Zum Reformationstag blickt Helena Funk auf die Vollversammlung des Lutherischen Weltbunds zurück. Welche Impulse für die ecclesia semper reformanda gehen von ihr aus?
Welcher Satz würde besser zu einem Artikel über die 13. Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes (LWB), der am Reformationstag erscheint, passen, als zu betonen, dass lutherisch sein immer bedeutet in ökumenischen Beziehungen zu leben? Dieses Bekenntnis zum ökumenischen Zusammenleben, ist vielleicht einer der an den häufigsten erwähnten Sätzen auf der Vollversammlung gewesen. Vom 13. bis 19. September 2023 trafen sich mehrere hundert Delegierte und Gäste aus aller Welt in Krakau, Polen. Unter dem Motto „Ein Leib. Ein Geist. Eine Hoffnung.“ (Eph. 4,4) wurden, von biblischen Texten und weltlichen Erfahrungen ausgehend, die Schwerpunkte der Arbeit des LWB für die nächsten Jahre bestimmt.
„Lutherisch zu sein, bedeutet kritisch zu denken“ – Thematische Schwerpunkte der Vollversammlung
Lutherisch zu sein bedeutet auch kritisch zu denken, betonte die Generalsekretärin Anne Burghardt auf dem Vortreffen der jungen Erwachsenen. Ein Satz, der noch lange in mir nachhallte. Sind wir kritisch genug? Hören und sehen wir genau hin?
Sind wir kritisch genug? Hören und sehen wir genau hin?
Jugendpartizipation wird großgeschrieben beim Lutherischen Weltbund – Junge Menschen prägen die Gegenwart und die Zukunft. Mindestens 20% Beteiligung von jungen Erwachsenen wird für alle kirchlichen Gremien gefordert. Ein Punkt, der (leider) auch in Deutschland bei weitem noch nicht Realität ist. Aber immerhin werden stetig weiter Schritte zur Umsetzung gemacht.
Vermutlich ist es daher auch nicht verwunderlich, dass die jungen Erwachsenen dies bei ihren Prioritäten aufnahmen. Eine generationsübergreifende Gerechtigkeits-Policy wird gefordert. Also die Erarbeitung einer Strategie, welche zum einen junge Menschen in verantwortlichen Positionen fördert und zum anderen alle Generationen für ein konstruktives Miteinander im Blick hat.
Eine generationsübergreifende Gerechtigkeits-Policy wird gefordert, ebenso wie eine zugängliche Kirche.
Letzterer Punkt findet sich auch in der Forderung nach einer inklusiven bzw. zugänglichen Kirche wieder. Schon auf dem europäischen Vortreffen wurde sich intensiv Gedanken gemacht, wie Kirche heutzutage zugänglich bleiben kann – bezogen auf Sprache, Rituale, Liturgie und auch Themen sowie physische Barrierefreiheit.
Dass das Thema Klimagerechtigkeit weder beim Jugendvortreffen noch auf der Vollversammlung fehlen würde, war zu erwarten. Auf einer konferenzinternen Kundgebung zum Handlungsdruck im Sinne der Klimagerechtigkeit wurde klar, dass die Mehrheit der Anwesenden hinter dem Thema steht. In der Abschlussbotschaft sowie in einer Resolution sprechen die Delegierten sogar von Klimanotstand und nicht mehr von einer Klimakrise, um der aktuellen Situation gerecht zu werden. Viele sehen: Das Problem ist echt und es ist gewaltig. Gefordert wird nicht nur, dass die Kirche im praktischen Handeln eine Vorreiterrolle übernimmt, sondern dass der Klimanotstand auch theologisch begleitet wird und Öko-Theologische Forschung ausgebaut werden soll.
