Im Gespräch mit Wolfgang Beck stellt die Bestatterin Lilli Berger den 3-D-Erinnerungsraum „farvel.space“ vor und greift aktuelle Entwicklungen und offene Fragen einer gegenwärtigen Trauerkultur auf.
Wolfgang Beck: Liebe Lilli, ich habe auf der „re:publica 2022“ dein Projekt eines neuen digitalen Trauerraums kennen gelernt. Mit dem farvel.space hast du mit deinem Team einen virtuellen Abschiedsraum für trauernde Menschen geschaffen. Kannst du das Angebot etwas beschreiben?
Lilli Berger: Die Idee hinter dem farvel.space ist, einen Ort zu schaffen, der ortsunabhängig ist. Dass es einen Ort gibt, an dem ich einer Person gedenken kann, der dem Anlass und der Person entspricht, und es eben nicht bloße eine weitere facebook-Erinnerungsseite ist. Es soll ein Raum sein, der jederzeit und überall verfügbar ist. Ein bisschen weiter ausgeholt: Es rollt auf meine Generation eine große Trauerwelle zu, weil unsere Eltern eine kinderreiche Generation sind. Es werden also viele Menschen von uns gehen. Wir sind gleichzeitig eine Generation, die sich im Internet sehr zuhause fühlen. Aber es gibt gar keinen Ort, wo wir gedenken und trauern können. Wir würden gerne diesen Raum schaffen, an dem es diese Möglichkeiten gibt. Und in dieser Zeit ist es eben so, dass wir häufig nicht mehr vor Ort sind, wenn jemand stirbt oder wenn es eine Abschiedsfeier gibt. Da wollen wir, dass wir eine Alternative haben, in der wir dieses Innehalten und Abschiednehmen gestalten können.
Es handelt sich um einen virtuellen 3-D-Raum. Der kann über alle Geräte betreten werden, mit Tablet, Smartphone oder auch mit VR-Brille. Man muss sich gar nicht anmelden. Man bekommt einen Link und kommt dann in einen Raum, in dem man Bilder sieht oder Dinge, die noch an den verstorbenen Menschen erinnern. Man kann auch sehen und hören, was andere hinterlassen haben.
Ein Gefühl von Gemeinschaft – und ein Effekt der Nähe.
Das Besondere: Dieser Raum hat einen 3-D-Sound. Ich höre auch ganz leise, wenn Menschen sich ganz hinten auch unterhalten. Das schafft ein Gefühl von Gemeinschaft und zusammen mit dem Raumgefühl, gibt es einen Eindruck von Nähe. Durch diesen Audio-Effekt entsteht ein anderer Effekt der Nähe, als wir das bei einem üblichen Video-Call haben.
Wolfgang Beck: Du hast schon angedeutet, dass diese Form für Menschen im 21. Jahrhundert besonders ansprechend sein könnte, nicht nur weil die vielleicht besonders digital-affin sind und sich selbstverständlich in digitalen Räumen bewegen, sondern weil sich auch andere Lebenspraktiken verändert haben. Inwiefern gilt das z.B. Beispiel für das Phänomen Migration, wenn Menschen ihr Leben nicht nur an einem Ort verbringen. Was verändert sich damit nach deiner Einschätzung für die Erinnerungs- und Trauerkultur?
Lilli Berger: Ein ganz zentraler Ort des Erinnerns ist geschichtlich der Friedhof und das wird er wohl auch bleiben. Auch wenn ich zu einem Friedhof keinen persönlichen Bezug habe, verändert sich das ja, sobald ich ihn betrete. In dem Moment, in dem ich einen Friedhof betrete, kehrt eine Ruhe in mir ein und ein Moment der Stille und des Innehaltens. In unserer digitalen Welt passiert permanent etwas. Es gibt selten einen Moment des Innehaltens in unserem digitalen Leben. Da ist der virtuelle 3-D-Raum anders. Ich muss ein bisschen innehalten, weil ich mich erstmal orientieren muss. Ich muss auch bewusst zu dem einen oder anderen Raum hingehen. Das meine ich mit einem angemessenen Raum, gar nicht nur ästhetisch, das ist ja sehr individuell und eine Geschmacksfrage. Es ist nicht bloß eine weitere Social-Media-Seite. Gerade auch Menschen, die durch digitale Games geprägt sind, kennen viele Menschen inzwischen digitale Räume. Aber es ist durch diesen Kontext dann doch noch etwas Besonderes.
