Am 9. Oktober 2022 starb der Philosoph und Soziologe Bruno Latour. Kaum eines der Wissensfelder unserer Zeit gab es, das er nicht berührte: Ob Recht, Religion, Moderne, Ökologie oder Technikstudien – Bruno Latours Denken ist der Versuch, das Mit- und das Ineinander aller zu verstehen. Daniel Bogner beleuchtet dessen Bedeutung für Theologie und Religion.
Vom Milzbrand zu Corona. In einer seiner frühen Studien widmet sich Latour als Soziologe des modernen Paradigmas von Wissenschaft dem Forscher Louis Pasteur, der jene Mikroben bekämpfte, die zu Milzbrand und anderen Infektionskrankheiten führen. «Laborstudien» nannte man das und Latour schuf damit eine Perspektive, mit der es gelingen sollte zu thematisieren, wie überhaupt die scheinbar so «objektive» naturwissenschaftliche Erkenntnis zustande kommt und vor allem welchen Einfluss diese Erkenntnisse auf die Gestaltung unseres gesellschaftlichen Lebens haben. Denn wenn die Entdeckung von Mikroben und die Erkenntnis des Infektionsprinzips es schaffen, eine Gesellschaft mit ihren Praktiken, Routinen und hygienepolitischen Baustandards umzuordnen (der Titel der englischen Übersetzung lautete auch: «The Pasteurization of France»), dann muss man Mikroben ernsthaft als mitgestaltende Wesen unserer Welt in die Kalküle von Handeln und Erkennen einbeziehen.
Die Idee des «Aktanten» war geschaffen. Sie relativiert das Konzept von handlungsmächtigen Subjekt-Akteuren und zwingt zur Frage: Wer oder was ist eigentlich Autor*in unserer Lebenswelt? Gibt es so etwas wie ein «Parlament der Dinge», um das wir unsere bisherigen Modelle der Entscheidungsfindung und Beschlussfassung erweitern sollten? Brennende Fragen – aber berührt ein solches Denken auch die Theologie und das Verständnis von Religion?
Technik und Theologie
Zunächst kann man sehen: Latour geht es bei den Fragen der Wissenschaftssoziologie stets auch um Themen der Anthropologie und Ontologie. Wer von «objektiver» Wissenschaftserkenntnis ausgeht, hegt eine ganz bestimmte Vorstellung über das, was das erkennde Subjekt ist und kann und das, was diesem als Erkenntnisgegenstand gegenübersteht. Mit den beiden Schriften Wir sind nie modern gewesen und dann vor allem dem Opus magnum der Existenzweisen macht Latour diese Herausforderung zum vielleicht wichtigsten Thema seines Denkens. Ihn interessiert es, die spezifische „Anthropologie der Modernen“ (so der Untertitel der Existenzweisen) zu beschreiben und damit zugleich Sichtachsen für eine wiederum „symmetrische Anthropologie“ zu entwerfen, welche die für das Mensch- und Weltverständnis der Moderne so einschlägigen Dichotomien von Natur und Kultur, Subjektivität und Objektivität, universalisierbarer Wahrheitserkenntnis und partikularer Meinung überwindet. Ein solches Denkprojekt ruft zwangsläufig die Religion auf den Plan, weil darin deren eigene Fragen enthalten und thematisiert sind: Wie sehen wir uns und die Welt? Wie lesen und deuten wir diese Welt, in der wir uns befinden? Welchen Unterschied macht es, sich in dieser Welt als „religiös“ oder „gläubig“ zu verstehen?
Religion als ein Modus innerhalb einer «ontologischen Pluralität»?
Dass die von Latour vertretene Perspektive die Religion zwar relativiert, dass in dieser Relativierung aber nicht, wie eine „moderne“ Lesart es nahelegen würde, ein Geltungsverlust oder eine Schmälerung des religiösen Anspruchs vermutet werden muss, macht die Originalität des Latourschen Religionsdenkens aus. Die Theologie sollte es deshalb wagen, sich den grundsätzlichen Anfragen gegenüber zu öffnen, die das Denken Latours an sie stellt. Es zeichnet sich eine Hoffnung ab: Im Gespräch mit Latour könnte die Theologie ein besseres Verständnis ihres eigenen Standortes und mehr Gewissheit über ihren Anspruch erlangen, und zwar indem sie verstehen lernt, was ihren Gegenstand – die Religion – eigentlich ausmacht.
