Kriegs- und Fluchterfahrungen haben das Bewusstsein für Traumatisierungen bei Kindern geschärft. Es wurde deutlich: Anlässe und Ursachen für Traumatisierungen bei Kindern und Jugendlichen sind vielfältig, ebenso die Reaktionen und die längerfristigen Symptome. Von Helga Kohler-Spiegel.
Was ist ein Trauma?
„Trauma“ heißt im Altgriechischen „Wunde“. Medizinisch meint der Begriff „Trauma“ eine Schädigung, Verletzung oder Verwundung lebenden Gewebes, die durch Gewalteinwirkung von außen entsteht, wie z. B. eine Verletzung durch einen starken Schlag oder Stoß gegen einen Körperteil. Im übertragenen Sinne werden auch schwere seelische Verletzungen als Traumata bezeichnet. Unter Psychotrauma versteht man also ein (kurzes oder länger andauerndes) unerwartetes dramatisches Ereignis von außen, das beim betroffenen Menschen eine massive, leidvolle seelische Erschütterung nach sich zieht, weil seine Verarbeitungsmöglichkeiten überflutet und damit ausgeschaltet sind. (Vgl. Friedmann u.a. 11f)
Massive Erschütterungen, die die Verarbeitungsmöglichkeiten überfluten und ausschalten.
Grundursachen sind die Bedrohung des eigenen Lebens und der eigenen Unversehrtheit (Krieg, Flucht, Tod, schwere Verletzung, sexuelle Gewalt oder die jeweilige Angst davor), die ernsthafte Bedrohung oder Schädigung von ganz nahen Menschen (Kindern, Partnern, Eltern…) oder das Mit-ansehen-Müssen, wie eine andere Person durch Unfall oder Gewalt verletzt wird oder stirbt (real, nicht medial). Von Menschen verursachte Traumen („man-made-disaster“) sind deutlich schwerer zu verarbeiten als „nature-made-disaster“, also Katastrophen und Unfalltraumen. Neben den Menschen, die unmittelbar von einem Trauma betroffen sind, sind auch diejenigen davon betroffen, die als Einsatzkräfte und Augenzeugen sowie als Angehörige dem Trauma mit ausgesetzt sind. Dies wird „sekundäre Traumatisierung“ genannt.
Bei Menschen mit Verfolgungs-, Krieg- und Fluchterfahrungen spricht man von „sequentieller Traumatisierung“, da die Zeit der Verfolgung bis zur Flucht, die Flucht selbst und auch die Ankunft im Asylland oft hoch traumatisierend ist. Längere Zeit wurde unterschätzt, wie bedrohlich auch das Ankommen im Aufnahmeland meist ist – die fremde Kultur, der unsichere Status und das Ausgeliefertsein im Verfahren, die Gefahr der Abschiebung sowie die Angst um Angehörige und Freunde sowie die prekäre Lebenssituation insgesamt.
Zurück zu den Kindern
All das kann Kinder betreffen. „Eine traumatische Situation bedeutet für ein Kind eine extreme, existentielle Bedrohung. Dabei kann das Kind entweder sich selbst sowie seine körperliche und seelische Einheit oder andere Menschen als bedroht erleben. Entscheidend ist, dass das Kind das Gefühl hat, ohnmächtig zu sein und nichts tun zu können, um sich oder den anderen aus der extremen Not herauszuhelfen. Dies ist die eigentliche ‚Traumafalle‘: Es gibt bei aller Bedrohung keinen Ausweg. Daraus entsteht ein Gefühl extremer bedrohlicher Hilflosigkeit. Das sich gerade erst entwickelnde Selbstbewusstsein bzw. Selbstvertrauen und das Vertrauen in die Welt (Urvertrauen) werden durch eine derartige Erfahrung nachhaltig erschüttert oder gehen verloren.“ (Krüger 2015, 19)
Erstarrung. Mit allen Konsequenzen.
Damit ist klar: Für Erwachsene auch scheinbar unbedeutende Ereignisse können für ein Kind traumatisch erlebt werden, z.B. die Mama im Kaufhaus längere Zeit zu verlieren, oder in einen dunklen Keller gesperrt zu werden, oder auch notwendige ärztliche Behandlungen, die mit „Gewalt“ (z.B. Festhalten) verbunden sind. Angst ohne Verbindung zu einem sichernden Menschen, keine Hilfe von außen und selbst keine Möglichkeit, die Situation zu verändern – das meint Bedrohung ohne Chance auf die beiden – sonst zugänglichen – Verarbeitungsmöglichkeiten, nämlich Kampf oder Flucht.