Ein „Baum des Lebens“ – offen gegenüber allen Glaubensrichtungen
Wolfgang Beck: Ich habe bei meinem Besuch des Raumes auch ein bisschen über die Ästhetik des Raumes nachgedacht. Auf mich wirkt sie als sakrale oder eine dem Sakralen sehr verwandte Ästhetik. Ist das intendiert? Was waren die Anliegen bei der Gestaltung und wen möchtet ihr ansprechen?
Lilli Berger: Das ist sehr aufmerksam beobachtet. Wir befinden uns da ja im digitalen Raum und haben da alle Möglichkeiten. Wir könnten den Raum eigentlich komplett frei gestalten. Wir können den Raum als „Omas Garten“ gestalten. Wir können die Bilder auch einfach in die Luft hängen. Wir sind da komplett frei. Das ist aber auch eine Hürde. Dadurch dass der virtuelle Raum in unserer Gesellschaft vielen auch noch nicht so präsent ist, haben wir versucht, Menschen abzuholen, mit dem, was Menschen vertraut sind. Da gibt es in der Mitte ein Podium und darauf einen Baum, der in den Himmel wächst. Das ist eine gestalterische Freiheit, die wir uns genommen haben und ersetzt ein wenig das Kreuz, das manche da vielleicht erwarten würden, wenn man vor dem christlichen Hintergrund den Raum betreten würde. Er symbolisiert einen „Baum des Lebens“ und ist offen gegenüber allen Glaubensrichtungen als Bild der Natur. Das ist natürlich ein bisschen kurios, dass es gerade im virtuellen Raum eine Präsenz der Natur gibt. Es gibt auch Bänke. Auf die kann ich mich zwar nicht setzen. Aber es ist ein vertrautes Element, das viele aus der Kirche kennen. Es ist etwas Vertrautes, an das wir anknüpfen.
Aber gleichzeitig sind wir völlig frei und richten uns da nach den Aufträgen. Wir könnten den Raum auch völlig anders gestalten, etwa als Weltraum. Meine Vision wäre, dass jede Familie ihre eigenen Gedenkorten hat, die mehrere Gedenkformen und -bilder hätte: Mein Vater hätte eine Berghütte, bei meiner Mutter wäre es die Küste, meine Schwester hätte einen Baum. Und diese verschiedenen Motive ließen sich in einem digitalen Ort verbinden. Die aktuelle Gestaltung ähnelt im Design sehr dem Krematorium in Berlin mit einer sehr modernen Architektur und Sichtbeton. Ich persönlich mag den Raum sehr und deshalb haben wir uns daran orientiert, aber es gibt auch Leute, die sich ästhetisch nicht angesprochen fühlen.
Die Idee der Lieblingskneipe,
an der wir anknüpfen
Es hieß bei der „re:publica“ ja bei einer Veranstaltung zur Sepulkralkultur „Der Tod hat ein Designproblem“ und das ist eine große Geschmacksfrage. Wir haben auch erst mit der Gestaltung einer Kapelle experimentiert. Auch das ist denkbar. Wir wollen vor allem, dass es möglichst viele unterschiedliche Räume und Ästhetiken gibt.Warum nicht auch eine alte, ganz traditionelle Dorf-Kapelle. Wir werden es nie schaffen, die Realität abzubilden. Wir können nur die Idee eines idealen Raumes abbilden. Ein Beispiel ist ein Jugendlicher, der um seinen Vater trauert und den wir im letzten Jahr in seiner Trauer begleitet haben. Für den Vater war die Kneipe im Dorf ganz wichtig. Natürlich können wir auch da trotz Fotos nicht die Kneipe abbilden, sondern nur die Idee der Kneipe, an die wir anknüpfen.
Die Frage nach dem digitalen Ritual
Wolfgang Beck: Es gibt bereits seit einiger Zeit digitale Trauerforen, in denen Menschen ihre Erinnerungen an verstorbene Angehörige aufschreiben und teilen können und die Möglichkeit haben, virtuelle Kerzen zu entzünden und zu beten. Gibt es diese Möglichkeiten für konkrete Religionspraxis bei Euch auch?
