Exakt drei Monate nach den rechtsextremistischen und
rassistischen Terroranschlägen von Hanau fragt sich Melanie Wurst, was Erinnern heißt. Die Opfer dürfen nicht vergessen werden.
Am 20. Februar 2020 saß ich mit Freundinnen beim Mittagessen in der Cafeteria. Wir wussten nicht so richtig, wie wir über die vergangene Nacht und die Infos, die wir aus den Nachrichten und von den Hanauer Freund*innen hatten, sprechen sollten. In der Nacht vom 19. Februar hatte ein Rassist neun Menschen in Shisha-Bars in Hanau erschossen. Es fiel mir schwer, das auszusprechen, aber für mich war es erschreckend und zugleich beschämend, um wie viel betroffener mich diese Tat machte als die furchtbare Tat in Halle an Jom Kippur. Warum? Weil Hanau näher ist als Halle – wir leben in Frankfurt –, weil mehr Menschen ermordet wurden, weil wir Freund*innen in Hanau haben? Eine Freundin meinte dann: „Das ist doch klar. Der Anschlag galt Menschen, die wir kennen. Es hätte auch sie treffen können.“ Vielleicht ist es das.
Die Namen. Immer wieder!
Abends fuhren wir nach Hanau, wie auch in den Tagen darauf. Es gab Mahnwachen, Totengedenken, eine Demonstration. Es wurden die Namen der Opfer ausgesprochen. Gemeinsam. Immer wieder. Auf Twitter gedenken Menschen unter dem Hashtag #SayTheirNames
Eine Freundin aus Hanau sagte bei einem Treffen: „Ich war auch viel bei den Menschen in Moria. Dort habe ich gelernt, wie Totengedenken aussehen können, wenn wir am Strand stehen, aufs Meer blicken und die Namen der Ertrunkenen aussprechen. Wir werden sie nie vergessen.“
Kaum aushaltbar
Auf der Beerdigung von Mercedes Kierpacz, zu der die Familie alle eingeladen hatte, kam noch stärker dieses Gefühl auf, die Situation, den Schmerz der Angehörigen, die Betroffenheit derer, die Angst haben vor solchen Anschlägen, fast nicht aushalten zu können. Auch auf der Beerdigung von Said Nesar Hashemi und Hamza Kurtović, die neben Ferhat Unvar begraben wurden, ging es mir so. Es war kaum aushaltbar, in die wütenden und traurigen Augen zu blicken und die Sinnlosigkeit ihrer Tode in der bedrückenden Stimmung der großen Trauergemeinde zu spüren. Ein Freund, den ich danach in der S-Bahn traf, konnte gar nichts mehr sagen. Wir haben geschwiegen und uns verabschiedet. Und gleichzeitig läuft das Leben um uns herum weiter. Meines so uneingeschränkt wie zuvor, nur dass mich diese Gedanken nicht loslassen. Seines so eingeschränkt wie zuvor, nur mit noch mehr Angst und Wut. Weil er „keine blauen Augen und gelbe Haare hat“, wie Serpil Temiz, die Mutter von Ferhat Unvar es ausdrückt? In was für einer Gesellschaft leben wir?
„Ferhat Unvar
Said Nesar Hashemi
Vili Viorel Păun
Mercedes Kierpacz
Sedat Gürbüz
Kaloyan Velkov
Fatih Saraçoğlu
Gökhan Gültekin
Hamza Kurtović.
Wir werden sie nie vergessen.“
Wie wir dieses von Anfang an gegebene Versprechen einlösen können, frage ich mich. Wie können wir solidarisch sein mit den Freund*innen und Familien der Opfer? Was braucht es, damit die Namen in Erinnerung bleiben, sie vielleicht im Schulunterricht präsent sind, sie uns immer wieder begegnen? Das Gedenken zum zweiten Monatstag des Anschlags stand unter dem Zitat von Ferhat Unvar: „Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst.“
Was heißt erinnern? Wie können wir erinnern? Mich erinnern die Plakate mit den Namen, die mir auf meinen Wegen begegnen, die Sticker am Laternenpfahl, die Bilder von Wänden, auf die die Namen der Opfer geschrieben wurden. Aber das reicht nicht. Erinnern ist auch immer politisch. Es muss erinnert werden an das, was passiert ist, daran, dass es nicht verhindert wurde, und an die Angst, dass so eine Tat wieder passieren kann.
140 m2 gegen das Vergessen
Die Initiative 19. Februar Hanau hat zusammen mit Freund*innen und Angehörigen dafür einen Ort geschaffen. Gegenüber dem ersten Tatort haben sie einen Laden angemietet, der ein Ort „für das Erinnern, für die Solidarität und gegen das Vergessen“ sein will. Die Initiative wurde gegründet, „um einerseits die Betroffenen zu unterstützen und andererseits politischen Druck auszuüben, damit lückenlos aufgeklärt wird“, so Newroz Duman, die Sprecherin der Initiative 19. Februar. Çetin Gültekin, der Bruder von Gökhan Gültekin, betont in einem Video, das zur Ladeneröffnung Anfang Mai entstanden ist, dass es wichtig ist, einen Ort zu haben, zum sich Aussprechen und Ausweinen. „Wenn ich hier bin, bin ich wie zuhause.“ Das eindrückliche Video ist für mich auch ein Nachdenken über das Erinnern:
Erinnern heißt,
die Gesellschaft und uns zu ändern
Erinnern heißt, die Namen zu nennen, sie präsent zu halten, aber auch Orte zu schaffen, wo gegen diesen unerträglichen Hass, gegen Rassismus, gegen rechtes Gedankengut vorgegangen wird. Erinnern heißt auch, für die lückenlose Aufklärung rechter Terroranschläge zu sorgen. Erinnern heißt, sich nicht mit schnellen Einzeltäterthesen zufrieden zu geben. Erinnern heißt verändern. Die Gesellschaft, aber auch uns selber. Wie schnell suchen wir wieder eine Art Normalität, um uns dem Unaushaltbaren nicht auszusetzen. Ist es aber nicht vielmehr so, dass eine intensivere Auseinandersetzung die Verbundenheit und das Erinnern wachsen lässt?
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Die 140 m2 gegen das Vergessen werden über Spenden finanziert: https://www.betterplace.org/de/projects/80047-140-qm-in-hanau-gegen-das-vergessen
Weitere Informationen finden sich auf der Homepage: www.19feb-hanau.org
Autorin: Melanie Wurst lebt und arbeitet als Theologin in Frankfurt am Main.
Foto: Mit freundlicher Bewilligung der Initiative 19. Februar Hanau.