Der Wirtschaftsminister hält TTIP „de facto“ für tot. Die Kanzlerin offenbar nicht. Johannes Müller fasst die sozialethisch strittigen Punkte zusammen.
Lange Zeit hat kaum jemand von den Verhandlungen um das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership) zwischen den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union Kenntnis genommen. Es handelt sich dabei um ein komplexes Abkommen, das eine Vielzahl von Bereichen umfasst, die in der Regel nicht Thema von Handelsgesprächen sind. Inzwischen hat sich eine sehr kontroverse Debatte um TTIP entwickelt. Was sind die wichtigsten Streitpunkte?
1. Ein grundsätzlicher Kritikpunkt ist die fehlende Transparenz der Verhandlungen, die weitgehend hinter verschlossenen Türen stattfinden. Selbst Bundestagsabgeordnete erhalten nur begrenzten Einblick. Zu Anhörungen werden fast nur Vertreter großer Unternehmen eingeladen, während die Zivilgesellschaft ausgesperrt bleibt. Manche sprechen sogar von einem Kampf zwischen der Macht großer transnationaler Unternehmen und demokratischen Entscheidungsprozessen. All dies hat zu einem erheblichen Vertrauensverlust in weiten Kreisen der Öffentlichkeit geführt.
2. Es ist kaum bestreitbar, dass Freihandel in Verbindung mit internationaler Arbeitsteilung wirtschaftliche Aktivität stimulieren, mehr Wachstum ermöglichen und für alle Beteiligten Wohlfahrtsgewinne bringen kann. Welchen Nutzen TTIP tatsächlich bringen wird, ist jedoch umstritten, was sich in sehr unterschiedlichen Gutachten widerspiegelt. Bisher ist auch noch kaum abzuschätzen, ob und inwieweit ärmere Länder und ärmere Bevölkerungsgruppen profitieren werden. Dies hängt wesentlich davon ab, ob TTIP eine bessere Nutzung eigener Ressourcen ermöglichen und einen besseren Zugang zu den Märkten der Industrieländer schaffen wird. Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich fast überall auf der Welt lässt jedoch befürchten, dass einmal mehr große transnationale Unternehmen die Hauptgewinner sein werden. Zudem kann mehr Wachstum der Umsetzung der Ziele nachhaltiger Entwicklung (SDGs), welche die UNO 2015 beschlossen hat, im Wege stehen.
3. Klassische Zölle spielen heute meist nur noch eine Nebenrolle. TTIP will daher vor allem nichttarifäre Handelshemmnisse abbauen. Die Vereinheitlichung von technischen Normen, Verpackungsvorschriften oder Ausschreibungsmodalitäten ist durchaus wünschenswert, soweit damit dies nicht zum Ziel hat, den eigenen Markt abzuschotten. In diesen Bereich fallen aber auch Sozial‑ und Umweltstandards. Es besteht die Sorge, dass man sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigt, was zu einer Schwächung solcher Standards führen würde. Dabei geht es um so wichtige Anliegen wie soziale Menschenrechte, Verbraucherschutz oder kulturelle Vorstellungen.
4. Problematisch ist auch, wenn TTIP verhindert, dass man im Fall neuer Erkenntnisse Standards verschärfen oder neue Standards für bisher nicht geregelte Bereiche setzen will. Daher sind so genannte Negativlisten abzulehnen, die besagen, dass alle Bereiche liberalisiert werden können, die in einem solchen Regelwerk nicht explizit aufgelistet sind. Der eigentlich allein vertretbare Ansatz ist ein Positivkatalog, der genau aufführt, in welchen Feldern derartige Öffnungen erwünscht sind. Außerdem ist eine Klausel sinnvoll, die eine Korrektur unerwünschter Fehlentwicklungen ermöglicht.
5. Die Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) 1995 war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung. Darum ist ihre Weiterentwicklung durch geeignete Reformen wünschenswert. TTIP stellt dagegen ein regionales Abkommen dar, welches das strukturelle Ungleichgewicht in der Weltwirtschaft vertiefen könnte. Dies wäre ein großes Hindernis für den angestrebten Multilateralismus der WTO, ja es könnte ihn längerfristig sogar gefährden. Darauf deutet die Tatsache hin, dass TTIP auch geostrategische Ziele hat. Das Abkommen will (wie das transpazifische Abkommen TPP 2015) den westlichen Wirtschaftsblock gegenüber China stärken, um rechtzeitig eigene Maßstäbe zu setzen. Dies kann zu Handelsblöcken führen unter Ausschluss kleinerer Akteure und schwächerer Länder. Am grundlegendsten ist die Kritik, dass die Ausgrenzung der schwächeren Länder dem Prinzip globaler Partnerschaft widerspricht. Dieses Prinzip der Umweltkonferenz in Rio de Janeiro 1992 ist von großer Bedeutung für die weltweite Zusammenarbeit zur Lösung der globalen Probleme wie Armutsbekämpfung, Klimawandel oder Migration.
6. Am umstrittensten ist der sehr zentrale Investorenschutz. In ihm geht es vor allem um Klauseln, die es Unternehmen erlauben, Schadensersatz und andere Ansprüche gegen Staaten vor internationalen Schiedsgerichten einzuklagen, die außerhalb der bestehenden Rechtssysteme angesiedelt und der Öffentlichkeit entzogen sind. Da aber die USA wie die EU gut etablierte Rechtssysteme haben, die Investoren ausreichend schützen, gibt es keinen guten Grund für diese Verfahrensweise. Schiedsgerichten ähnlicher Art wird u.a. vorgeworfen: Nutzen nur für eine kleine internationale Elite, inkonsistente Rechtsprechung, Parallelklagen (national und international), verfassungsrechtliche Kollision. Auf keinen Fall darf TTIP das Recht von Staaten beschneiden, ihren Bürgerinnen und Bürgern öffentliche Dienstleistungen bereitzustellen oder ihre regionale Wirtschaft zu stärken.
