… und warum auch berufstätige Mütter eine enge Bindung zu ihren Kindern aufbauen können. Von Barbara Staudigl
Meine Kinder sind 20 und 24 und leben bereits außer Haus. Ich habe heuer mein 30-jähriges Dienstjubiläum und immer in Vollzeit gearbeitet, was bedeutet: Meine Kinder sind mit einer voll berufstätigen Mutter aufgewachsen – mit einem voll berufstätigen Vater übrigens auch, aber seine Berufstätigkeit war öffentlich jederzeit akzeptiert, während ich mitunter in Frage gestellt oder als Karrierefrau kategorisiert wurde.
Immer in der Defensive.
Ich habe es oft als kränkend empfunden, dass einer voll berufstätigen Mutter abgesprochen wird, eine gute Mutter zu sein. Die Bindung zum Kind könne ja nicht funktionieren, wenn man 40 Stunden pro Woche arbeitet – auch wenn die Kinder selbst mindestens 35 Stunden durch Schule und Schulweg aus dem Haus sind und gewiss zehn weitere gebunden durch Freizeitaktivitäten und Hausaufgaben. Und immer ist man in der Defensive, stolpert mit Rechtfertigungen den Vorwürfen hinterher und kämpft mit der eigenen Verunsicherung. Man beobachtet sorgenvoll, ängstlich, zumindest nicht gelassen genug die Entwicklung der eigenen Kinder. Jetzt, da meine Kinder erwachsen sind, habe ich eine größere Gelassenheit – und eine enge Bindung zu ihnen.
Ich möchte diesen Topos in Frage stellen, dass eine außerhäusige Berufstätigkeit der Mutter und die Qualität der Bindung zu den Kindern ursächlich zusammenhängen. In meinen Augen werden hier Dinge vermischt, die nichts miteinander zu tun haben, nämlich Lebensform und Berufstätigkeit. Jedes Gesellschaftsmitglied muss unabhängig von der Lebensform für sein finanzielles Auskommen, die Führung des Haushalts und die Absicherung im Alter Sorge tragen. Kommen Kinder hinzu, erweitert sich die Fürsorge auf Gegenwart und Zukunft der Kinder.
Notwendigkeit, das gegenwärtige Leben und das Alter zu bewältigen und abzusichern.
Im Rahmen der Notwendigkeit, das gegenwärtige Leben und das Alter zu bewältigen und abzusichern, gibt es Teilzeit- oder Vollzeitmodelle außer Haus oder die Führung des Haushalts im Haus. Welche Modelle man im Laufe seines Lebens wählt, hängt von verschiedenen Faktoren ab: von der Qualifikation der Frauen, von der Qualifikation der Partner oder Partnerinnen, von der Art der Partnerschaft, vom finanziellen Background der Familie, vom Status der Altersvorsorge, von den regional unterschiedlichen Chancen und der Qualität der Betreuungseinrichtungen für Kinder – und natürlich auch von der eigenen Persönlichkeit. Mit diesen Rahmenbedingungen muss Muttersein, muss Elternsein gestaltet werden. Und sie mögen leichter oder schwerer für die Einzelnen sein, aber in keinem Fall erzeugen Rahmenbedingungen eine Bindung zwischen Eltern und Kindern. Bindung ist nie ein Nebenprodukt einer beruflichen Tätigkeit, sei diese im Haus oder außer Haus, sondern immer das Ergebnis von Beziehungsarbeit.
Es gibt die klassischen Bindungstheorien des englischen Psychoanalytikers John Bowlby und der amerikanisch-kanadischen Entwicklungspsychologin Mary Ainsworth, die gemeinsam in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Bindungsverhalten zwischen Kleinkindern und ihren Müttern untersuchten und davon ausgehend das Bindungsverhalten als lebenslange biografische Konstante darstellten.1 Es sind ausgezeichnete Forschungsergebnisse, die dazu beigetragen haben, den Lebensbeginn ernst zu nehmen. Und ich finde es großartig, dass es seit dem Jahr 2007 das Elterngeld für das erste Lebensjahr des Kindes gibt und auf diese Weise von der Gesellschaft honoriert wird, dass Eltern den Generationenvertrag für alle erfüllen. Nach dem ersten Jahr folgen aber meist noch mindestens 17 Jahre gemeinsamen Lebens, bis das Kind volljährig ist und noch weitere, bis das Kind beruflich im Sattel sitzt. Jahre, in denen der Haushalt geführt, der Lebensunterhalt bestritten und für die Rente vorgesorgt werden muss.