Lilli Berger: Das ist auch die Frage nach einem digitalen Ritual. Auch da kann es ja nicht nur um ein digitales Imitieren von analogen Ritualen geben. Da gibt es die Erde, die ins Grab geworden wird oder die Blumen. Man kann bei uns zumindest eine Kerze aufstellen. Wir sind da noch auf der Suche. Und es gibt mit dem Baum in der Mitte ein neues, digitales Ritual. Menschen können an dem Baum eine Nachricht an die verstorbene Person schreiben. Wenn man die Nachricht abschickt, entsteht ein Lichtball, der oben im Baum hängen bleibt und am Ende der Zeremonie gehen diese Lichter hoch in den Himmel. Man spürt da wirklich eine Energie, finde ich. Und diese Lichter und die Nachrichten darin begegnen dann, wenn die Texte freigegeben worden sind, auch an der Gedenkwand. So versuchen wir, neue Rituale zu entwickeln, die dem Bekannten nahekommen, aber sie nicht einfach kopieren. Ich persönlich finde es zwar eine schöne Idee von den Trauerforen. Die Kerzen, die sich dort entzünden lassen, entsprechen aber nicht meinem ästhetischen Empfinden.
Alles Digitale ziemlich verschlafen.
Wolfgang Beck: Ihr versteht Euch bislang als „B2B“-Lösung (Business to Business). Ihr befindet euch noch in der Gründungsphase, nehmt am EXIST-Gründer*innenprogramm teil und klärt derzeit eure künftige Rechtsform. Und weil euch Datenschutz und Nachhaltigkeit wichtig ist, gibt es ein Zögern gegenüber externen Investoren. Wie würdet ihr das Verhältnis von farvel.space zu den Religionen und Weltanschauungen beschreiben?
Lilli Berger: Wir sagen eigentlich, alles was menschenfreundlich gesinnt ist, wäre als Kooperationspartner*in denkbar. Ich habe selbst einen Großvater, der Pastor war, und habe Reli-Leistungskurs in der Schule gehabt. Wir wollen aber neutral gegenüber den verschiedenen Religionen und Weltanschauungen sein, wir ordnen uns keiner Weltanschauung zu. Wir könnten also einer Kirchengemeinde oder einem Bistum oder einer Landeskirche einen eigenen Raum zur Verfügung stellen, für den es eben auch eine eigene Internet-Adresse gibt. Und auch das Aussehen des Raums ist dementsprechend variabel. Ich bin selber ja Bestatterin und staune, dass bei vielen Bestattungsunternehmen wie auch bei den Kirchen alles Digitale ziemlich verschlafen wurde. Die Idee bei uns ist, dass wir auch dem kleinen Bestattungs-Institut im Dorf durch einen Quereinsteig eine Möglichkeit anbieten, wieder aufzuholen und die Lücke zum Digitalen sehr professionell zu schließen. Damit kann man dort einen digitalen Raum anbieten und spricht mit relativ geringem Aufwand eine ganz neue Zielgruppe an.
Die Suche nach neuen Formen unterstützen.
Wolfgang Beck: Gibt es etwas, was ihr euch von religiösen Institutionen, wie z.B. den christlichen Kirchen, erhoffen oder erwarten würdet?
Lilli Berger: Ich muss an einige Begegnungen bei der letzten „re:pulica 2022“ denken. Da hat ein Seelsorger davon erzählt, dass ein Jugendlicher nach einem Unfall gleich bei Minecraft einen Trauerraum für die Angehörigen gebaut hat. Vielleicht erhoffe ich mir von den Kirchen, dass so etwas, so eine Suche nach neuen Formen, unterstützt wird und Kirche auch für junge Menschen neue Räume und Formen anbietet, ihrer Trauer Ausdruck zu geben.
Wolfgang Beck: Trauerprozesse sind sehr individuell. So kann es sein, dass sich das Erinnern und Gedenken auch mit einer notwendigen seelsorglichen oder auch therapeutischen Begleitung verbindet. Könnt ihr derartige Angebote vorhalten oder auf entsprechende Kooperationen aufbauen?
