Was passiert, wenn Vertrauen nicht mehr möglich scheint, wenn Liebe zerbricht? Klaus Kießling (St.Georgen b. Frankfurt) rezensiert eine Untersuchung von Lisa Straßberger zur Frage von Liebe, Treue und Scheitern.
Wenn ich der Frage nachgehe, welche Bedeutung ich einer Haltung der Treue zuschreibe, fällt mir Vielfältiges und Beziehungsreiches ein, und dennoch läuft die Ankündigung eines Buches über die Treue doch Gefahr, nicht gerade die Erwartung einer attraktiven oder gar in den Bann ziehenden Lektüre zu schüren, sondern vielmehr Assoziationen zu wecken, die an das Festklopfen bekannter sexualethischer Positionen und kirchlich sanktionierte Traditionen denken lassen, die eher in die Enge oder gar in Sackgassen führen, als dass sie Spiel- und Lebensräume eröffnen und Horizonte weiten. Treuebruch und Verrat, Untreue und Veruntreuung mögen mehr Interesse hervorrufen als Treue. Wer der jüngst erschienenen Untersuchung über die Treue deswegen keine Beachtung schenkt, bringt sich jedoch um eine spannende und an Einsichten reiche Leseerfahrung.
Vom ewigen Traum von der ewigen Treue
Schon in der Einleitung steht dem ewigen Traum von der ewigen Treue die Erkenntnis gegenüber, dass der Begriff der Treue im deutschsprachigen wissenschaftlichen Diskurs nur in geringem Maße Präsenz zeigt und dann vorwiegend moraltheologisch verhandelt wird, und zwar vorrangig angesichts gebrochener Versprechen und zerbrochener Ehen. Wie kann dieses Scheitern, das seine Schatten nicht nur auf die Biografien der direkt Betroffenen wirft, sondern auch auf nachfolgende Generationen, praktisch-theologische Resonanz finden, ohne im Mief des Überkommenen zu verharren?
Lisa Straßberger bietet eine theologische Reflexion zum Motiv der Treue und konfrontiert diese mit exemplarischen Analysen zeitgenössischer deutschsprachiger Belletristik, und zwar so, dass die Auseinandersetzung durch die Zuspitzung auf die leibliche Verfasstheit des Menschen keine Engführung, sondern in insgesamt fünf Kapiteln eine Einbettung in weitem Horizont erfährt.
Textmuster des Versprechens
In Kapitel 1 widmet sich Lisa Straßberger der Frage nach den literatur-, kultur- und sozialwissenschaftlichen sowie bibeltheologischen Zugängen zu den Textzeugnissen, die für die Neukonturierung des Treuebegriffs eine tragende Rolle übernehmen sollen, und ihrem Zueinander. Literarische Texte werden als Zeichen der Zeit lesbar, indem sie Erfahrungen dokumentieren, zugänglich machen und ihrerseits inspirierend wirken. Erfahrungen von Treue und Treulosigkeit zeichnen sich in Erzählmustern zeitgenössischer Romane ab, ebenso in biblischen Texten, die Momente der Allmacht ebenso bergen wie Momente der Ohnmacht, und genau daran knüpft Lisa Straßberger in ihrer Auseinandersetzung mit den Kreuzigungsperikopen an.
Für das Treuemotiv spielt der Akt des Versprechens eine maßgebliche Rolle, der in die Zukunft vorgreift und dessen performative Kraft unter dem möglichen Bruch eines Versprechens nicht verloren geht, im Gegenteil! Lisa Straßberger bettet solche Textmuster des Versprechens, auch und gerade die sakramentalen, anhand der inzwischen in vielen Disziplinen präsenten Kategorie des Embodiment so ein, dass es zu Verkörperungen solcher Sprechakte kommt und sich lebenspraktische Haltungen abzeichnen, zumal dann, wenn das Ehesakrament als Realsymbol der unverbrüchlichen Liebe Gottes erscheint und die beiden, die einander trauen, das Sakrament leibhaftig leben.