Ich habe mich oft – und mittlerweile auch meine erwachsenen Kindern – gefragt, was Bindung ausmacht und wie Bindung entsteht. Die folgenden Thesen sind nicht wissenschaftlich überprüft, sondern die Erfahrung aus 20 und 24 Jahren Beziehung mit meinen Kindern.
Die individuellen Rhythmen der Familienmitglieder gleichberechtigt leben!
Je mehr Menschen zusammenleben, je unterschiedlicher die Alltagsrhythmen sind und je mehr Termine kumulieren, desto wahrscheinlicher werden Kollisionen. Dies zu managen, mag weniger stressig sein, wenn Mütter in Teilzeit arbeiten oder zu Hause den Haushalt führen. Doch das ist eine Frage der Logistik, nicht der Bindung. Wenn die Rhythmen aller Familienmitglieder gleichberechtigt akzeptiert werden, wenn nicht automatisch die Termine der berufstätigen Eltern dominieren, dann entsteht die Notwendigkeit zum Gespräch, zu Kompromissen, zur Suche nach lebbaren Lösungen. Dieses gemeinsame Ringen darum, dass die Lebensrealitäten aller Raum finden und abgewogen werden, macht es manchmal anstrengend, hat aber nicht eo ipso einen Einfluss auf die Bindung zwischen Eltern und Kindern, die gerade auch im Gespräch und gemeinsamen Finden von Lösungen entstehen kann.
Gemeinsame Rituale entdecken und genießen!
Kinder brauchen Rituale, die ihnen Sicherheit und Geborgenheit vermitteln. Rituale sind immer individuell und unterschiedlich – und sie divergieren sicher auch vor dem Hintergrund der Berufstätigkeit der Eltern. Ich erinnere mich gerne an eines unserer Familienrituale: Am Freitagmittag holten wir die Kinder von der Schule ab und gingen miteinander in die Mensa zum Mittagessen. Natürlich war das der Tatsache geschuldet, dass wir Eltern keine Zeit hatten, das Mittagessen vorzubereiten. Aber so empfanden es die Kinder nicht – und wir auch nicht. Wir genossen den gemeinsamen Mensa- und Cafeteriabesuch als Ritual zum Auftakt in das Wochenende.
Störungen ernst nehmen!
Der Alltag mit zwei voll berufstätigen Eltern und Kindern, die in Kindertagesstätte oder Schule sind, lebt von der Routine und der Hoffnung, dass alles möglichst reibungslos und normal läuft. Aber es muss auch Störungen geben dürfen. Kinder müssen spüren, dass sie auch mal nicht funktionieren müssen, wenn sie wegen Bauchschmerzen oder einem Sportunfall aus der Schule abgeholt werden müssen. Störungen haben Vorrang, das wissen wir aus der Themenzentrierten Interaktion nach Ruth Cohn. Und man muss sie genau deswegen so ernst nehmen, weil in ihnen der hohe Wert des Funktionierens zum Ausdruck kommt. Im öffentlichen Dienst gibt es vier Tage bezahlte Freistellung bei Krankheit von Kindern, was Eltern erlaubt, derartigen Störungen auch tatsächlich den Vorrang zu geben; auch das halte ich für einen guten Weg, die Leistung, die Eltern für die gesamte Gesellschaft erbringen, zu honorieren.
Sich Hilfe holen!
Die Erziehung von Kindern, die Haushaltsführung, das Erwirtschaften der finanziellen Grundlage für Gegenwart und die Vorsorge für das Alter sind komplexe Aufgaben. Es ist keine Schande, sich Hilfe zu holen, wenn es zuviel wird. Und nicht jeder und jede hat die Möglichkeit, auf familiäre Hilfe zurückzugreifen. Wir haben in der Kleinkindphase unserer Kinder ein Au-pair-Mädchen, später eine Tagesoma in unsere Familie aufgenommen. Zu beiden haben die Kinder eine Bindung aufgebaut. Als die Kinder größer waren, haben wir uns Hilfe für den Haushalt geholt, weil wir nicht alles schaffen konnten; und auch das haben wir dankbar als Unterstützung durch eine weitere Person erlebt, die unsere Familie bereichert hat. Das halte ich nicht für anstößig, sondern einen möglichen Schritt, um die eigene Arbeitsbelastung in Balance zu halten und die gemeinsame Familienzeit nicht durch weitere Stressfaktoren zu belasten.
