Den skandalösen Zuständen in Europas Flüchtlingscamps geht Melanie Wurst im Gespräch mit der Dramaturgin Silke Merzhäuser von der werkgruppe2 nach. Im Kunstprojekt TRANSIT der werkgruppe2 treten Menschen aus zwei Dörfern, neben denen sich Lager befinden, in Griechenland und Deutschland in einen Austausch.
Um den 6. Januar 2020 ging die bundesweite Aktion #2fehlen eines Künstler*innenkollektivs durch die Presse. Aktivist*innen entführten vielerorts zwei der drei Königsfiguren aus Krippen in Kirchen und wollten damit auf die skandalösen Zustände für Geflüchtete in hiesigen Lagern und auch an den EU-Außengrenzen aufmerksam machen: „Ein König sitzt im Lager Moria auf Lesbos fest…“
Untragbare Zustände
und eine Wandlung zum Gefängnis
Die Medien skandalisieren in ihrer Berichterstattung über das Lager in Moria auf Lesbos zu Recht die untragbaren Zustände im Lager. Es ist für 3000 Menschen ausgelegt, aber seit langem müssen dort zwischen 10 000 und 18 000 Menschen leben. Die griechische Regierung hat angekündigt, das Lager zu schließen und es in ein geschlossenes Lager umzuwandeln, was die Situation nicht besser macht. Kinder, Jugendliche und Erwachsene leben dort unter unmenschlichen Bedingungen, sie werden teilweise seit Jahren im Lager festgehalten und haben keine Möglichkeit, aufs europäische Festland zu kommen. In den Wochen, als die Schließung angekündigt wurde, hat das Künstlerinnen*kollektiv werkgruppe2 ein Projekt verwirklicht, bei dem die Dorfbewohner*innen von Moria zu Wort kommen.
Das Setting
Zwei Dörfer, die ungefähr gleich groß sind (ca. 1200 Einwohner*innen) und aufgrund ihrer geographischen Lage zu Orten wurden, in denen Geflüchtete ankommen und zunächst einmal versorgt werden müssen: Friedland und Moria. Das eine in Niedersachsen an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze, das andere auf Lesbos, Griechenland an der EU-Außengrenze zur Türkei. Es gibt viele solcher Orte, Kulminationspunkte auf den Migrationsrouten dieser Welt.
Ein Dorf in Niedersachsen macht Erfahrungen mit Fremden
1945 wurde in Friedland, im Süden Niedersachsens ein Grenzdurchgangslager in der britischen Besatzungszone errichtet. Die geographische Lage mit Nähe zur sowjetischen und amerikanischen Besatzungszone machte Friedland zu einem entscheidenden Transit-Ort. Vertriebene und ehemalige Kriegsgefangene, Flüchtlinge aus der DDR, Aussiedler*innen und Spätaussiedler*innen, Verfolgte des Pinochet-Regimes aus Chile, die sogenannten Boat-People aus Vietnam und 2013 kamen die ersten von zunächst 5000 syrischen Kontingentflüchtlingen nach Friedland. In der Anfangszeit passierten täglich zehntausende Menschen das Lager. Heute bietet es 820 Plätze. Schutzsuchende, die im Rahmen eines Resettlement-Programms nach Deutschland kommen, werden in Friedland aufgenommen. Seit 2011 ist das Grenzdurchgangslager auch Erstaufnahmestelle für Asylsuchende.[1]
Die Idee und der Entstehungsprozess
Silke Merzhäuser, Dramaturgin der werkgruppe2, erzählt von ihren früheren Projekten: „Zuletzt haben wir als werkgruppe2 im ländlichen Raum gearbeitet mit unserem dokumentarischen Theaterstück Im Dorf, die Geschichte eines syrischen Geflüchteten, der sich im thüringischen Eichsfeld in die Tochter der Dorfgaststätten-Besitzer verliebt und zu ihr zieht. Dort im Dorf ist er der erste „Ausländer“ und die Hürden der Integration sind hoch.“
Wir wollten es genauer wissen
Das Leben für Geflüchtete im ländlichen Raum ist durch oft geschlossene Gemeinschaftsstrukturen im Dorf grundverschieden zu dem in der Stadt. Unterschiedliche Milieus im urbanen Raum ermöglichen es, anzukommen oder sich aus dem Weg zu gehen. „Nach diesem Projekt wollten wir genauer wissen, welche gelungenen Beispiele für Integration es im ländlichen Raum gibt und haben uns auf die Ausschreibung des Fonds Darstellende Künste GLOBAL VILLAGE LABS mit Erfolg beworben. Hier wurden erstmals Arbeitslabore gefördert, in denen erste Ideen für Projekte ausprobiert werden konnten“, beschreibt Silke Merzhäuser. Der Fonds Darstellende Künste hatte das Programm GLOBAL VILLAGE LABS ausgerufen, um die ländliche Kunstproduktion zu fördern und ein besonderes Augenmerk auf internationale Zusammenhänge zu legen.
