Den lebensgefährlichen Effekten, die aus religiösen Prägungen wie auch aus Verschwörungstheorien entstehen können, geht Daniel Killy am Beispiel der Ablehnung von Impfungen nach. In ihnen verbinden sich westlich-urbane Eliten mit manchen strenggläubigen Gruppierungen und erzeugen sehr konkrete Gesundheitskrisen.
Krankheiten und die entsprechenden Gegenmaßnahmen sind, wir wissen das spätestens seit den tödlichen Pestpogromen gegen die Juden, die im 14. Jahrhundert zehntausende Tote forderten, häufig eine Frage des (Irr-)Glaubens. War es zum Ausgang des Mittelalters das mörderische Märchen der jüdischen BrunnenvergifterInnen – dem übrigens die palästinensischen Machthaber noch heute anhängen – so galten zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei der Spanischen Grippe zahlreichen ZeitgenossInnen die Massenimpfungen jener Zeit gegen Pocken und Typhus als Ursache. Oder wahlweise die Deutschen, denen man nachsagte, den damals noch unbekannten Erreger in Konservendosen weltweit verschifft zu haben. Heute noch gibt es bei den sogenannten ImpfkritikerInnen große Vorbehalte gegen die segensreichen Möglichkeiten moderner Medizin, Seuchen und Krankheiten mittels Injektionen vorbeugen oder behandeln zu können.
Einer der größten Masernausbrüche
Der sektenartige Charakter jener, die Menschen zu UrheberInnen einer Pandemie erklären oder „Nein“ zur Impfung sagen und teilweise vorsätzlich dafür sorgen, dass sich ihre Kinder bei sogenannten Masern-Partys gegenseitig infizieren, ist ideologie- und zeitenübergreifend ähnlich. Da spielt es keine Rolle, ob es sich um esoterisch angehauchte Helikoptereltern handelt oder um haredische Juden und Jüdinnen wie in New Yorks Bezirk Brooklyn. Denn dort sucht einer der größten Masernausbrüche der vergangenen Jahrzehnte die Millionenmetropole heim. Und auch dort bringen strenggläubige orthodoxe Jüdinnen ihre Kinder zu „Measle Parties“. Ausgebrochen sind die Masern in Williamsburg und Borough Park, den haredischen Vierteln in Brooklyn sowie in Rockland County. Allein in Williamsburg haben sich mehrere Hundert Menschen an der hoch infektiösen Krankheit angesteckt, die für Säuglinge, Erwachsene und Schwangere höchst gefährlich werden kann. Die Lage scheint so dramatisch, dass New Yorks Bürgermeister den medizinischen Notstand ausgerufen und sogar Pflichtimpfungen angeordnet hat. 1000 Dollar drohten denen, so de Blasio, der die Situation als „Krise“ bezeichnete, die sich der Anordnung widersetzten.
Widerstand gegen Impfungen verbreitet sich seuchenartig
Doch der Widerstand gegen die Impfungen, der verbreitet sich ähnlich seuchenartig wie die Krankheit selbst. Ähnlich wie in Deutschland bei etlichen vorgeblich weltlich-progressiven Menschen der Irrglaube herrscht, Impfen sei des Teufels, gibt es unter einigen Haredim ähnliche Ansichten. Obwohl die Mischne Torah, die jüdische Gesetzessammlung des Maimonides, den Körper als himmlisches Geschenk bezeichnet, das uns nur geliehen ist und auf das es aufzupassen gilt, indem Schaden von ihm abgewendet werden, das Wahren der eigenen Gesundheit gar als Mitzwe, also als religiöses Gesetz, gilt, und dies die meisten haredischen Rabbiner mit Blick auf den Masernausbruch auch deutlich machen, kursiert derzeit unter den Strengstgläubigen eine Broschüre mit dem irreführenden Titel „The Vaccine Safety Handbook“, wie die „New York Times“ berichtet.
Falschmeldungen und Verschwörungstheorien
Die Broschüre, die sich an die haredische Bevölkerung wendet, kommt zu einem lebensgefährlichen Schluss: „Wir sind davon überzeugt“, heißt es da, „dass es keine größere Bedrohung der allgemeinen Gesundheit gibt als Impfungen“. Dieses Handbuch ist zu einer der Hauptquellen von Falschinformationen und Verschwörungstheorien geworden, und hat sich in den haredischen Vierteln schnell verbreitet. Einer der Coautoren, Moishe Kahan, verbreitete per Email fatale Falschmeldungen wie jene, dass der Masern-Impfstoff „die DNA von Affen, Ratten und Schweinen sowie Serum aus Kuhblut enthalte, alles Dinge, die nach den koscheren Speisegesetzen nicht konsumiert werden dürfen“. Dabei ist selbst unter den orthodoxesten Rabbinern in den USA Konsens, dass Impfungen koscher seien und sich die Gläubigen dringend immunisieren lassen sollten.
Doch jene strengst religiöse Juden aus Brooklyn bestreiten, dass das Urteil der Rabbiner zutreffend sei.
Masernpartys für gesuchte Infektionen
Zudem macht, wie in westlich-säkularen Impfgegnerkreisen, das völlig absurde Gerücht die Runde, die Impfungen würden Autismus verursachen. Aufgrund dieser rückwärts gewandten Denkweise wurde so Dutzenden kranken Kindern eine medizinische Behandlung vorenthalten, weil die Eltern sie nach einer Maserninfektion vor der Öffentlichkeit versteckten und den Ausbruch nicht meldeten. Ein Verhalten, das auch bei uns seinen traurigen Höhepunkt in den Masernpartys findet, wo Kinder sich untereinander anstecken sollen, um sich damit für den Rest ihres Lebens gegen Masern zu immunisieren. Auch in den Vereinigten Staaten bilden sich Allianzen zwischen Nichtjuden, Liberalen, AgnostikerInnen und eben Haredim, die sich gegen Impfen im Allgemeinen wehren.