Treue und Passion, Ehe und Ordo
Kapitel 2 gilt dem Versuch, die Passionsberichte der Evangelien auf Aussagen zur Treue zu untersuchen, wie sie sich in der Gottesbeziehung angesichts äußerster Bedrängnis zeigt, diese als Realsymbol der Gegenwart Gottes in der Welt aufzuweisen und als Grundlage für sakramentale Treueversprechen zu verstehen, mit anderen Worten als leiblich gestaltete Antwort auf die geschenkte Gnade Gottes. Denn die spezifischen Herausforderungen eines Treuebundes, wie sie in den biblischen Perikopen erscheinen, lassen sich nicht nur in der Gottesbeziehung, sondern auch in der Ehe und in jenen Beziehungen zur Geltung bringen, wie sie sich zwischen Priester und Gemeinde entwickeln. Das Versprechen von Treue durch die Zeit verkörpert sich als Haltung, Treue kann als spiritueller Habitus in der Tat lesbar werden und wirken.
Im weiteren Gang der Arbeit zeigt sich, dass die Treue zu Gott in Todesgefahr durchgehalten werden kann – insbesondere im Gebet Jesu, der mit Psalm 118 („Seine Huld währt ewig“) das Gedächtnisbild unverbrüchlicher Treue aufruft, aber auch im Zuge seiner Auseinandersetzung mit den Vertretern der Macht im öffentlichen Messiasbekenntnis.
Gottes Zuwendung ereignet sich in geschichtlich konkret verleiblichter Beziehung
Vor diesem Hintergrund richtet Lisa Straßberger ihre Aufmerksamkeit auf die beiden Sakramente, die die Empfangenden nicht nur mit der Aufgabe betraut, ihr Leben in und aus der Gottesbeziehung zu führen und von Gottes Geist prägen zu lassen, sondern insbesondere damit, Gottes Zuwendung zwischenmenschlich wahrzumachen. Beziehungsreich gilt dies ganz spezifisch für Ehe und Ordo, also für jene Sakramente, die ihre realsymbolische Kraft in ganz eigener Weise entfalten: Gottes Zuwendung ereignet sich in geschichtlich konkret verleiblichter Beziehung, in der Verbindung zweier Menschen, die sich trauen, oder im vertrauensvollen Zueinander von Priester und Gemeinde. Dank dieser unverbrüchlichen Treue versteht sich unsere Kirche als Grundsakrament göttlicher Liebe zum Menschen.
In diesem Sinne erweist sich die Trauung als öffentlicher Selbstvollzug unserer Kirche. Karl Rahner skizziert das Ehesakrament als Realsymbol der Selbstmitteilung Gottes und der freien Annahme dieser Zuwendung Gottes durch jene, die das Sakrament an sich geschehen lassen und durch ihre Tat mitkonstituieren. Dabei drängt sich die Frage auf, wie wir mit dem Scheitern sakramentaler Liebesbeziehungen umgehen und wie sich Gottes Zuneigung denen mitteilt, die das Sakrament verdunkeln – sei es durch Treuebruch in der Ehe, sei es durch Übergriffe und sexuelle Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen.
Fliehkräfte und Nullzeit – und die Melancholie gemeinsamer Ortlosigkeit
In Kapitel 3 kommen zeitgenössische Erfahrungen von Treue und Treuebruch in ihrer literarischen Gestalt zur Entfaltung, und dies nicht etwa anhand von Texten, die ausdrücklich christliches Erfahrungswissen zum Thema machen, sondern anhand des Versuchs, Treue als angestrebte, ersehnte, erinnerte oder gescheiterte aufzuspüren und deren Vorkommen an späterer Stelle praktisch-theologisch zu kontextualisieren. Im Mittelpunkt stehen dabei vorrangig zwei Romane, die im Jahr 2012 erschienen sind, zum einen „Fliehkräfte“ von Stephan Thome, der die Reise seiner Hauptfigur Hartmut von Deutschland nach Portugal und damit in das Heimatland seiner Ehefrau Maria wiedergibt, und zum anderen „Nullzeit“ von Juli Zeh, die ihren Roman gleichsam als Versuchsanordnung konzipiert und eine Insel als Ort der Handlung wählt. Als für die Entwicklung der jeweils präsenten Figuren prägend erweisen sich Ortswechsel, als besonders herausfordernd für Paare und ihre mobile Liebe ihre Unbehaustheit, also das Fehlen oder der Verlust eines gemeinsamen Ortes, mit Max Frisch die Melancholie ihrer gemeinsamen Ortlosigkeit. Dabei ist schon der jeweilige Herkunftsort mit einschlägigen Erfahrungen der Romanfiguren aufgeladen, die das Modell einer auf Dauer und Exklusivität angelegten Liebesbeziehung heftig unter Druck und ins Wanken geraten lassen. Gleichwohl spürt Lisa Straßberger die mitschwingenden Vorstellungen von Treue sowie die Bindungs- und die Fliehkräfte auf, die die Romanfiguren antreiben oder lähmen. Auf verschiedenen Wegen erhellt sie diese Kräfte in ihrer auch transgenerationalen Wirkmacht.