Menschen können in Extremsituationen blitzartig abschätzen, ob in einer Situation Kampf möglich oder das Gegenüber stärker ist. Wenn Kampf nicht möglich ist, ist Flucht ein weiteres Überlebensmuster. Wenn beides nicht geht, müssen Körper und Seele auf das dritte Programm umschalten: Erstarrung. Mit allen Konsequenzen.[1]
Zahlreiche Traumatisierungen führen nicht zu einer länger anhaltenden Belastung, weil erwachsene Personen intuitiv oder bewusst das Kind in seiner Überforderung und Erstarrung wahrnehmen, das Kind beruhigen durch Nähe und Sicherheit, von Herz zu Herz, Atem und Stimme, Halten und Wiegen… Dann kann die Botschaft ankommen: „Du kannst dich beruhigen.“ „Ich bin da und schütze dich.“ „Du bist nicht allein.“
Posttraumatische Belastung
Manche Traumatisierungen finden nicht zur Beruhigung. Ein Beispiel: Ein ca. 6jähriges Kind erlebt einen Hunde-Angriff. Die Aufmerksamkeit ist auf die medizinische Versorgung der Verletzungen gerichtet, die emotionalen Bedürfnisse nach Beruhigung werden nicht weiter beachtet. Nach einer gewissen Zeit sind die körperlichen Wunden verheilt, im Inneren des Kindes bleibt aber eine Unruhe, eine Anspannung, die – manchmal – sichtbar wird.
Die Psyche bleibt im Notprogramm, im Überleben.
Wenn die Beruhigung, die Beantwortung des Kindes in seiner Not und Panik und Ohnmacht nicht geschieht, wenn niemand dem Kind in seinem Schock aus der Erstarrung helfen kann, wenn niemand Sicherheit gibt, dann bleibt die Psyche im Notprogramm, im Überleben. Zahlreiche körperliche Symptome und Verhaltensweisen können dann zeigen, dass das Kind in der Schockstarre oder in der Übererregung verhaftet bleibt, z.B. allgemeine Unruhe, Einschlaf- und Durchschlafstörungen, Konzentrationsstörungen, Stimmungsschwankungen, negative Gefühle wie Angst, Schuld, Traurigkeit, Scham, Verwirrtheit, deutlich verringertes Interesse oder Teilnahme an Aktivitäten, aggressive Impulsdurchbrüche oder selbstverletzendes Verhalten, Flashbacks (d.h. wiederkehrende überwältigende Erinnerungen), oder „Abtauchen“, innere Abwesenheit, Vermeidung und Rückzug, dissoziative Reaktionen, Starre, leerer Blick…
Traumaverursachte Veränderungen im Gehirn
„Gerät die Amygdala in Übererregung, blockiert der Hippocampus. Und dann ist kein situationsangemessenes Empfinden und Verhalten mehr möglich.“ (Weinberg 25) Die Amygdala (Mandelkern) ist Teil des Limbischen Systems, sie verknüpft Ereignisse mit Emotionen und speichert diese. Die Amygdala verarbeitet externe Impulse und leitet die vegetativen Reaktionen dazu ein, sie kann innert Bruchteilen von Sekunden Situationen wahrnehmen, emotional bewerten und wiedererkennen, auch gefahrvolle Situationen. Solange die Erregung der Amygdala in einem zuträglichen mittleren Bereich liegt, sind wir wacher, aufmerksamer. Wenn aber die Gefahr-Rückmeldung der Amygdala über die verträgliche Grenze geht, dann werden extreme Affekte wie Panik, Todesangst, totale Hilflosigkeit ausgelöst. In dem Moment wird der Hippocampus blockiert, damit die motorischen Stressreaktionen komplett ungehindert und ungehemmt ablaufen können.
Der Hippocampus ist eine zentrale Schaltstation des limbischen Systems. Im Hippocampus fließen Informationen verschiedener sensorischer Systeme zusammen, die verarbeitet und von dort zum Cortex (Hirnrinde) zurückgesandt werden. So kommt es zur Überführung von Gedächtnisinhalten aus dem Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis. Der Hippocampus „gibt den ins Gehirn einströmenden Reizen eine sinnvolle Ordnung in Raum, Zeit und Bedeutung. Was durch den Hippocampus solchermaßen sortiert und geordnet wurde, kann dann so gespeichert werden, dass alle Sinneseindrücke, Gefühle und Gedanken, die man miteinander erlebt hat, auch miteinander vernetzt gespeichert werden. Später können sie dann auch geordnet und im Zusammenhang aller Sinnesqualitäten, Raum, Zeit, Handlungen, Gefühle und Gedanken erinnert werden.“ (Weinberg 27)
Wenn der Hippocampus durch Hochstresserleben blockiert ist, ist ein Mensch weder durch Zureden noch durch Drohungen erreichbar.
Die Übererregung in der Amygdala mit den Affekten von Panik, Todesangst oder Tötungslust führt zur Blockade des Hippocampus; archaische Kampf-, Flucht- oder Täuschungsreaktionen, ohne Hemmung und Kontrolle, übernehmen die Steuerung. Wenn der Hippocampus durch Hochstresserleben blockiert ist, ist ein Mensch weder durch Zureden noch durch Drohungen erreichbar. Erst wenn der Hippocampus wieder aktiv wird, kann die Person und ihre Vernunft wieder die Steuerung übernehmen. Diese wird nur aktiv, wenn die Amygdala sich wieder beruhigt – und die wird sich nur beruhigen, wenn sie die Situation nicht mehr als „gefährlich“ bewertet. Also braucht es zuerst Beruhigung, Sicherheit und manchmal auch Schutz.