Die Frage nämlich, was es überhaupt heißt, „religiös“ zu sein, einen „Glauben“ zu praktizieren und sich als religiöser Mensch innerhalb einer sich nicht vor allem religiös deutenden Welt zu bewegen, bilden einen Komplex, der unter den Vorzeichen der modernen Epistemologie beantwortet zu sein schien – allenfalls als Privatsache sei das noch zu dulden, nicht aber als öffentlich plausibler Sinnanspruch. Aus Sicht der religiösen Menschen aber führt dieser Komplex immer wieder in Widersprüchlichkeiten hinein und verstrickt individuelle wie kollektive Religionsakteure in ein kontraintuitives Handeln, bei dem die öffentlich akzeptierten Sinnzuschreibungen und die (stillen) subjektiven Erwartungen eines Handelns im Namen der Religion gegeneinander arbeiten.
Religion – doch keine «Privatsache»?!
Nur ein paar Beispiele für solche, oft mehrfach gebrochene Verdrehungen: „Alles, was man Religion nennt, ist doch eigentlich humanwissenschaftlich erklärbar und wer dennoch daran festhält, huldigt einem Aberglauben“ – was aber, wenn ein so stabiles Staat-Kirche-Regime wie das etwa deutsche der Religion einen komfortablen Platz in Gesellschaft und Kultur bereithält und damit der Eindruck entsteht, mit der Religion könne man heute doch noch „Staat machen“? Was, wenn gerade eine so fundamentale Aussage wie der erste Satz des ersten Artikels des deutschen Grundgesetzes („Die Würde des Menschen ist unantastbar“) nicht humanwissenschaftlich erklärt ist, sondern eine implizite Transzendenzfundierung spürbar werden lässt?
Ein zweites Beispiel: „Für meine Moral brauch ich keinen religiösen Glauben, der Glaube an die Menschlichkeit genügt vollauf“ – wie aber erklären, dass die Hilfsbereitschaft gegenüber Geflüchteten in den kirchlich gebundenen Milieus besonders ausgeprägt ist? Und schließlich: „Fromm zu sein, das bedeutet in Frankreich irgendwie etwas anderes als in Deutschland“ – wie kommt es, dass die Praxis eines Glaubens so massiv von gesellschaftlich-kulturellen Rahmenbedingungen abhängig ist und dass dieser Rahmen offenbar über die Plausibilität der religiösen Option mitentscheiden?
Man könnte diese kurze Reihe von Beispielen lange fortsetzen. Sie alle zeigen, wie sehr die in den denkerischen Arrangements der Moderne zur Rolle der Religion enthaltenen Zuschreibungen sich an Selbstverständnis und -deutung religiöser Akteurinnen und Akteure stoßen. Sie alle machen das Anliegen, für das man sich mit Latour eine neue Perspektive erwarten darf, deutlich: Wie mag es gelingen, die Religion, diese totgesagte, doch immer noch existierende, für viele nur noch skurril wirkende Option zu verstehen, besser noch: sie überhaupt auszusagen? Mit anderen Worten: Wie kann man über sie reden, ohne den einen peinlich, den anderen obszön und den dritten apologetisch zu erscheinen?
Anknüpfen, Wiederaufnehmen, Übersetzen – die Praxis der Religion
Latour möchte einen entscheidenden Schritt über die mit der Moderne einhergehenden denkerischen Arrangements hinaus tun. Er erkennt in der Diagnose der epistemischen Gestalt dieser Moderne zugleich die Chance einer „nachholenden“ epistemischen Entwicklung (er spricht zuletzt gar von einer „kopernikanische Konterrevolution“[1]), die auch das Religionsverständnis miteinschließt und in eine dann „symmetrische Anthropologie“ mündet. Am Horizont steht für die Theologie eine Hoffnung: Könnte doch das Religiöse wieder ein Thema werden, aber nicht so, dass Religion und Moderne als zwei einander innerlich fremde Pole endlich miteinander „versöhnt“ würden. Das, was sich ‘Moderne’ nennt, müsste vielmehr auf eine Weise thematisiert werden, dass Religion automatisch wieder ins Gespräch kommt, als ein ganz und gar legitimer Modus welthafter Existenz.