„Bis der Tod euch scheidet“ – gegen die Tabuisierung des Scheiterns
Wie kann Kirche ihre große Erzählung von der Treue nach dem Vorbild des Menschgewordenen neu erzählen? Wie dies im Vertrauen auf die Allmacht Gottes im Modus der Ohnmacht angehen mag, wenn Gottes Gegenwart sich entäußert und um menschliche Zustimmung aus Liebe wirbt, ist Thema von Kapitel 4. Es zielt auf eine Zusammenführung des bis dahin Erarbeiteten in praktisch-theologischer Absicht.
Sowohl die Passionsberichte als auch die Romane zeigen auf jeweils eigene Weise ganz eindringlich die tiefen, ja lebensbedrohlichen Wunden, die der Verrat schlägt. Diese Einsicht sollte im Umgang mit dem Ehe-, aber auch mit dem Weihesakrament zu einer Ablösung der Tabuisierung des Scheiterns führen, die schon Karl Rahner entschieden anmahnte: Stirbt die Liebe, ist im Ehesakrament das eine Fleisch und im Weihesakrament der Leib der Ortskirche betroffen, und das Sakrament wird, wenn die menschliche Zustimmung ausbleibt, gleichsam auseinandergerissen.
Im Sakrament der Buße könnten Eheleute zur Versöhnung und zu einer Erneuerung ihres Versprechens finden, so dass sich performativ eine Tür in eine gemeinsame Zukunft öffnet. Tut sich ein solcher Weg jedoch nicht auf, „könnte man im Blick auf das Scheitern im Sakrament überlegen, ob der Bund, den der Mensch nicht trennen soll, im Einzelfall, wenn ihn der Mensch faktisch getrennt hat, zum Heil der Seelen durch die Vollmacht der Kirche im Sakrament der Buße gelöst werden kann, um einerseits dem um Versöhnung bittenden Menschen ein erfülltes Leben ohne dauerhafte Sünde zu ermöglichen und andererseits den sakramentalen Heils- und Verkündigungscharakter der christlichen Ehe zu verteidigen“ (S. 302). Lisa Straßberger vertritt die These, die Formel „bis der Tod euch scheidet“ lasse sich nicht nur auf den Tod des Ehemannes oder der Ehefrau beziehen, sondern auch auf die Lebenswirklichkeit einer unrettbar gescheiterten Ehe.
Neue Liebesordnung
Kapitel 5 bietet eine Konfrontation der Ergebnisse dieser Untersuchung mit der „neuen Liebesordnung“: Mit dieser Wendung verweist Lisa Straßberger auf die israelische Soziologin Eva Illouz, die sich insbesondere mit der Entkoppelung von Emotionalität und Sexualität, mit der Ökonomisierung des Begehrens, mit der Beziehung zwischen dem Liebesleben eines Paares und dem gesellschaftlichen Leben befasst – und damit auf eigene Weise jene Phänomene beschreibt, wie sie Stephan Thome und Juli Zeh in ihren Romanen plastisch werden lassen. Angesichts dieser Zeitzeichen spricht Lisa Straßberger sakramentalen Treueversprechen eine besondere Brisanz zu.