Eine bekannte Darstellung geht auf Andreas Krüger zurück: Er nennt das Stammhirn „Eidechsengehirn“, weil es die archaischen Reaktionen zeigt: Kampf, Flucht – und Totstellen. Das „Katzengehirn“ bezeichnet den Teil des Gehirns, in dem die Emotionen angesiedelt sind, und auch das Gedächtnis, die Erinnerung. Im „Professorengehirn“ liegen Denken, Überlegen und Verarbeiten. (Vgl. Krüger 2011, 44ff) Im entspannten Zustand arbeiten Katzen- und Professorengehirn zusammen. Wenn das Notfallprogramm losgeht, eine „traumatisierende Situation“ im Jetzt oder eine solche frühere Situation angetippt, „getriggert“ wird, dann übernimmt das Eidechsengehirn, das Überlebensprogramm aus früher Vorzeit, die Reaktion, es agiert wie ein „Dinosaurier im Kopf“ (Krüger 2011, 55): Kampf, Flucht und/oder Erstarrung.
Basale Möglichkeiten der Unterstützung und Begleitung
Kinder brauchen „sichere Orte“.[2] So kann gegenwärtige oder alte Erstarrung beruhigt werden, ein Kind kann sich sicher fühlen, „Katzen- und Professorenhirn“ können wieder das Zepter in die Hand nehmen. Im akuten Notfall gilt, das Kind so schnell wie möglich aus der bedrohlichen Situation heraus an einen sicheren Ort zu bringen. Es gilt Sicherheit zu schaffen, als erwachsene Person da sein, im Kontakt bleiben, Wärme oder Kühlung geben, damit sich die Erregung abbauen kann.
Nachfragen, erzählen lassen und Gefühle nennen, Informationen ergänzen, damit die Erfahrungen nicht isoliert bleiben, sondern emotional und kognitiv zugänglich werden und so ins autobiografische Gedächtnis integriert werden können. Manchmal ist es wichtig und möglich, dass das Kind den guten Ausgang noch sehen kann, z.B. dass der verletzte Radfahrer verarztet ist, dass später die Nachricht vom Spital nötig ist…
Vertrauen gibt Sicherheit.
Als erwachsene Person soll dem Kind nichts gesagt und nichts versprochen werden, was nicht stimmt, was man nicht wissen kann, was man nicht einhalten kann. Nicht bagatellisieren und nicht dramatisieren ermöglicht, dass die betroffene Person, egal wie alt sie ist, nicht darum kämpfen muss, gehört und gesehen zu werden. Das schafft Vertrauen. Und Vertrauen gibt Sicherheit.
Trost- und Kraftworte und Rituale können helfen, innere Vorstellungen und Bilder von Trost- und Kraftwesen. Bezugspersonen sind dann „sichere Orte“, wenn die Bezugspersonen präsent und zugewandt sind und Resonanz geben, wenn Klarheit in den Abläufen und in den Regeln vorhanden ist, wenn Abläufe und v.a. deren Veränderung ausdrücklich angekündigt werden, wenn junge Menschen im gesetzten Rahmen selbst bestimmen und entscheiden können, wenn die Erwachsenen in der Beziehung und im Tun verlässlich sind. Das ist hilfreich.
_
Erstveröffentlichung des Beitrags in einer etwas ausführlicheren Fassung, in: Katechetische Blätter 141 (2016), 372-375.
Helga Kohler-Spiegel ist Professorin für Pädagogische Psychologie und Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg und Redakteurin von feinschwarz.net.
Literatur
Kohler-Spiegel, Helga, Traumatisierte Kinder in der Schule. Verstehen – auffangen – stabilisieren, Ostfildern 2017.
Friedmann, Alexander u.a., Psychotrauma. Die Posttraumatische Belastungsstörung, Berlin 2004.
Krüger, Andreas, Erste Hilfe für traumatisierte Kinder, Ostfildern 5. Aufl. 2015.
Krüger, Andreas, Powerbook. Erste Hilfe für die Seele. Trauma-Selbsthilfe für junge Menschen, Hamburg 2011.
Weinberg, Dorothea, Verletzte Kinderseele. Was Eltern traumatisierter Kinder wissen müssen und wie sie richtig reagieren, Stuttgart 2015.
[1] Zu den biologischen Stressprogrammen gibt es neben Kampf und Flucht und Erstarrung noch die Unterwerfung inklusive der instinktiven Täuschung. Das meint, die mächtige und gefährliche Person durch scheinbar freiwilliges und fröhliches Mitmachen bei ihrem schlimmen Treiben zu befrieden und den totalen Machtverlust zu vermeiden. Dies geschieht oft instinktiv durch Lachen, Charmeoffensive, hyperbrav sein, sich an den Angstgegner binden… (Vgl. Weinberg 2015, 50)
[2] Wenn es um eine Gefährdung des Kindeswohls geht, muss Meldung an die jeweilige Jugendwohlfahrt bzw. Kinder- und Jugendhilfe gemacht werden.