Beinahe wäre der Fall in den alltäglichen Meldungen zu Missbrauch und Vertuschungsgewalt untergegangen. Hildegund Keul erläutert, worin sie die besondere Bedeutung des Falls ‚Tony Anatrella‘ sieht: Er müsste die homophoben „Konversionstherapien“ zu Fall bringen.
Peinliche Befragungen und die Macht der Beschämung
2005 untersagte der Vatikan auf Weisung von Papst Benedikt XVI. die Priesterweihe von Personen „mit tiefsitzenden homosexuellen Tendenzen“1. Diese Vorgabe stellt vor eine einschneidende Frage. Wie lassen sich solche „Tendenzen“ feststellen? Die Frage ist für Priesterseminare relevant, denen die Aufgabe zukommt, die Eignung von Kandidaten (keinesfalls weiblich, keinesfalls divers) zu prüfen. Die sexuelle Orientierung steht niemandem auf der Stirn geschrieben. Wie lässt sie sich herausfinden? Seminaristen zur gegenseitigen Denunziation aufrufen, direkt oder ganz nebenbei? Ein Spitzelsystem installieren, inklusive Kontrolle von Medienkonsum und sozialer Kommunikation? In jedem Fall wird eine ‚peinliche Befragung‘ erforderlich, und spätestens jetzt setzt die Machtstrategie der Beschämung ein.
Machtzugriff
Aber von diesem Machtzugriff können nicht nur Seminaristen, sondern auch (potentielle) Ordensmänner betroffen sein. Dies erfuhr ich, als ich vor einigen Wochen eine Kolumne über Tony Anatrella schrieb. Ein Leser meldete sich mit folgender Schilderung: „Ich selbst habe auch eine gewisse ‚Geschichte‘ mit dem Homosexuellenverbot … Ich wollte damals in meinem beginnenden Studium in einen Orden eintreten, aber es gab im Aufnahmeverfahren einen psychologischen Test, bei dem die psychische Gesundheit der Kandidaten geprüft werden sollte, was an sich auch sinnvoll ist. Allerdings war damit auch verbunden, dass man auf Homosexualität hin ‚untersucht‘ werde. Man kann sich vorstellen, was das bei einem ungeouteten jungen Mann auslösen kann. Ein Coming-out ist ein extrem vulnerabler Prozess, der viel Vertrauen und Freiheit braucht. Zu erzwingen, seine Identität zu offenbaren, kann katastrophale Folgen haben. Bei mir war es eine schwere Angststörung, die dadurch ausgelöst wurde. Zugleich bekam ich mit, wie ein Kommilitone von mir von selbigem Orden abgelehnt wurde, weil er offen zugab, homosexuell zu sein.“
Vulnerante Machtwirkungen des Weiheverbots
Das Zeugnis zeigt eindrücklich, wie vulnerant die Machtwirkungen des Weiheverbots sind. Es bringt Menschen in Bedrängnis und kann sie in Angst und an den Rand der Verzweiflung stürzen. Aber wie so häufig in Sachen Machtmissbrauch kommt es noch weit schlimmer. Einer der Menschen, die sich vehement für das Verbot einsetzte und den entsprechenden Text mitverfasste, war der berühmte Priester und Psychotherapeut Tony Anatrella (geb. 1941). Hauptsächlich in Paris tätig, konnte er seinen Einfluss auf höchster Ebene geltend machen. Denn seit Jahren beriet er vatikanische Gremien wie den Päpstlichen Rat für die Familie in Sachen Sexualität und Gender, Familie und Homosexualität. Auch bei der „Familiensynode“ (2015) war er aktiv. Seit vielen Jahren publizierte er Bücher gegen Gender und die sexuelle Befreiung, für die Alleinstellung heterosexueller Beziehungen und die herausragende Bedeutung des Weihepriestertums. Ein erfolgreicher Autor, der auch gesellschaftlich Gehör fand. Ein geschätzter Priester, der gar als charismatisch galt. Ein Berater, dessen Wort bis in den Vatikan hinein Geltung erlangte.