Quality time planen!
Der Begriff der Quality time hat seine Herkunft in den USA der 70er Jahre und der Debatte um Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Quality time wird definiert als Zeit, die man ausschließlich der Festigung von menschlichen Beziehungen widmet. Ich halte die Unterbrechung des Alltags, das bewusste Sich-füreinander-Zeit-Nehmen für sehr wichtig und habe diese Zeiten immer sehr genossen. Mein Sohn und ich haben mit Leidenschaft gepuzzelt und dabei Gespräche über Gott und die Welt geführt – ein Ritual, das unlängst auch beim erwachsenen Kind nach einem operativen Eingriff noch getragen hat. Mit meiner Tochter gab es „Frauentage“, die wir beide geliebt haben. An meiner Pin-Wand hängt heute noch der Brief meiner damals 8-jährigen Tochter.
Wunsch: Solidariät unter Müttern
Natürlich hätte ich mir oft leichtere Rahmenbedingungen gewünscht: eine bessere Infrastruktur bei der Betreuung im Kindergartenalter und rhythmisierte Ganztagesschulen mit pädagogischen Konzepten, die über eine Hausaufgabenbetreuung am Nachmittag hinausgehen. Ich hätte mir mehr gemeinsame Familienzeit gewünscht, die es oft nicht gab, weil mein Mann und ich uns abwechselten mit der Betreuung der Kinder.
Und ich hätte mir mehr Solidarität unter Müttern gewünscht anstatt dieser lauernden Konkurrenz um das bessere Muttersein und der gegenseitigen Infrage-Stellung des je anderen Lebensentwurfs. All das macht Elternsein in Deutschland unnötig schwierig. Ich habe öfter sehnsuchtsvoll nach Skandinavien geblickt und mich gefragt, warum wir nicht lernen von jenen, die es besser hinkriegen.
„Unsere Nachbarländer haben viel früher begriffen, dass ein Kind nicht in eine Katastrophe schlittert, wenn seine Eltern berufstätig sind. Sondern dass es darauf ankommt, ob sich die Gesellschaft kümmert, welche Rahmenbedingungen geschaffen werden und dass Erwachsene verlässliche Bindungen zu Kindern eingehen“, sagte Rita Süssmuth in einem Interview im Jahr 2007. Die Rahmenbedingungen werden auf Grund des Fachkräftemangels in Kindertageseinrichtungen und Schulen in den nächsten Jahren nicht besser werden. Aber an der gegenseitigen Infragestellung der Lebensformen und dem Respekt davor, wie andere ihre Muttersein, ihr Elternsein leben, können wir arbeiten.
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Text und Bild: Prof. Dr. Barbara Staudigl, Stiftungsdirektorin der Trägerstiftung der Katholischen Stiftungshochschule (KSH), einer Fachakademie und Fachoberschule in München. Sie war viele Jahre als Professorin einer Hochschule und als Schulleiterin tätig und ist Mutter zweier erwachsener Kinder.
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- Bei Bowlby und v.a. Ainsworth werden durch den so gen. „Fremde- Situation-Test“ verschiedene Bindungstypen diagnostiziert und klassifiziert: sicher gebundene Kinder, die bei der Trennung von der Mutter mit Trauer und bei der Rückkehr mit Erleichterung reagieren; unsicher vermeidende Kinder, die auf die Rückkehr der Mutter nicht signifikant reagieren, aber gehemmt wirken; unsicher-ambivalente Kinder, die bei Rückkehr mit wütender Abwendung und Nähe reagieren; unsicher desorganisierte Kinder, die bei der Rückkehr der Mutter erstarrt und eher stereotyp reagieren. Ainsworth, Mary D.S.: Mutter-Kind-Bindungsmuster, in: Grossmann, Klaus/ Grossmann, Karin (Hg.): Bindung und menschliche Entwicklung. John Bowlby, Mary Ainsworth und die Grundlagen der Bindungstheorien, Stuttgart 2003, 317ff. ↩
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