Kathrin Ritzka über die Trostbedürftigkeit in Zeiten von Klimakrise und dem Verlust eines Zuhauses. Eine Spurensuche anhand des Romans Weather
Trost und Trösten, das sind klassische Bestandteile seelsorgerischer Praxis. Trostbedürftig können zum Beispiel Trauernde, Kranke und Einsame sein. Aber kann man auch Trost suchen in Anbetracht einer der größten Katastrophen unserer Zeit, der Klimakrise? Oder vielmehr: sollte man? Trost hat den alltagssprachlichen Ruf, erfahrene Übel nicht aus der Welt zu schaffen, sondern lediglich das Leiden an ihnen zu lindern. Und der Grat zwischen Trost und Vertröstung scheint in diesem Fall schmal. Dieser Beitrag will dem Trostbedürfnis nachgehen, das immer mehr Menschen empfinden, die die Konsequenzen des Klimawandels spüren. Schauplatz: die Gegenwartsliteratur, die einen besonderen Umgang mit dem literarischen Motiv des Trostes entwickelt hat.
Eli is at the kitchen table, trying all his markers one by one to see which still work. Ben brings him a bowl of water so he can dip them in to test. According to the current trajectory, New York City will begin to experience dramatic, life-altering temperatures by 2047.[1]
Der Roman Weather (2020) der US-amerikanischen Schriftstellerin Jenny Offill, dem dieses Zitat entnommen ist, besteht aus unzähligen Fragmenten. In ihnen werden alltägliche Situationen aus dem Leben einer jungen Familie in New York geschildert und sorgfältig recherchierten Fakten gegenübergestellt. Oft schlagen sie Brücken zwischen dem Mikrokosmos des Alltags und der Welt als ganzer, dem krisenbehafteten „21st-century-everything“ unter dem sie leidet, wie es an anderer Stelle heißt. In der düsteren Stimmung des Romans, der kurz vor der Wahl Donald Trumps spielt, konzentriert sich eindrucksvoll ein Gefühl, das der australische Philosoph Glenn Albrecht „solastalgia“, z. dt. „Solastalgie“ nennt. „Solastalgie“ ist ein Kofferwort bestehend aus „solace“ und „nostalgia“. „Solace“ ist einer der englischen Begriffe für „Trost“ und Nostalgie bezeichnet die Trauer über den Verlust eines Zuhauses. „Solastalgie“ steht für die Trostbedürftigkeit, die im Bewusstsein über die im Hier und Jetzt in Zerstörung begriffene Heimat begründet ist.[2] Eine Art von Heimweh, die nichts mit dem Verlassen eines Zuhauses zu tun hat, sondern sich vielmehr auf der Einsicht gründet, dass sie wahrscheinlich verloren ist. Offills Roman wird zur sogenannten „Cli-Fiction“ (Climate Fiction) gerechnet und handelt von Trost. Aber nicht in einem ausschließlich positiven Sinne, sondern in den Vordergrund rückt insbesondere sein Mangel, die Trostlosigkeit der Situation, in der sich die Erde befindet. Nicht als Faktum, sondern als Klage.
Solastatalgie: Trauer über den Verlust eines Zuhauses.
Aber wie lässt sich diese Art von Trost genauer beschreiben? Der Literaturwissenschaftler David James untersucht Trostkonzeptionen in der britischen Gegenwartsliteratur und stellt fest, wie produktiv viele Werke in ihrer Auseinandersetzung vor allem mit Trostkritik umgehen.[3] Tröstungsoptionen würden oft grundsätzlich infrage gestellt oder abgelehnt – und doch würden über ihre Diskussion im positiven Sinne Trostverständnisse und Trostforderungen erzeugt. In der Ambivalenz des Trosts zwischen Trostbedürfnis und Zweifel an Trostoptionen werde die Idee der Möglichkeit von Trost nicht von vorneherein verworfen, sondern ihr werde Raum gegeben. In diesen Konzeptionen wird Trost nicht vom Ende her gedacht, sondern aus der Perspektive des gegenwärtig empfundenen Trostbedürfnisses. Auf Offill übertragen widersteht die Protagonistin des Romans etwa dem politischen Trostangebot, das die Wahl Trumps darstellt. Ihr Verdacht richtet sich gegen alles, was verabsolutierend wirkt, sie ist aber deswegen nicht fatalistisch. Bei aller Kritik bleibt die Hoffnung auf Trost bestehen, sie speist sich gerade aus dem, was er (noch) nicht ist.
Trost als kritisches Korrektiv zwischen Verzweiflung und Fundamentalauflösung.
Der französische Philosoph Michaël Fœssel versteht unter Trost eine Art Kompromiss zwischen „Wiederherstellung“ und „Melancholie“ als möglichen Folgen leidvoller Situationen. Während eine Wiederherstellung der Situation vor dem schmerzbereitenden Ereignis den Schmerz über ein Übel vergessen lasse und Melancholie sich im Schmerz verliere, biete Trost einen Mittelweg zwischen beiden Extremen.[4] Trost und die Suche nach ihm kann ein kritisches Korrektiv sein zwischen der totalen Verzweiflung und der vorschnellen und unhinterfragten Fundamentalauflösung aller Probleme, die „falsche Tröstungen“ darstellen.
