Mit dem Roman „Tod oder Taufe“ geht Jakob Matthiessen der judenfeindlichen Geschichte christlicher Kreuzfahrer nach. Norbert Reck hat ihn gelesen und wirft seinen Blick auf eine dunkle Seite christlicher Geschichte.
„In dieser Zeit wollte viel Volk beiderlei Geschlechts aus allen Ländern und Völkern
nach Jerusalem ziehen,
und sehnsüchtig begehrten sie entweder selbst dabei umzukommen
oder die Ungläubigen dem Joche Christi zu unterwerfen.
In dieser Erregung nahmen sie sich zunächst vor,
in den Städten und Burgen die Juden zu verfolgen und zu zwingen,
entweder an unseren Herrn Jesus Christus zu glauben
oder in derselben Stunde umzukommen.“[i]
So schildern es die Gesta Treverorum, Chroniken aus Trier, 35 Jahre nach den Ereignissen. Die Ereignisse: Papst Urban II. hatte im November 1095 „das Volk der Franken“ dazu aufgerufen, Jerusalem von muslimischer Herrschaft zu „befreien“. Bald darauf hatten sich aus Frankreich, Deutschland und Italien Scharen von Kreuzrittern, Fürsten, bewaffneten Bauern und Bäuerinnen sowie allerhand arme Leute und Abenteurer auf den Weg ins „Heilige Land“ gemacht: in der Hoffnung auf Sündenvergebung, die allen Jerusalem-Pilgern versprochen war, in der Hoffnung auf ein anderes Leben, auf ein Herauskommen aus Armut und Perspektivlosigkeit, auf hemmungsloses Sich-Bereichern. Und auf dem Weg dorthin gerieten die jüdischen Gemeinden in der Heimat ins Visier der Kreuzzugsheere. Die „Christusmörder“ sollten sich taufen lassen oder sterben. Wobei Letzteres den nicht unerwünschten Nebeneffekt hatte, dass man sich der jüdischen Besitztümer bemächtigen und damit den Fortgang des Kreuzzugs mit Gütern und Geld ausstatten konnte.
Christliche Kreuzzüge als Raubzüge und Progrome
So waren die christlichen Kreuzzüge auch Raubzüge und Pogrome, und das nicht nur nebenbei. Für das europäische Judentum waren sie die Urkatastrophe schlechthin. Die Erinnerung daran hat bis heute ihren festen Platz im jüdischen Gottesdienst. In das Gedächtnis der christlich geprägten Mehrheitsgesellschaft sind die Ereignisse dagegen kaum eingegangen; was da geschehen ist und was es für die Menschen der Zeit bedeutet hat, ist vielen unbekannt.
Aus einem Strang der Ereignisse hat Jakob Matthiessen jetzt einen aufregenden Roman gemacht und ermöglicht uns damit einen bildstarken und sinnlichen Zugang zu jener Zeit. Er erzählt von den Tagen im Mai 1096, als eines der Kreuzfahrerheere unter Führung des Grafen Emicho von Flonheim durch das Rheinland zog und – nach Speyer und Worms – in die Stadt Mainz einfiel und unter der dortigen jüdischen Bevölkerung ein entsetzliches Massaker anrichtete.
Diejenigen, die sich der Zwangstaufe widersetzten, wurden enthauptet; andere, die in der Bischofspfalz Zuflucht fanden, starben in Kämpfen, als die Kreuzfahrer schließlich auch das Tor zur Pfalz aufbrachen. Wieder andere nahmen sich in einem letzten Akt der Verteidigung ihrer Würde selbst das Leben oder wurden auf Anordnung des Domdekans zuletzt ebenfalls zwangsweise getauft. Über 1000 Juden und Jüdinnen – Männer, Frauen und Kinder – starben in diesen Tagen durch die Hände eines fanatischen antisemitischen Mobs.
Mehr als betrübte Zurkenntnisnahme: Wut
Man mag sich fragen, warum man sich eine solche Geschichte lesend antun sollte. Man weiß doch, dass es das gegeben hat – oder nicht? Tatsächlich aber hilft das bloße Wissen nicht, ein persönliches Verhältnis zu dem geschichtlichen Boden zu finden, auf welchem wir uns auch heute noch bewegen. Ein Roman aber kann hier mehr bewirken. Mir jedenfalls ging es so, dass sich mein Zugang zu diesem Aspekt der Kreuzzüge durch die Lektüre von Matthiesens Buch stark verändert hat. Was vorher nur abstraktes Wissen war, hat beim Lesen emotionale Kontur und Farbe gewonnen. An die Stelle der betrübten Zurkenntnisnahme der Tatsachen traten Wut und die Entschlossenheit, nicht mehr über diese Geschichte und ihre Wurzeln hinwegzusehen.
