ein unverrückbares Datum zur Bezahlung eines Strafzettels festlegt. Auch für die Klassenarbeit gilt, dass deren Termin nicht immer passt zur Vorbereitung des Stoffs durch die Schüler.
Andere bestimmen über unsere Zeit, auch wenn wir sie stärker als früher selber gestalten können. Sie ist zur Eigenzeit (Helga Nowotny) jedes/jeder Einzelnen geworden. Menschen sollen ihre Zeit im Griff haben, aber sie rinnt ihnen wie Sand zwischen den Fingern hindurch. Eine bisher ungekannte Beschleunigung kommt hinzu. Geld kann heute zum Beispiel so schnell zum Ende der Erde und wieder zurück gebucht werden (natürlich mit Gewinn), dass selbst der Broker an der Börse, der dieses Manöver mit einem Mausklick vollzogen hat, dies nicht mehr wirklich nachvollziehen kann. Die Beschleunigung verändert unsere Zeiterfahrung fundamental.
Naomi Alderman: Disobedience
Jahrhunderte nach Augustinus ist die Frage nach der Zeit also noch immer relevant. So auch in dem Roman Disobedience der englischen Schriftstellerin Naomi Alderman. Es ist die Geschichte einer erfolgreichen lesbischen Geschäftsfrau aus New York. Nach dem Tod ihres Vaters, der Rabbiner in einer streng orthodoxen jüdischen Gemeinde in London gewesen war, kehrt sie in ihr Geburtsland zurück. Das sorgt natürlich für Komplikationen. Diese führen bei der Hauptperson zu einer Auseinandersetzung mit ihren jüdischen Wurzeln. Wurzeln, von denen sie dachte, dass sie sie bereits vor langer Zeit abgeschnitten hätte.
Zeit als Kreis und als Linie
Was ist also die Zeit? Sie kann für Alderman eine runde Form bekommen, wie beim Tag- und Nachtrhythmus, beim Wechsel zwischen Arbeit und Freizeit, bei Ebbe und Flut, im menschlichen Körper oder bei den Jahreszeiten. Die Zeit entpuppt sich als Kreis, in dem Dasselbe auf ähnliche Weise wiederkehrt. Das gilt auch für den Zahnarztbesuch, den jährlichen Beginn der Ferienzeit, die Silvesterknallerei und (zum Glück nicht immer) für die Fußballmeisterschaft des FC Bayern München. Auch das Kirchenjahr hat eine runde Form: jedes Jahr wird Jesus wieder an Weihnachten geboren, um Karfreitag am Kreuz zu hängen und an Ostern aufzuerstehen.
Die Zeit hat aber auch etwas von einer Linie, die auf die Ewigkeit zuläuft. Das Leben ist eine Reise von Geburt zum Tod. Vieles verändert sich und ist in Bewegung. Es scheint zum Beispiel kein Ende des Wirtschaftswachstums zu geben, so lautet zumindest das implizite Versprechen des Kapitalismus. Die Konsumenten sollten dies nicht in Frage stellen, um ihr Vertrauen in Wachstum und Wohlstand nicht völlig zu verlieren. Auch die Vervielfältigung der Erkenntnis zeichnet eine ansteigende Linie. Dank der Wissenschaften kennen wir unsere Welt immer besser. Allerdings machen Menschen trotzdem noch immer dieselben Fehler.
Zeit als Spirale
Alderman kommt in ihrem Roman zu dem Schluss, dass die Zeit sowohl Kreis als auch Linie ist: sie ist mit anderen Worten eine Spirale. Mit der Zeit ist es wie mit dem alten Kirchturm, den jemand besteigt. Mit jedem Umgang kommt er oder sie wieder dort an, wo er oder sie eben schon war, wohl aber auf einem höheren Niveau. Die Zeit kennt Wiederholung und Wiederkehr, aber auch Abbrüche und Überraschungen. Kontinuität und Veränderung prägen zusammen unser Zeiterleben.
Wenn allein die Wiederholung dominieren würde, dann wäre die Zeit eine unendliche Langeweile. Auch der Himmel wird hoffentlich nicht aus unveränderlicher Ewigkeit bestehen. Wenn allein der Fortschritt unsere Zeit markieren würde, dann stellt sich die Frage nach dem Ziel dieses Fortschritts. Optimistische Zukunftsszenarien und Utopien sind nicht mehr zeitgemäß, ob es nun um die klassenlose Gesellschaft, die allgemeine Emanzipation, die weltweite Verteilungsgerechtigkeit oder das Reich Gottes geht. Solche linearen Zielvorstellungen sind für viele unglaubwürdig geworden. Auch wenn jemand angesichts dessen nicht zynisch werden möchte, so klingt der Optimismus der Rolling Stones Time is on my side, yes it is heute zumindest altbacken. Also weder Kreis alleine, noch Linie alleine. Doch auch als Spirale bleibt die Zeit eine Frage, auf die wir die definitive Antwort nicht kennen.
Bild: RainerSturm / pixelio.de (www.pixelio.de)