Weder bräutliche Verbindung noch geistliche Vaterschaft
Wo immer sich Gelegenheit bot, betonte Anatrella, dass homosexuelle Beziehungen unreif, narzisstisch und rein ideologischen Ursprungs seien. Theologisch führte er ins Feld, dass ein homosexueller Mann weder die „bräutliche Verbindung“ zwischen Christus und der Kirche verkörpern könne noch zu jener „geistlichen Vaterschaft“ fähig sei, die den Priester auszeichne. Dabei schreckte Anatrella auch vor Falschinformationen nicht zurück und behauptete beispielsweise, dass 40% der Kinder, die von homosexuellen Menschen großgezogen werden, später ebenfalls homosexuell würden. Bei allem ging es ihm um die These, dass Homosexualität „heilbar“ sei, also ein Zustand, der korrigiert werden könne, wenn man(n) nur wolle.
Internalisierte Homophobie
Da war es sehr praktisch, dass der Priester auch Therapeut war. Er wusste Rat, wenn ein junger Mann in sich „homosexuelle Tendenzen“ verspürte, diese Richtung aber nicht einschlagen wollte – sprich: aus Gründen internalisierter Homophobie nicht damit zurechtkam, homosexuell zu sein. Als Therapeut bot Anatrella sogenannte „Konversionstherapien“ an, die jene kleine Abweichung auf dem geraden Weg zölibatärer Heterosexualität zu korrigieren versprachen. Für junge Männer, die bereits tief verletzt und innerlich zerrissen waren, die mit sich selbst, Gott und der Welt nicht zurechtkamen und vielleicht sogar dem Suizid nahekamen, muss dieses Heilsversprechen wie eine bevorstehende Erlösung erschienen sein. Mancher junge Mann befürchtete, dass er es bei seiner sexuellen Orientierung mit einem riesigen, lebenslangen, erdrückenden Problem zu tun habe. Nun aber sollte ein kleiner Schubs genügen, um auf den rechten Pfad zurückzukommen und diesen unbeirrt beizubehalten. Welch ein Glück, wenn ein erfahrener Priester oder der Ortsbischof eine solche Chance eröffnete. Das Problem würde aus der Welt geschafft, endlich! Und das mit dem minimalen Aufwand einer Therapie.
Vergewaltigung als Preis für die Priesterweihe
Wie grausam das war, was die jungen Männer dann in dieser „Therapie“ erleiden mussten, lässt sich nur entfernt erahnen. Nüchtern betrachtet: 2001, also bereits vor dem offiziellen Weiheverbot für Homosexuelle, ging eine Anzeige ein, dass Anatrella in diesen „Therapien“ sexuellen Missbrauch beging. Den Täter tastete das nicht an, zu sehr wurde er zur Verteidigung homophober Argumentationsmuster sowie im Kampf gegen den sogenannten „Genderismus“ gebraucht. Daniel Lamarca, der dem Täter zum Opfer gefallen war, wurde nicht geglaubt. Vertuschungsgewalt setzte ein, die bekanntlich die primäre Gewalt des Missbrauchs potenziert.
Hölle sexueller Gewalt
Aber im Verlauf der Jahre tauchten immer mehr Gerüchte auf, neue Anzeigen gingen ein.2 Geschädigte machten wenigstens einiges von dem, was ihnen Unsägliches geschehen war, auf anderen Wegen bekannt. Im Internet zeigt sich, was das war: In der Therapie schlug Anatrella den Männern „Körpertherapien“ vor, zu denen Entkleidung und Berührungen verschiedenster Art gehörten. Im schlimmsten Fall wollte Anatrella ihnen weismachen, dass Sex mit ihm sie von ihrer Homosexualität „heilen“ könne. Damit gerieten die jungen Männer in eine bittere Zwangslage. Entweder sie ließen eine Vergewaltigung über sich ergehen, oder sie konnten nicht Priester werden.3 Wie auch immer sich die jungen Menschen entschieden, wenn sie sich überhaupt vor eine Wahl gestellt sahen, griff eine vernichtende Gewalt auf sie zu. Die Betroffenen stürzten aus allen Höhen der Heilserwartung mitten in die Hölle sexueller Gewalt.