„Klimanotstand“ statt „Klimakrise“
Schon seit Jahren arbeitet der Lutherische Weltbund zu diesen Themen – auch auf internationaler Ebene bei der UN-Klimakonferenz. Aus verschiedenen Mitgliedskirchen weltweit – auch aus deutschen – setzen sich dabei junge Menschen für mehr Klimagerechtigkeit ein. Mit dem neugewählten Präsidenten Henrik Stubkjær aus Dänemark bin ich mir sicher, dass dieses Thema in den nächsten Jahren nicht von der Agenda verschwinden wird. War er doch selbst in den letzten Jahren sehr engagiert beim Weltdienst vom Lutherischen Weltbund und schon jetzt reduziert die Kirche in Dänemark ihre CO2-Bilanz.
Studienprozess zu irreführender und verantwortlicher Theologie
Neben den Schwerpunkt Öko-Theologie wurde der Wunsch nach theologischer Grundsatzarbeit und fundierterer Ausbildung geäußert. So wurde viel über „misleading“ [irreführende] und verantwortliche Theologie diskutiert und beschlossen, hieran in Form eines Studienprozesses weiterzuarbeiten. Dabei wurde wiederholt der Fokus darauf gelegt, auch Frauen, Jugend und so genannte Laien, mehr in den Fokus zu nehmen. Viele stimmten zu, dass gerade populistische Bewegungen für Pushbacks sorgen, also Menschen und bestimmten Personengruppen in ihren Rechten und ihrer Würde zurückgedrängt werden. Ziel dieses Studienprozesses ist es auch Spannungen und unterschiedliche Interpretationen innerhalb der lutherischen Gemeinschaft weltweit wahrzunehmen und einen Orientierungsrahmen zu schaffen bzw. gemeinsam auf dem Weg zu sein.
Besonders bewegend war für mich der Besuch in Auschwitz-Birkenau mit der gesamten Vollversammlung. Bewegend wurde die Zeit durch den historischen, aber auch durch den internationalen Kontext. Menschen, die Genozide in ihren eigenen Lebensgeschichten überlebt haben, gingen mit und so wurde es Aufgabe der Vollversammlung dafür zu sorgen, dass kein Genozid mit einem anderen gleichgesetzt wird, dass jeder für sich allein steht und somit keine Relativierung stattfindet. Zudem wurde durch den Besuch in Auschwitz und dem Vortrag des Überlebenden und heutigen Präsidenten des Auschwitz Komitees Marian Turski der jüdisch-christliche Dialog auf die Tagesordnung gesetzt. Er wäre vermutlich, obwohl mit einem ausführlichen Studiendokument aufgewartet wurde, auf der Vollversammlung zu kurz gekommen.
In Auschwitz-Birkenau mit unterschiedlichen Erfahrungen von Genozid – jede steht für sich.
Viele Themen wurden auf der Vollversammlung diskutiert, berührt und aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Es waren Themen, die in den verschiedenen Regionen der Welt unterschiedliche Brisanz haben. Ob wirklich alle Themen abgebildet sind in der Abschlussbotschaft und den Resolutionen ist natürlich fraglich. Schaut man sich Machtstrukturen und -dynamiken auf der Vollversammlung an, stellt man schnell fest, dass sich trotz aller Bemühungen vor allem Menschen aus dem Globalen Norden zu Wort melden. Aufgefangen wird es vielleicht durch die Anstrengungen, Podien möglichst divers zu besetzen, doch ob somit wirklich die Themen aus dem Globalen Süden ausreichend Raum gefunden haben? Ich bin mir nicht ganz sicher…
Haben die Themen aus dem Globalen Süden ausreichend Raum gefunden?
Spannend wird es jedoch nun zu schauen, wie es mit den Beschlüssen der Vollversammlung weitergeht und was die benannten Themen für die weltweite Strategie des Lutherischen Weltbundes für die nächsten Jahre bedeuten. Wie wird die konkrete Umsetzung in den Lutherischen Kirchen hier vor Ort aussehen? Welche Schwerpunkte sind für uns relevant? Welche Projekte und Handlungen resultieren daraus?
Kirche im Wandel – was bedeuten die Vollversammlung für Deutschland?