Ausbreitung lässt sich nicht eindämmen
Entstanden ist der neue Masernausbruch in den USA, wo die Krankheit seit 2000 als ausgerottet galt, übrigens durch haredische Touristen, die sich beziehungsweise ihre Kinder zum Laubhüttenfest 2018 in Israel infizierten. Die ungeimpften Kinder waren es dann nach Aussage von GesundheitsexpertInnen, die das Masernvirus nach New York brachten und dort verbreiteten. Trotz sofortiger Bemühungen der Gesundheitsbehörde und jüdischer Führungspersönlichkeiten, die die Dringlichkeit der Immunisierung betonten und Tausende von Dosen des Impfstoffs MRR (Masern, Mumps, Röteln) ausgaben, ließ sich die Ausbreitung nicht eindämmen.
Zutritt zu Yeshivas und Synagogen
ohne Impfung verboten
„Wir sind leider nicht immun gegen Impfgegner“, sagt Dr. Aaron Glatt, der sowohl Facharzt für Infektionskrankheiten wie auch ordinierter Rabbi ist, der „Times“. Die Zahl der Masernfälle in New York City stieg seit Oktober 2018 rasant, allein in einer Woche kamen 60 dazu – alle im chassidischen Umfeld. Mittlerweile veröffentlichten haredische Rabbiner einen Aufruf, niemand, der nicht geimpft sei, dürfe mehr Yeshivas und Synagogen betreten. Ein Ende des Maserndramas ist aber trotz dieser radikalen Maßnahme noch immer nicht in Sicht.
Eine Frage der Menschenliebe
Shoshana Bernstein, eine chassidische Mutter aus New York, bringt in der „New York Times“ ihre Ablehnung des potenziell tödlichen Treibens der Impfgegner auf den Punkt: „Ein jüdischer Grundsatz (Tenet), in dessen Geist jedes jüdische Kind erzogen wird, ist doch, deine Freunde so zu lieben wie dich selbst. Das ist ein essenzieller Bestandteil unserer Persönlichkeit – und deshalb ist die aktuelle Situation so extrem frustrierend: Sie ist nämlich das totale Gegenteil unseres jüdischen Wesens.“
Urbane Eliten mit Verschwörungstheorien
Ob religiöser Eifer, Irrglaube oder rassistisches Vorurteil – die mittelalterliche Phalanx der Impfgegner schreitet auch in Europa Hand in Hand mit den weltlich-progressiven urbanen Eliten, die Impfungen bei ihren Kindern strikt ablehnen und den abstrusesten Verschwörungstheorien nachhängen. Bei einem Kooperationsprojekt der medizinischen Fakultät der Brown University in Rhode Island mit ukrainischen WissenschaftlerInnen wurden, so berichtet der Spiegel, 2015 Medizinstudentinnen und -studenten einer ukrainischen Universität nach ihren Einstellungen zum Thema Impfung befragt. 60 Prozent der Befragten waren der Ansicht, Impfungen verursachten Autismus. Nicht von ungefähr ist die Ukraine das Land mit der schnellsten Verbreitung der Masern. Seit 2017 starben durch die vorgeblich harmlose Kinderkrankheit weltweit 110.000 Menschen. Dass Aber- und Irrglaube gerade im modernen Gewand von Facebook und Co. tödlich sein können, das hat mittlerweile auch die Weltgesundheitsorganisation WHO erkannt. Sie hat Impfgegner und Impfgegnerinnen in die Liste der globalen Gesundheitsbedrohungen aufgenommen. Sie befinden sich auf jener Liste in der Gesellschaft von Ebola, Antibiotikaresistenzen und Luftverschmutzung.
Impfpflicht löst das Problem nicht
Wie und dass atavistische religiöse Eiferer und scheinbar aufgeklärte Menschen aus den Zentren der Ersten Welt dafür sorgen, dass eine ausgerottet geglaubte Krankheit wieder pandemische Züge angenommen hat, das allerdings ist ein Phänomen, bei dem man um Erklärungen ringt. Zumal auch die naheliegende Schlussfolgerung, eine Impfpflicht, wie sie die Bundesregierung einzuführen gedenkt, nicht per se eine Lösung des Problems darstellen muss. Zum einen formieren sich schon die Netzbrigaden der ImpfgegnerInnen dagegen, zum anderen konnten 2017 nach Angaben des Robert-Koch-Instituts in Deutschland bereits 97,1 Prozent der Kinder bei ihrer Einschulung die Masern-Erstimpfung nachweisen. Woran es mangelt, das sind die Folgeimpfungen. Daran würde wohl auch eine Impfpflicht nichts ändern.
Impfverweigerung als Götzenverehrung
Ändern müsste sich hingegen die religiöse Inbrunst, mit der Menschen unterschiedlichster Provenienz dem Götzen Impfverweigerung huldigen. Oder, wie es die Autoren Christian Schiffer und Christian Alt in ihrem Buch „Angela Merkel ist Hitlers Tochter – im Land der Verschwörungstheorien“ (2018) formulieren: ,Meine Mutter hatte die Masern und ist auch nicht gestorben‘, hört man oft in Facebook-Gruppen. Das Problem ist nur: Wenn die eigene Mutter als Kind an den Masern gestorben ist, gibt es keine Nachkommen, die das dann auf Facebook posten können.“
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Autor: Daniel Killy, Journalist, Autor, Medienberater, Vizepräsident der Deutsch-israelischen Gesellschaft, Beiratsmitglied der Jüdischen Gemeinde in Hamburg.
Foto: Daniel Voros / unsplash.comTocis