Theologisch begründete Homophobie wirkt verstärkt toxisch, da sie mit der Macht des Heiligen agiert. Toxische Theologien münden in toxische Therapien, und umgekehrt.
- Unter Ausnutzung ihrer erhöhten Vulnerabilität wurde die Bereitschaft, eine Vergewaltigung über sich ergehen zu lassen, für die betroffenen Männer zum Eintrittspreis für die ersehnte Priesterexistenz. Welch perfide Absurdität.
- Tony Anatrella, ein Hauptvertreter katholischer Homophobie und selbst praktizierender Schwuler, sorgte im Vatikan dafür, dass Homosexuellen die Priesterweihe verweigert wird – um anschließend in seinen „Therapien“ junge Männer zum Sex nötigen zu können. Internalisierte und externalisierte Homophobie gehen eine prekäre Mischung ein, indem sie den vulneranten Zugriff auf junge Männer theologisch legitimieren und therapeutisch praktizieren.
- Die Aufdeckung der Verbrechen, immerhin Menschenrechtsverletzungen, wurde bis in den Vatikan hinein gezielt verhindert.4 Das kirchliche System tolerierte die primäre Vulneranz des Täters und verstärkte sie durch Vertuschungsgewalt. Um die Ideologie der angeblichen Heilbarkeit der Homosexualität aufrechtzuerhalten und den „Genderismus“ abwehren zu können, war jedes Mittel Recht – bis hin zum Opfer junger Menschen, die Priester werden wollten. Homophober Klerikalismus offenbart seine systemische Abgründigkeit.
Die Verurteilung nach 22 Jahren – halbherzig
Dann endlich, am 17. Januar 2023, nach zweiundzwanzig Jahren, weiteren Anzeigen und einer kanonischen Untersuchung, wurden dem Täter seine priesterlichen, therapeutischen und publizistischen Tätigkeiten untersagt. Allerdings hatte das Dikasterium für die Glaubenslehre den 81-Jährigen lediglich angewiesen, ohne jede Verzögerung auf die Ausübung seines Berufs als Therapeut zu verzichten. Er hatte außer Seminaristen weitere junge Männer missbraucht, die – aus katholischem Milieu stammend – mit ihrer Homosexualität nicht zurechtkamen. Die Anwältin der Opfer, Nadia Debbache, beklagt, dass das Urteil bei weitem nicht ausreiche.5 Zu Recht. Wäre für solch perfide Straftaten die Exkommunikation nicht nur angemessener, sondern unbedingt erforderlich?6 Jedenfalls griff die Erzdiözese von Paris, bei der die Anzeigen eingegangen waren, verschärfend ein, indem sie das Urteil „präzisierte“ und dem Täter verbot, öffentlich die Messe zu feiern oder zu konzelebrieren, die Beichte zu hören, Bücher zu veröffentlichen oder an Veranstaltungen mit Vorträgen oder auf Podien teilzunehmen.7
Notwendige Konsequenz: kirchliches Verbot der „Konversionstherapien“
Wie in solchen Fällen leider üblich, nannte das Erzbistum Paris im Januar 2023 nicht die Taten, die zur Verurteilung Anatrellas führten, sondern nur die Strafe. Erst wenn man weiß, wofür er verurteilt wurde, tritt die Bedeutung des Falls hervor: Er stellt die „Konversionstherapien“, die wissenschaftlich längst scharf kritisiert, kirchlich aber dennoch global praktiziert werden, gänzlich in Frage.8 Der Weltärztebund hatte bereits 2013 solche Behandlungen als Menschenrechtsverletzung verurteilt, denn sie verstärken die internalisierte Homophobie der Betroffenen und können sogar zur Suizidalität führen.9 Mit dem Aufdecken des Falls Anatrella ist nun auch innerkirchlich bekannt, welche Vulneranz in solchen „Therapien“ am Werk ist. Es kann gar keine „guten“ Konversionstherapien geben, weil Homosexualität keine Krankheit ist und daher auch nicht geheilt werden kann. Konversionstherapien sind nicht mehr haltbar und müssen kirchlich global untersagt und effektiv verhindert werden.