Kirche ist im ständigen Wandel, so auch die Lutherischen Kirchen in Deutschland. Was werden die Themenschwerpunkte hier für uns bedeuten? Neben den Punkt Klimagerechtigkeit, halte ich besonders die zugänglichen Kirchen, die Generationsgerechtigkeit und eine verantwortungsvolle Theologie für richtungsweisend für unsere Kirche. Wie können wir eine Sprache verwenden, die uns anschlussfähiger macht und zugänglicher? Welcher Theologie bedienen wir uns und wie legen wir biblische Texte zeitgemäß aus? Wie argumentieren wir? Was bedeutet es, alle Generationen im Blick zu haben? Jungen Menschen echte Verantwortung zu übertragen, damit sie ihre Kirchen mitgestalten können?
Querschnittsthemen, die vor Ort in jeder Gemeinde mit ersten Schritten umgesetzt werden können
Erfreulich finde ich an den Themen, dass es Querschnittsthemen sind, die vor Ort in jeder Gemeinde mit ersten Schritten umgesetzt werden können und genauso in großen bundesweiten Gremien. Der Lutherische Weltbund spricht von einer on-going reformation, also einer weitergehenden und immer ständig währende Reformation.
Dies kann auf der theologischen Ebene gemeint sein, aber sich auch auf die praktische Umsetzung beziehen. Viele Gemeinden und Kirchen legen schon großen Wert auf die Partizipation von jungen Erwachsenen. Andere Kirchen haben Klimaschutzgesetze und Konzepte für die kontinuierliche Verringerung von Treibhausgasen. An diese schon bestehenden Initiativen sollte meines Erachtens angeknüpft werden und die bestehenden Bemühungen ausgebaut werden. Die angestrebten Ziele sollen mit Leben gefüllt werden und nicht leere Satzhülsen und Schlagworte bleiben. Anstrengungen somit ausbauen sowohl auf struktureller Ebene als auch in all den Bereichen, in denen jede*r einzelne engagiert ist und Impulse setzen kann.
Einheit in Vielfalt
Würde man auf der Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes Bingo spielen, würde man neben dem Zitat, dass lutherisch sein bedeutet ökumenisch unterwegs zu sein, mit einem weiteren Satz schnell gewinnen: „Unity in Diversity – Einheit in Vielfalt“. Diesen Anspruch sehe ich nicht nur im internationalen Bereich, sondern auch bei uns in Deutschland. Unterschiedliche Strömungen und Interpretationen von lutherischer Identität – oder weiter gefasst – von christlicher Weltverantwortung lassen sich identifizieren.
Einander kritisch und wohlgesonnen zugleich bleiben.
Und bei all der Verschiedenheit geht es auch darum, diese zuzulassen, wahrzunehmen und im Gespräch zu bleiben. Einheit heißt dabei für mich nicht Uniformität. Doch wie kann es gelingen Vielfalt zuzulassen und dennoch eins im Glauben und in der Gemeinschaft zu bleiben? Vermutlich nur, indem wir kritisch und wohlgesonnen zugleich bleiben. Um mit einem weiteren Zitat – diesmal vom LWB-Präsidenten Bischof Josiah Kabira aus Tansania zu enden: „Keine Kirche ist so groß oder reich, dass sie nicht von den Gaben anderer abhängig wäre. Keine Kirche ist so klein oder arm, dass sie nicht andere bereichern könnte.“
Die Tagung ist ausführlich dokumentiert auf https://2023.lwfassembly.org/
Helena Funk, Beauftragte für den Kirchlichen Entwicklungsdienst in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens, studierte Theologie und hat einen MA in Afrikawissenschaften. Seit vielen Jahren engagiert sie sich für den Lutherischen Weltbund und war 2017 bei der Vollversammlung in Namibia als Jugenddelegierte der Nordkirche dabei. Darüber hinaus war sie zweimal Teil der LWB-Delegation zur UN-Klimakonferenz und engagiert sich in der weltweiten Ökumene. Dieses Jahr vertrat sie die jungen Erwachsenen ihrer Landeskirche auf der 13. Vollversammlung in Krakau.
Bild: Uwe Winkler
Bild: LWF / Albin Hillert