Interdisziplinäre Nachforschungen zu einem zentralen Topos christlicher Verkündigung
In diesen inhaltlichen Umrissen tut sich eine massive Kluft zwischen vielfältigem schmerzlichem Scheitern und der Vision gelebter Treue auf. Diese führt und verführt hier jedoch nicht dazu zu klären, wie traditionelle Vorgaben womöglich pastoral nachhaltiger als bisher an den Mann und die Frau gebracht werden können und wie dies vielleicht auch ohne jenen erhobenen Zeigefinger gelingt, der mehr Reaktanz erzeugt, als dass er ein bestimmtes Ziel erreicht. Vielmehr legt Lisa Straßberger eine grundlegende Reflexion auf das Realsymbol der Treue vor. Damit verbindet sich die Hoffnung, die genannte Kluft zumindest so weit zu überbrücken oder zu verkleinern, dass beide Seiten überhaupt wieder miteinander in Verbindung treten können, vielleicht sogar auf fruchtbare Weise. Mit dieser Entscheidung, nicht Vermittlungsstrategien für theologisch Unhinterfragtes zu ersinnen, sondern interdisziplinäre Nachforschungen zu einem zentralen Topos christlicher Verkündigung zu betreiben, wählt Lisa Straßberger mutig und beharrlich den deutlich anspruchsvolleren und schwierigeren, nach meiner festen Überzeugung aber auch den einzig zukunftsträchtigen Weg.
Praktisch-theologisch verantworteter Umgang mit einem auseinandergerissenen Sakrament
Nachdem biblische und literarische Textzeugnisse intensiv konsultiert und prägnant analysiert sind, stellt sich noch bedrängender als ohnehin schon die Frage nach Auswegen aus den nun benannten Krisen und Sackgassen, also nach dem Umgang mit dem auseinandergerissenen Sakrament. Lisa Straßberger insistiert darauf, dass die Ehelosigkeit sich nicht auf Kosten der ehelichen Liebe profilieren darf und dass Verrat an der zwischenmenschlichen Liebe in den Sakramenten von Ehe und Weihe performativ Verrat an der Liebe Christi ist, auf die sich das jeweilige Gegenüber im sakramentalen Bund verlassen hat und die sich in der Zuwendung des Ehepartners beziehungsweise der Ehepartnerin oder des Priesters konkretisiert.
Die begründete Warnung davor, Ehe und Familie undifferenziert zusammenzudenken, schützt nicht davor, dass Paare tragisch scheitern – mit drastischen Auswirkungen nicht allein für ihre eigenen, sondern auch für die Lebensläufe ihrer Kinder; die literarischen Zeugnisse sprechen für sich. Scheitern können aber auch ehelos Lebende: Welche Auswege zeigen sich angesichts eines durch Missbrauch verunstalteten besonderen Priestertums, zuerst aber angesichts der bedrängenden Frage, ob und wie verletzten Menschen Gerechtigkeit widerfahren kann? Denn Hauptopfer dieses grandiosen Scheiterns sind nicht die Täter, sondern die schwerverletzten oder gar von Seelenmord betroffenen Menschen. Für sie spitzt sich das ohnehin Verbrecherische sexueller Gewalt noch zu, wenn Priester zu Tätern werden. Denn wenn der Gekreuzigte und Auferstandene sich mit allen Opfern solidarisiert hat, bis in den Tod und darüber hinaus, dann müssen sich die für diese Verbrechen Verantwortlichen auch vorhalten lassen, dass sie sich mit dem Seelenmord, den sie verübt oder zugelassen haben, zu Henkern ihres Herrn gemacht haben.-
Lisa Straßberger ist mit dieser Untersuchung ein diskussionsfähiger und diskussionswürdiger Wurf gelungen. Dank ihrer theologischen und literaturwissenschaftlichen Kompetenzen vermochte sie ein inhaltlich ebenso weites wie minenträchtiges Feld so souverän zu beackern, dass daraus eine sorgfältig und mutig erarbeitete, spannend und lehrreich zu lesende Veröffentlichung zu einem zentralen Topos christlicher Verkündigung entstand.
(Buchcover: http://www.gruenewaldverlag.de/treue-und-passion-p-1287.html)