Kooperation mit Trauer-App
Lilli Berger: Wir haben auch da eine digitale Kooperation, also die App „Grievy“ (www.grievy.de), das ist ein digitaler Begleiter im Trauerprozess. Da ist ein Team von Psycholog*innen, die mit ihrer App durch den Trauerprozess führen können. Die Trauerwellen kommen ja ganz plötzlich. Da ist es praktisch mit dem Handy und der App eine mobile Hilfe zu haben. Auch das ist eher ein ergänzendes Angebot, das aber für manche Menschen einen Zugang ermöglicht, wie der eben genannte Teenager oder für Menschen, die nicht vor Ort sind.
Das Erzählen der eigenen Krankheit
bildet schon eine Community.
Wolfgang Beck: Das Erinnern von Angehörigen verbindet sich natürlich auch mit der Frage, wie Menschen selbst in Erinnerung bleiben möchten, wie das etwa von dem Soziologen Andreas Reckwitz als „Gesellschaft der Singularitäten“, also als individuelle Identitätskonstruktion des Besonderen beschrieben wird. Manche Menschen gestalten ihre eigene Trauerfeier sehr bewusst oder haben deutliche Vorstellungen für die Form ihrer Beisetzung. Gibt es im farvel.space Möglichkeiten, das eigene Gedenken mitzugestalten und vorzubereiten?
Lilli Berger: Das nennt sich bei uns „Lebensfeier“. Wir haben diese Anfragen vermehrt. Das ist ein Effekt unserer Präsenz bei den Social Media. Da gibt es viele Menschen, die auch zu Lebzeiten viel über die eigenen Lebenserinnerungen nachdenken. Und wir haben mit jungen Menschen zu tun, die eine schwere Krankheit haben und sich mit dem eigenen Sterben auseinandersetzen müssen und in den Social Media von ihrem Krankheitsverlauf berichten. Auf der einen Ebene tut ihnen Aufmerksamkeit durch ihr Berichten in den Social Media gut. Zugleich sind sie alle auch Menschen, die die Sterbenden als Beobachter*in begleiten. Das Erzählen der eigenen Krankheit entwickelt eine eigene Community, die aber im Moment des Todes meist allein gelassen wird. Deshalb ist es gut, wenn die sterbende Person schon vorgesorgt hat. Es ist also auch Selbstinszenierung, die ich gar nicht bewerten möchte. Fotos zu bestimmen, an die sich Menschen erinnern sollen, ist eigentlich auch eine schöne Aufgabe. Ich komme dann in einen gestalteten Raum, der von der Person bereits gestaltet worden ist und der neue Begegnungen mit dieser Person ermöglicht. Das ist ja auch eine schöne, spirituelle Aufgabe, mal zu überlegen: Welche zwölf Fotos sagen eigentlich etwas über mein Leben aus? Es ist eine etwas spielerische Form, sich mit dem eigenen Sterben auseinander zu setzen. Eine Sorge, die wir haben ist, dass sich Menschen in diesem Raum verlieren und der Trauerprozess nicht zu einem Abschluss kommen kann. Wir möchten deshalb eine Zeitspanne definieren, in dem dann der Raum mit der Zeit verblasst. Welcher Zeitraum das sein soll, wird transparent und liebevoll kommuniziert. Aber es soll keine endlose Präsenz sein und es soll auch kein radikaler Cut sein. Da wissen wir noch nicht genau, wie diese Zeitspanne gut ausgestaltet und terminiert werden könnte. Das können ein paar Wochen oder Monate sein. Das müssen wir noch rausfinden. Die häufigste Frage ist eigentlich, ob man den „Raum“ runterladen und vielleicht ein Foto-Buch daraus machen kann. Da haben wir uns gedacht: Ist doch merkwürdig, dass Menschen dann den digitalen Raum auch gerne wieder als etwas Haptisches und Analoges haben möchten. Das zeigt mir auch, das analoge Zusammenkünfte und analoge Erinnerungsformen durch die digitalen eher ergänzt und nicht einfach ersetzt werden.
Wolfgang Beck: Herzlichen Dank für das spannende Gespräch und alles Gute für die weitere Entwicklung von farvel.space.
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Person: Lilli Berger ist ausgebildete Bestatterin und hat ein Masterstudium in „Leadership in digitaler Kommunikation an der Universität der Künste“ absolviert.
Bilder: farvel.space