Interviews mit Expert*innen
für Migration im Dorf
„Aufgrund früherer Projekte war Friedland naheliegend[2] und Moria bot sich an wegen der Vergleichbarkeit und der medialen Präsenz“, so Silke Merzhäuser weiter. Seit über 10 Jahren erarbeitet das Kollektiv werkgruppe2 Projekte für dokumentarisches Theater. Soziale Wirklichkeit soll dabei in Auseinandersetzung mit Menschen beschrieben werden, die gesellschaftlichen Minderheiten angehören und nicht gesehen werden. Interviews mit diesen „Expert*innen des Alltags“ werden transkribiert und wortwörtlich genutzt, wobei Schauspieler*innen als Stellvertreter*innen auftreten. Dabei stehen immer die Fragen im Raum: Was bedeutet Dokumentation? Wie wird Wirklichkeit abgebildet? Wie kann stellvertretend für Menschen gesprochen werden?[3]
„Ihr lasst uns allein!“
Kontakte nach Friedland waren vorhanden und es war leicht, dort Menschen zu finden, die sich als Interviewpartner*innen bereit erklärten. Mit Moria war das schwieriger, zumal sich die Künstlerinnen* der werkgruppe2 entschieden hatten, nicht selbst nach Lesbos zu fliegen, sondern nach Menschen zu suchen, die schon vor Ort sind. Weiterhin bekamen die Künstlerinnen* die Ressentiments der Griech*innen gegenüber einem deutschen Projekt zu spüren nach der Devise: „Ihr habt uns in die Krise geschickt und jetzt lasst ihr uns mit den vielen Geflüchteten allein.“ Schließlich wurde ihnen die Organisation ReFOCUS Media Lab empfohlen, die außerhalb des Camps mit Geflüchteten Mediengestaltung erlernen und eine Plattform für Berichterstattung und zur Präsentation origineller Arbeiten bieten möchte.[4]
Welchen Kontakt haben die Dorfbewohner*innen?
Sonja Nandzik, Gründerin und Projektleiterin von ReFOCUS, übernahm die Interviews in Moria, zeichnete sie auf und fügte jedem Interview eine Beschreibung der Umstände und ihre persönliche Einschätzung hinzu. Nachdem sich der ehemalige Bürgermeister von Moria bereiterklärt hatte, sich interviewen zu lassen, fanden sich auch andere Interviewpartner*innen. Fragen, die in den Interviews gestellt wurden, waren: Welchen Kontakt haben die Dorfbewohner*innen zu den geflüchteten Menschen, die nur auf der Durchreise sind? Was brauchen diese Menschen? Wo ist die europäische Flüchtlingspolitik unzulänglich, wo scheitert sie? Welche Erfahrungen lassen sich zu Migration unter den Dorfbewohner*innen finden? Was haben sich die Dorfbewohner*innen zu erzählen?
Interviewausschnitte[5]
Moria:
Herr P.: „Es gibt nichts, was Moria besonders macht, außer dem Flüchtlingslager. (…) Wie Sie wissen, nimmt Europa ja keine weiteren Flüchtlinge auf. Die Grenzen sind sozusagen geschlossen. Alle bleiben in Griechenland. Alle werden auf vier Inseln verteilt. So werden viele Probleme verursacht. Die europäische Politik ist etwas sehr Schwieriges und wie Sie sehen, können weder Deutschland noch Frankreich eine Lösung liefern.“
„Es ist nicht richtig, dass sie wie Gefangene leben müssen.“
„Ich würde gerne wissen, ob die Dorfbewohner in Deutschland die gleichen Probleme wie wir haben?”
Herr A.: „Alle Menschen sind gleich. Mich stört es nicht, dass sie aus anderen Ländern kommen. Meiner Meinung nach ist es nicht richtig, dass sie hier auf der Insel wie Gefangene leben müssen. Ohne die Aussicht auf Arbeit. Auf eine bessere Zukunft für sich und ihre Familien. Dieser Gedanke stresst mich und meine Mitbürger am meisten.“
„Was ich sehe? Ich sehe Chaos!“
Frau L.: „In Europa ist alles okay. Aber Moria – hier ist alles schlimm, hier ist alles schrecklich. (…) Ich habe drei Kinder und meine Kinder müssen täglich diese Situation sehen – und das ist nicht gut für ihre Zukunft. Meine Kinder werden irgendwann mal studieren und dann gehen sie nach Europa raus. In dieses Europa, das Moria so zerstört hat.“
„Was ich sehe? Ich sehe Chaos! Ich sehe Menschen, die vergewaltigt werden, ich sehe Kinder, die ungepflegt sind. (…) Die Situation ist elend. Es kann regnen, es kann schneien und da sind Kinder, die haben nur ein Unterhemd an.”