7. Nach Meinung vieler Experten untergräbt TTIP die bestehenden Verfassungen und Rechtsprinzipien auch in anderer Weise. Dies betrifft vor allem die parlamentarische Kontrolle. Inwieweit das Europäische Parlament und nationale Parlamente zustimmen müssen, ist nach wie vor nicht klar, da es sich um einen „Gemischten Vertrag“, der nicht nur Handelsfragen betrifft, für den die Europäische Kommission zuständig ist. Völlig abzulehnen ist der geplante „Rat für regulatorische Kooperation“ (RCB) sowie ähnliche Expertenausschüsse, die das Abkommen nach seiner Ratifizierung laufend fortschreiben sollen, und zwar ohne parlamentarische Zustimmung. Der RCB soll sogar schon im Frühstadium nationaler Gesetzgebungsprozesse angehört werden.
8. Im Kern geht es um die ordnungspolitische Alternative „Markt versus Staat“. Diesbezüglich gibt es erhebliche Unterschiede zwischen dem angelsächsischen und kontinentaleuropäischen Modell. Unbestreitbar gibt es Staatsversagen, aber ebenso viel Marktversagen. Auch wenn es immer Reformbedarf geben wird, so darf TTIP auf keinen Fall die soziale Marktwirtschaft in weiten Teilen Europas schwächen. Dies wäre aber der Fall, wenn die mächtigen transnationalen Unternehmen außerhalb nationaler Gerichtsbarkeit stehen würden. Angesichts des Fehlverhaltens vieler renommierter Unternehmen in den vergangenen Jahren (Steuerverhalten, Zinsmanipulation, Korruption) kann man schwerlich darauf vertrauen, dass diese nicht hauptsächlich an Gewinnmaximierung interessiert sind. Vielfältige Erfahrungen lehren, dass so genannte freiwillige Selbstverpflichtungen wenig wirksam sind.
9. Inwieweit TTIP zu einer Benachteiligung des globalen Südens führen wird, ist nicht einfach zu beantworten. Es gibt widersprüchliche Gutachten, die aber wichtige Aspekte oft nicht berücksichtigen. Die meisten Drittländer würden durch die zu erwartenden Handelsumlenkungseffekte wohl schlechter gestellt. Besonders für ärmere Länder würde dies einen Verlust an Marktanteilen bedeuten. Dies betrifft insbesondere den Agrarsektor, wenn etwa Länder in Nord- und Westafrika weniger nach Europa exportieren können, da sie nicht mit nun noch billigeren US-Importen konkurrieren können. Studien sprechen von Verlusten in bestimmten Bereichen, die aber vielleicht anderswo (z.B. Tourismus) ausgeglichen werden könnten. Dies ist jedoch weitgehend spekulativ.
10. Noch grundlegender ist die Frage, ob mehr Wachstum in den reichsten Regionen der Welt wirklich erwünscht ist. Seit Jahren debattiert man über ein anderes Wohlfahrtskonzept und plädiert für ein umweltgerechtes (grünes) Wachstum. Solche Fragen, die eng zusammenhängen mit Klimaschutz, Energiepolitik, Nahrungsmittelsicherheit usw., scheinen in den bisherigen Verhandlungen so gut wie keine Rolle zu spielen. Dies erweist alle Bekenntnisse zur Bekämpfung von Armut und Klimawandel als wenig glaubwürdig. Mehr Handel ist in der Regel mit mehr Transporten und damit zusätzlichen CO2-Emissionen verbunden. Außerdem fördert mehr Wohlstand einen konsumorientierten Lebensstil. Hier manifestiert sich ein Grundproblem der Politik, nämlich die Inkohärenz unterschiedlicher Politikfelder. Man will grundlegende Weichenstellungen vornehmen, die richtig sind (z.B. die Energiewende), aber in anderen Politikbereichen werden diese Ziele völlig ausgeblendet.
Für ein abschließendes Urteil ist es noch zu früh. Auf jeden Fall aber müssen die weiteren Verhandlungen sehr kritisch verfolgt werden. Dies erfordert größtmögliche Transparenz, keinen Zeitdruck, die demokratische Beteiligung der Parlamente und eine Einbeziehung der Zivilgesellschaft. Vor allem aber braucht es eine Gesamtperspektive, die all die genannten Aspekte berücksichtigt.
Viele dieser Kritikpunkte betreffen auch das ähnlich gelagerte Abkommen CETA (Comprehensive Economic Trade Agreement) zwischen Kanada und der EU. Es ist in mancher Hinsicht sicher positiver zu bewerten. Problematisch ist aber, dass es schon seit einiger Zeit vorläufig angewandt wird, obwohl seine Ratifizierung noch aussteht.
Johannes Müller SJ ist emeritierter Professor für Sozialwissenschaften und Entwicklungspolitik an der Hochschule der Jesuiten in München. Er berät die Deutsche Bischofskonferenz in weltkirchlichen und entwicklungspolitischen Fragen.
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Eine ausführlichere Fassung des Textes mit Literaturverweisen findet sich in: J. Müller, Welthandel im Dienst des Gemeinwohls, in: Acta Universitatis Carolinae Theologica 6 (2016) 1, 69-84.