Ein zentraler Bedeutungsaspekt von Trost spiegelt sich in den englischsprachigen (bzw. lateinischen) Begrifflichkeiten wider. Neben „solace“ existieren die Wörter „comfort“ und „consolation“. Beide verbindet das Präfix „con“, „mit“. Trost bedeutet auch „gemeinsam“ leiden, „mit“-leiden. Diesen solidarischen Aspekt als Kerneigenschaft von Trost beschreibt auch der Philosoph Hans Blumenberg: Sobald ein Individuum seinen Mitmenschen ein Trostbedürfnis eröffne (Blumenberg spricht von einer „Werbung um Trost“), setze die tröstende Reaktion des „Adressaten“ ein.[5] Dabei spiele es keine Rolle, ob der Trostbedürftige dem Tröster bekannt oder fremd sei.[6] Beim Akt des Tröstens komme es zu einem „Delegieren“ dessen, was der Trostbedürftige ansonsten allein zu tragen hätte.[7] Der Mensch sei also fähig, seinen Schmerz „aufzuteilen“.[8]
Der Mensch sei also fähig, seinen Schmerz „aufzuteilen“.
Dabei bleibt die Wirkung und die Solidarität allerdings nicht notwendig auf den Menschen beschränkt. In einem der Fragmente von Offills Roman heißt es: „There is a species of moth in Madagascar that drinks the tears of sleeping birds.“[9] Es gibt in Madagaskar eine Mottenart, die die Tränen schlafender Vögel trinkt. Der Mensch wird in Weather als Teil eines komplexen Ökosystems beschrieben: Sowohl seine Trostbedürftigkeit als auch seinen Trost kann er nicht außerhalb dieses Systems reflektieren, artikulieren und befriedigen.
Es gibt in Madagaskar eine Mottenart, die die Tränen schlafender Vögel trinkt.
Parul Sehgal beobachtet in Bezug auf Offills Roman Strategien des Überschreitens der Grenze zwischen Text und außertextlicher Wirklichkeit, zwischen Kunstrezeption und Handeln. Weather „erlaube“ keine Passivität. Verantwortlich dafür seien nicht nur die sprachmächtigen Fragmente, aus denen der Text bestehe, sondern auch die „Stille zwischen ihnen“. Die Lücken zwischen den Bruchstücken würden die Leser:innen herausfordern. Sie müssten aktiv mitdenken, Verbindungen zwischen Abschnitten herstellen, die oft erst auf den zweiten Blick, über Schlüsselwörter oder einen weiteren, folgenden Abschnitt, miteinander verbunden seien. „We are invited to take possession of the book in its white spaces in a way that feels like preparation to live more fully in the world“, schreibt Sehgal.[10] Die Trostlosigkeit, die sich als „Solastalgie“ in Weather einschreibt, steht aus rezeptionsästhetischer Perspektive zusammen mit der Verpflichtung der Lesenden, engagiert zu lesen, die Lücken zu füllen und auf diese Weise in die bedrückende Romanwelt einzutreten, von ihr Besitz zu ergreifen und ein Teil von ihr zu werden – und uns dadurch auch selbst von ihr verändern zu lassen.
Johann Baptist Metz forderte einst eine theologische Trostreflexion.
Eine der großen Herausforderungen der Gegenwart ist es, einen Umgang mit der menschlich verursachten Klimakrise zu finden. Inwiefern sich dieser Umgang nicht nur in politischen, wirtschaftlichen und technischen Aspekten niederschlägt, sondern auch emotionalen Bedürfnissen gerecht werden muss, zeigt sich am Beispiel von Offills Roman. Johann Baptist Metz forderte einst eine theologische Trostreflexion, die sich „den Herausforderungen des neuzeitlichen Schicksals des Menschen“ stellt und dabei (unter anderem) „die einseitig vorherrschende Bestimmung des Menschen als Herrschaftssubjekt gegenüber [der] Natur“ in Frage stellt.[11] In der Gegenwartsliteratur lassen sich erste Anknüpfungspunkte für ein Trostverständnis finden, das diese Forderung kritisch reflektiert. Diese ins Gespräch zu bringen mit traditionellen Vorstellungen christlichen Trostes, ist Aufgabe der Theologie.
Kathrin Ritzka hat Theologie und Deutsche Literatur in Freiburg/Br., Cambridge und Berlin studiert und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Systematische Theologie des Instituts für Katholische Theologie an der HU Berlin. Zugleich arbeitet sie als Koordinatorin am Aufbau des interdisziplinären „Center for Interreligious Theology and Religious Studies“ (CITRS) mit.
Beitragsbild: Lewis Guape, unsplash.com
[1] J. Offill: Weather, New York 2020.
[2] Vgl. Glenn Albrecht, Gina-Maree Sartore, Linda Connor, Nick Higginbotham, Sonia Freeman, Brian Kelly, Helen Stain, Anne Tonna, Georgia Pollard: Solastalgia: The Distress Caused by Environmental Change, Australasian Psychiatry 15:1 (2007) suppl, 95-98, hier: 96.
[3] D. James: Discrepant Solace, Oxford 2019.
[4] M. Fœssel: Le Temps de la consolation (= L’ordre philosophique), Paris 2015.
[5] H. Blumenberg: Beschreibung des Menschen, Beschreibung des Menschen, aus dem Nachlaß hrsg. v. M. Sommer, Frankfurt a. M. 2014, hier: 624.
[6] Vgl. ebd.
[7] Ebd. 625.
[8] Ebd. 626.
[9] J. Offill, Weather, New York 2020.
[10] P. Sehgal: How to Write Fiction When the World Is Falling Apart, in: The New York Times Magazine (5. Februar 2020), https://www.nytimes.com/2020/02/05/magazine/jenny-offill-weather-book.html (letzter Zugriff: 19.3.2024).
[11] J. Metz: Über den Trost, in: Über den Trost: Für Johann Baptist Metz, hrsg. v. T. R. PETERS u. Claus URBAN, Ostfildern 2008, hier: 10.