Geschichten von Leiden und Widerstand
Höchsten Respekt verdienen jene Männer, die sich dem Machtzugriff der Beschämung widersetzten und die Verbrechen Anatrellas öffentlich machten. Ihre Geschichten von Leiden und Widerstand zeigen, dass allen, die in Sachen Homosexualität in der Kirche toxisch unterwegs sind, ob theologisch oder therapeutisch, endlich das Handwerk gelegt werden muss.
Prof. Dr. Hildegund Keul, Fundamentaltheologie und vergleichende Religionswissenschaft, Universität Würzburg, leitet seit 2017 das DFG-Projekt „Verwundbarkeiten. Eine Heterologie der Inkarnation im Vulnerabilitätsdiskurs“.
Foto: © Hildegund Keul
Neueste Veröffentlichung: Céline Hoyeau: Der Verrat der Seelenführer. Macht und Missbrauch in Neuen Geistlichen Gemeinschaften. Aus dem Französischen übersetzt von Gabriele Nolte. Hg. von Hildegund Keul. Mit einem Nachwort von Johanna Beck. Freiburg: Herder 2023.
- Papst Benedikt XVI. approbierte die Instruktion und ordnete sie zur Veröffentlichung an; siehe www.vatican.va/roman_curia/congregations/ccatheduc/documents/rc_con_ccatheduc_doc_20051104_istruzione_ge.html ↩
- https://international.la-croix.com/news/religion/french-priest-therapist-removed-from-ministry-for-alleged-sexual-abuse/7980; https://www.queer.de/detail.php?article_id=44428; https://katholisch.de/artikel/43181-missbrauch-frueherer-vatikan-berater-zu-homosexualitaet-sanktioniert ↩
- In einem Bericht, der die „Jagd“ auf homosexuelle Seminaristen in der „Communauté-Saint-Martin“ beschreibt, heißt es: „Wir wurden entdeckt oder denunziert, dann wurden wir zu Tony Anatrella geschickt, wo wir eine Art Konversionstherapie machten. Wenn wir uns weigerten, wurden wir aus dem Seminar geworfen.“ (https://lesjours.fr/obsessions/communaute-saint-martin/ep3-therapies-conversion/). ↩
- Der Schweizer Theologe und Dominikaner Philippe Lefebvre beschreibt: „‘Es ging nicht nur darum, die Augen zu verschließen, sondern eine ganze Maschinerie zu organisieren, um Anschuldigungen zu verhindern.‘ Jeder habe gewusst, was zu tun sei: ‚einen Brief blockieren, die Opfer herausfordern, die Zeugen bedrohen‘.“ (https://katholisch.de/artikel/43251-ordensmann-kirche-hat-ex-vatikan-berater-buchstaeblich-geschuetzt; https://international.la-croix.com/news/religion/the-institution-protected-sex-abuser-tony-anatrella-says-dominican/17208). ↩
- https://apnews.com/article/vatican-city-sex-and-sexuality-psychotherapy-religion-f89f7cba4f0497ec0784d51615b62b38. ↩
- Eine Exkommunikation wird beispielsweise bei der Verletzung des Beichtsakraments durch „Lossprechung eines Komplizen“ ausgesprochen. Anatrella verletzte in ähnlich schändlicher Weise das Sakrament der Priesterweihe, indem er dieses zum eigenen Lustgewinn als Druckmittel gegen Weihekandidaten einsetzte. ↩
- https://dioceseparis.fr/communique-de-presse-a-propos-de-l.html. – 2016 forderte das Erzbistum Betroffene auf, sich zu melden, brachte die kanonische Untersuchung in Gang und belegte Anatrella 2018 mit ersten Sanktionen. ↩
- Es mag sein, dass das, was in den Therapien geschieht, nicht immer unerwünscht ist. Wurde die Therapie in manchen Fällen eventuell als Möglichkeit genutzt, um ohne schlechtes Gewissen Sex mit anderen Männern zu haben, mit der Begründung, dass es sich um eine Therapie und keineswegs um schwulen Sex handelt? ↩
- In Deutschland wurden „Konversionstherapien“ 2020 bei Minderjährigen bis 18 Jahre verboten sowie bei Erwachsenen, wenn ihre Einwilligung aufgrund eines Willensmangels zustande gekommen ist. ↩