Nicht eine verlustfreie, ursprungsfixierte Repräsentation ist ihr Modus, sondern die immer wieder neue Anknüpfung an bereits geschehene Interpretation, das erneuernde Wiederaufgreifen und die in einer solchen Art von Wiederholung geschehende Transformation und Überlieferung eines „Wesentlichen“. Diese Verpflichtung zur Wiederaufnahme verbindet die Religion mit der Liebe, die vor allem in Jubilieren die Folie ist, mit der Latour sein Religionsverständnis entfaltet. So wie Liebende sich nicht einfach auf eine jederzeit zugriffsbereite „Substanz“ ihrer Zuneigung verlassen können, sondern darauf angewiesen sind, sich ihre Liebe immer wieder je neu zu sagen, um eben damit deren Fortdauer zu ermöglichen, ist es auch mit dem Wort der Religion: „Warum muss es sich immer wieder aufnehmen? Deshalb, weil dieser Logos sich keiner Substanz anvertrauen kann, um sich der Kontinuität im Sein zu vergewissern.“
Damit ist etwas Entscheidendes zur ontologischen Basis der Religion ausgesagt: Das Bemühen religiösen Ausdrucks um Ursprungstreue und Tradierung ist nicht in erster Hinsicht nach dem Modus der Information, sondern nach dem der Transformation konzipiert. Anders ausgedrückt: Den Logos der Religion macht es aus, seine Adressaten zu erneuern – die religiöse Sprache spricht von „Rettung“. Religiöse Worte, das sind „… [s]ehr besondere Worte: Worte, die Träger von Wesen sind, die fähig sind, diejenigen zu erneuern, an die sie gerichtet sind.“
«Wo stehen wir?» Latour denkt Corona
Das Denken Latours ist unerschrocken und neugierig. Es ist im besten Sinne katholisch – umfassend und überall nach Anknüpfung suchend. Dieses Denken wird weiterhin inspirieren, weil es in zahlreichen Disziplinen und an vielen Orten Aufnahme gefunden hat. Mit Bruno Latour, der nach einer längeren, schweren Krankheit gestorben ist, geht ein Mensch, der den Stil seines Denkens auch selbst lebte. Dass Theologinnen und Theologen seine Bücher lesen, freute den französischen Katholiken Latour. Wer ihm begegnete, durfte ihn erleben als fest verankerten Bewohner dieser Welt: zuständig für die häuslichen Einkäufe, besorgt um das Wohl seiner Gäste, interessiert an Praktischem und scheinbar Nebensächlichem. Man durfte sich anstecken lassen von seiner heiteren Diskretion, einem unprätentiösen Wissen-Wollen, einer zuvorkommenden Freundlichkeit.
Dem burgundischen Winzersohn, der er war, bildete das «Erdverbundene» (so seine häufige Redeweise) seine erste Natur. Was ist der Boden, auf dem wir stehen? Was vermag er hervorzubringen? Was müssen wir dafür tun? Fragen, dem Weinbauern ebenso nahe, wie sie in Latours Augen für den Menschen der Gegenwart von Belang sind. Die Covid-19-Pandemie, so schloss der Holberg- und Kyoto-Preisträger zuletzt, vermag auch eine Chance zu sein. Sie kann helfen, die Bindung an einen Boden zu erneuern, und die Illusion einer durch die kapitalistische Wirtschaftsform erzeugten Unsichtbarkeit unserer Vernetzungen sowie – und eben darauf kommt es in Zeiten der Klimakatastrophe an – Abhängigkeiten vom Boden dieser Erde zu erkennen. Latours Denken ist aktueller denn je.
Vgl. als Literatur: Daniel Bogner, Michael Schüssler und Christian Bauer haben 2021 ein Buch zur theologischen Rezeption des Denkens von Bruno Latour herausgegeben.
Daniel Bogner, Professor für Theologische Ethik an der Universität Fribourg/Schweiz und Mitglied der Redaktion von feinschwarz.
[1] B. Latour, Kampf um Gaia. Acht Vorträge über das neue Klimaregime, Berlin 2017, 109. Die Publikation geht auf die von Latour gehaltenen Gifford-Lectures an der University of Edinburgh (2013) zurück (https://www.giffordlectures.org/lectures/facing-gaia-new-enquiry-natural-religion).
Beitragsbild: KOKUYO, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons (leicht verkleinert)
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Latour in Wittenberg. Ein Versuch, religiöses Sprechen neu zu verstehen.