„Das hat mich als Mensch geprägt.“
Friedland:
Frau W.: „Es gehört zu Friedland dazu. Es ist ein Anlaufpunkt für viele Menschen aus anderen Kulturen. Wahrscheinlich auch ein hoffnungsvoller Anlaufpunkt. Und eigentlich finde ich es gar nicht so schlecht, hier zu wohnen, weil man kriegt einfach viel mit, was ich sicherlich sonst nicht so mitkriegen würde und worüber ich mir wahrscheinlich auch sonst nicht so viele Gedanken machen würde.”
Herr L.: „Das hat mich als Mensch geprägt – aber das kann ich ja nicht messen. Ich bin ich, so wie ich bin. Und sicherlich auch durch das Lager hier in Friedland. Durch die Menschen hier in Friedland im Lager.“
Herr M.: „Also ein eher unauffälliges Nebeneinander. Das wird auch natürlich durch die Tatsache verstärkt, dass das Lager nicht eingegrenzt, eingezäunt ist. Keine Sicherheitskontrollen hat. Und immer zugänglich ist. Sowohl für die Bewohnerinnen und Bewohner, als auch für die Friedländer selbst. Also es ist etwas, was in diesem Ort seit 75 Jahren fast existiert und mit diesem Ort verwachsen ist.”
Frau K.: „Ich bin auch selber gekommen durchs Lager. (…) Das ist für mich auch hier meine erste Station. (…) Das ist für mich wie eine kleine Heimat.”
„Niemand übernimmt Verantwortung.“
Silke Merzhäuser betont, dass es ihnen in ihrer Arbeit um eine lösungsorientierte Herangehensweise geht, die die Dorfbewohner*innen als Expert*innen für Fragen zur Flüchtlingsthematik wahrnehmen will und dabei nichts beschönigt. „So kommen in den Interviews mit den Dorfbewohner*innen auch sehr banal materialistische Punkte auf wie ein Stromkabelklau. Dabei wird aber die Lücke benannt, dass niemand für solche Probleme Verantwortung übernimmt und die Menschen damit allein gelassen werden und sich natürlich aufregen“, so Silke Merzhäuser. Sie deutet das nicht als rassistisches Ressentiment gegenüber Geflüchteten, sondern als ein Benennen von strukturellen Problemen.
Die Video-Live-Schaltung
Am 23.11.2019 fand schließlich eine mehrstündige Video-Live-Schaltung zwischen Friedland und Moria statt. Ein 16-minütiger Ausschnitt des Gesprächs ist in der Dokumentation zu sehen.[6] Gleich zu Beginn kam die Frage von den Griech*innen: „Wohnen bei euch auch so viele Menschen im Lager?“ Silke Merzhäuser beschreibt die Situation so: „Nach dieser Frage war klar, dass die Situationen in den Lagern nicht vergleichbar sind. Nach dem Gespräch sagte ein Gesprächsteilnehmer: ‚Im Prinzip wusste ich das alles, aber es live zu hören, ist total anders.‘ Die Stimmung war geprägt von Dankbarkeit für diesen überraschend intensiven Austausch.
Anknüpfen an der Geschichte der Boatpeople in Niedersachen?
Daraus erwuchs ein Handlungsimpuls. Wir haben beschlossen, zusammen einen Brief an den niedersächsischen Innenminister Boris Pistorius zu verfassen, ihm von unserem Austausch zu berichten und ein Zeichen der Solidarität mit den Menschen im Lager in Moria zu fordern.“ Der Brief, der Pistorius und die Innenministerkonferenz, die Anfang Dezember tagte, aufruft, Menschen aus Moria nach Niedersachsen beziehungsweise Deutschland zu holen, ist bis heute nicht beantwortet. Dabei wurde im Brief auch die Frage aufgeworfen, warum nicht an das Beispiel des ehemaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht angeknüpft werden könne. Albrecht hatte 1978 spontan beschlossen, die ersten 1000 Boatpeople, Geflüchtete aus Vietnam, nach Niedersachsen, nach Friedland zu holen.[7] Pistorius selber hatte diese Idee wohl auch. Er war Anfang November bei einem dreitägigen Besuch auf Lesbos selber in Moria und Berichten zufolge geschockt von der Situation vor Ort. Er schrieb seinerseits Anfang Dezember einen Brief an Innenminister Seehofer. Darin bat er die ca. 1000 unbegleiteten Kinder und Jugendlichen, die in Moria leben, aus humanitären Gründen schnell nach Deutschland zu holen. Auch der Innenminister aus Thüringen und Berlins Innensenator unterschrieben und boten Hilfe für die Unterbringung an. Passiert ist nichts.[8]
Geflüchtete können gerne bleiben!