Das ist im Wesentlichen das Verdienst der Erzählkunst von Jakob Matthiessen. Er beschreibt das mittelalterliche Leben in Mainz höchst anschaulich, geht aber nirgends in die Falle der Romantisierung, wie sie einem in Mittelalter-Romanen allzu oft begegnet. Auch der Gefahr, einen blutigen Splatter-Roman zu schreiben, ist der Autor nicht erlegen. Denn er hat sein Buch konsequent multiperspektivisch angelegt.
Man lernt die Figuren nach und nach kennen.
Wie in einem Film mit vielen Schnitten erzählt jeder der kurzen Abschnitte die Geschichte aus der Perspektive einer anderen Person weiter: sei es die Frau des Rabbiners, der junge, aufgeschlossene Domdekan, der mit ihrem Mann in freundschaftlichem Austausch steht, ein Bauernjunge, der sich in der Hoffnung auf ein besseres Leben dem Kreuzzug anschließt – und etliche andere mehr. Dabei beweist Matthiessen eine stupende Einfühlungsgabe. Man lernt die Figuren nach und nach so kennen, dass man mit ihnen mitfühlen kann (und manche von ihnen sogar lieb gewinnt), und man sieht das Geschehen immer wieder mit anderen Augen. Das lässt keinerlei Schwarz-Weiß-Malerei zu. Kaum jemand ist nur Täter, niemand nur Opfer.
Die menschliche Dimension der Geschichte, die überall zum Tragen kommt, zeigt die Einzelnen in ihrer Würde und Handlungskraft, lässt Hoffnungen und Ängste sichtbar werden, Lebensträume und Handlungsmöglichkeiten. Auch wenn der Ausgang der Geschichte (mehr oder weniger) bekannt ist, ist sie doch voller überraschender Wendungen, und man möchte immer wissen, was die Beteiligten als Nächstes tun, welchen der denkbaren Wege sie wählen werden.
Erzählerische Freiheiten
Matthiessen gestattet sich dabei erzählerische Freiheiten, wenn er beispielsweise einige Vorfälle, die aus anderen Städten bekannt sind, in Mainz konzentriert und damit die Stadt zu einem Modell für das Geschehen macht. Auch die interreligiösen Gespräche, die der Rabbiner Chaim mit dem Domdekan Raimund führt, erinnern vielleicht eher an christlich-jüdische Dialoge des 20. Jahrhunderts (wie der Autor freimütig in einem aufschlussreichen Nachwort einräumt), aber sie sind nicht aus der Luft gegriffen: Auch im Mittelalter gab es das Interesse aufgeschlossener Geister aneinander. Der franziskanische Bibelgelehrte Nikolaus von Lyra (circa 1270–1349) beispielsweise befasste sich ausgiebig mit den Bibel- und Talmud-Kommentaren des berühmten jüdischen Gelehrten Raschi, der Jahrzehnte vor dem Kreuzzug in Mainz und Worms studierte.
Mit seinem profunden historischen und theologischen Wissen auf aktuellem wissenschaftlichem Stand gelingt Matthiessen ein bestens lesbarer und zugleich spannender Beitrag zum Verständnis der Geschichte – etwas, worum ihn viele Historiker und Historikerinnen beneiden dürften. Nach der Lektüre – so ging es zumindest mir – sieht man manches in der Welt mit anderen Augen. Unbedingt lesen!
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Jakob Matthiessen, Tod oder Taufe. Die Kreuzfahrer am Rhein. Historischer Roman, Meßkirch: Gmeiner-Verlag 2021.
Norbert Reck, Dr. theol., ist katholischer Theologe und Publizist. Sein Buch „Der Jude Jesus und die Zukunft des Christentums. Zum Riss zwischen Dogma und Bibel“ (Ostfildern: Grünewald-Verlag) ist 2022 in 3. Auflage erschienen.
Foto: Mario La Pergola / unsplash.com
[i] Zit. nach Arno Herzig, Jüdische Geschichte in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1997, S. 31.