Ein Zwischenruf von Helga Kohler-Spiegel.
Ich wollte über Angst schreiben, und darüber, wie Angst spaltet und trennt. Der Begriff „Angst“ wird hergeleitet vom Lateinischen „angustus“, „Beengtheit“ bzw. „Enge“, sowie von „angor“, „Würgen, Beklemmung“. Das Verb „angere“ meint „die Kehle zuschnüren, das Herz beklemmen“. Angst macht eng, sie schnürt die Kehle zu. Angst trennt aber auch. Angst trennt uns von anderen Menschen, Angst schneidet uns auch von uns selbst ab. Wenn die Angst einengt und Beklemmung verursacht, kann dies zu einer inneren
Übererregung führen, die die Verarbeitung der emotionalen Erfahrung im Denken, in Ausdruck und Sprache beeinträchtigt. Die Übererregung ist da, aber sie kann emotional und verbal nicht erfasst und ausgedrückt werden. So sehr mit der eigenen Übererregung befasst und von ihr erfasst, sind Menschen häufig nicht fähig, sich selbst und andere Personen wahrzunehmen, die andere Person kann sogar als feindlich wahrgenommen werden. Angst führt dazu, dass Menschen sich mit „Gleichgesinnten“ verbinden, um sich zu orientieren und zu stabilisieren, so sehr, dass sie dabei die Verbindung mit anderen und mit sich selbst verlieren können. So bleibt: Angst kann spalten… Dieses Phänomen ist seit der Pandemie verstärkt wahrnehmbar, finde ich.
Angst spaltet und trennt.
Und mitten in diesen Gedanken, spätabends, im Hintergrund laufen Nachrichten, es geht um Kinderpornographie und was den Ermittler:innen im Darknet gelungen ist. Das ist beeindruckend, und für die Ermittler:innen höchst anspruchsvoll, in dieser Arbeit das Menschliche nicht zu verlieren. Und jedes Mal, wenn ich diesen Begriff höre, reagiere ich: Es heißt „Kinderfolter-Dokumentation“. Michaela Huber, Expertin für Traumabehandlung, verwendet diesen Begriff in ihren Arbeiten. Und sie hat recht. Ich denke, wir müssen aufhören, von Kinderpornografie zu reden. Darum geht es nicht. Es ist „Kinderfolter-Dokumentation“. Dann benennen wir, worum es geht.
klar bleiben
Mir hilft es, klar zu bleiben. Ebenso wie manche den Begriff „Missbrauch“ von Kindern verwenden, wenn es um „sexualisierte Gewalt“ an Kindern geht. Und das Grausame an Gewalt ist, dass sie nicht nur da ist, wenn sie da ist, sondern atmosphärisch, als Angst, immer da ist. Vielleicht mögen Sie lesen: „Klein“ von Stina Wirsén, „Schreimutter“ von Jutta Bauer, „Ein Tag in Pauls Familie“ von Daniel Seyfried und Regina Winkler. Und vermutlich noch viele weitere Kinderbücher. Nicht dramatisch, aber aufrüttelnd und berührend, finde ich, immer wieder.
Grundhaltungen
Ich wollte über Angst schreiben, wie sie die Wahrnehmung und das Empfinden, das Denken und das Mitgefühl einschränken kann. Und wie sie spalten kann, wenn uns die Komplexität unserer Gesellschaft und die Vielfalt an Meinungen fordert und manchmal überfordert, wenn Orientierung fehlt und wir uns eine überschaubare Welt wünschen… Vielleicht sind die Nachrichten so eingebrochen in meinen Gedanken, weil sie bei aller manchmal verwirrenden, für manche beängstigenden Komplexität und bei aller Angst, die Menschen erfassen kann, deutlich machen: Es gibt ein paar Grundhaltungen, die nicht verhandelbar sind.
Menschlich bleiben
Fast täglich gehe ich an einem riesengroßen Schaufenster vorbei, das wegen Covid kein Schaufenster mehr ist, und das Geschäft dahinter ist kein Geschäft mehr. Das Schaufenster ist geblieben, und im Schaufenster steht in riesengroßen Buchstaben: „Being human ist given. Keeping our humanity ist a choice.“ Vielleicht geht es darum: Menschlich zu bleiben… Während der Pandemie und danach.
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Text und Bild: Helga Kohler-Spiegel
Sie ist Professorin für Human- und Bildungswissenschaften an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg und Redakteurin von feinschwarz.net.
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