„Unerwartet war für mich die Aussage des ehemaligen Bürgermeisters, dass gut und gerne 1500 Menschen in Moria wohnen könnten, aber auch bleiben und leben. Und das in der aktuellen überforderten Situation“, betont Silke Merzhäuser. Sandra Nandzik meldete in einem nachbereitenden Gespräch[9], das auch in der Dokumentation ausschnittsweise zu finden ist: „Die Situation nach der Video-Live-Schaltung war in Moria auch sehr emotional, weil einige feststellten, dass sie eigentlich noch nie als Dorfbewohner*innen befragt wurden, obwohl es so viele Berichte über Moria gebe.“
Beeindruckende Menschen in den Dörfern getroffen.
Das Künstlerinnen*kollektiv werkgruppe2 hat beindruckende Menschen in den Dörfern neben den Flüchtlingseinrichtungen getroffen. Menschen, die durch die Not und die Schicksale, denen sie begegnen, sensibel werden. Expert*innen, die auch politischen Verantwortungsträger*innen in den europäischen Hauptstädten als Gesprächspartner*innen zu wünschen wären. Sie leiden nicht an den Menschen, die auf der Flucht zu ihnen kommen, sondern eher an der Form der Politik, an ungerechten Drangsalierungen und hohen Zäunen und an der Unterbringung von Geflüchteten wie Gefangene.
Ein Theaterprojekt, um Menschen wachzurütteln
Manche werden auch durch die „Entführung“ der Königsfiguren aus den kirchlichen Krippen, die alle wohlbehalten zurückgekehrt sind, auf die Lage in den Lagern aufmerksam geworden sein. Die Zustände in den Lagern sind unerträglich. Menschen wachzurütteln und diese Situation wahrzunehmen ist das Verdienst der Künstler*innen und Aktivist*innen. Ein Handlungsimpuls, dagegen aufzustehen und die skandalösen Zustände zu verändern, muss in uns allen selbst erwachsen.
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Die sehens- und hörenswerten Interviews mit einzelnen Dorfbewohner*innen, die Video-Live-Schaltung zwischen Friedland und Moria und ein Resümee des Projekts aus Sicht der Künstlerinnen* sind dokumentiert und zugänglich auf: https://werkgruppe2.atavist.com/transit
Autorin: Melanie Wurst lebt und arbeitet als Theologin in Frankfurt am Main.
Foto: Murtaza Narzai
[1] https://werkgruppe2.atavist.com/transit#chapter-5433992
[2] Bereits 2009 erarbeitete werkgruppe2 das Stück Friedland. Eine inszenierte Lager-Installation (http://www.werkgruppe2.de/website//index.php?id=111).
[3] http://www.werkgruppe2.de/website//index.php?id=87
[4] https://refocusmedialabs.org/about-us
[5] Nachzuhören und zu lesen auf: https://werkgruppe2.atavist.com/transit#chapter-5433906
[6] https://werkgruppe2.atavist.com/transit#chapter-5434026
[7] https://www.deutschlandfunk.de/vor-40-jahren-aufnahme-der-ersten-boatpeople-in-deutschland.871.de.html?dram:article_id=434811
[8] Die Menschenrechtsorganisation ProAsyl greift eine vorweihnachtliche Debatte um die Kinder in den griechischen Camps, u.a. in Moria, und Familienzusammenführung auf, die von der Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, Bärbel Kofler angeregt wurde, und betont: „Eine Vielzahl der dort festsitzenden Flüchtlingskinder hat Angehörige, die bereits in Deutschland leben und hier im Asylverfahren sind. Ihre Aufnahme ist dabei kein Gnadenakt sondern beruht auf einem Rechtsanspruch auf Familienzusammenführung.“ (https://www.proasyl.de/news/aufnahme-von-fluechtlingskindern-kein-gnadenakt-sondern-rechtliche-verpflichtung/)
[9] https://werkgruppe2.atavist.com/transit#chapter-5434032 .