Rainer Bucher zur kirchlichen Kritik am Kapitalismus und zum dabei nur allzu leicht übersehenen Kapitalismus in uns selbst.
Seit es den Kapitalismus gibt und ganz besonders seit er in der europäischen Neuzeit immer dominanter wurde, hatte die katholische Kirche etwas gegen ihn. Nur in den Zeiten des Kalten Krieges nach dem II. Weltkrieg, im Bündnis mit dem kapitalistischen „Westen“ gegen den real existierenden atheistischen Kommunismus, war das zumindest auf der politischen Oberfläche anders. Seit aber der real existierende Kommunismus verschwunden ist und spätestens seit ein offen kapitalismuskritischer Lateinamerikaner Papst geworden ist, ist es auch damit wieder vorbei.
Die traditionelle Frontstellung der katholischen Kirche gegen den Kapitalismus.
Die traditionelle anti-kapitalistische Frontstellung der katholischen Kirche hatte im Wesentlichen drei Gründe: einen kulturellen, einen ethischen und einen sozialen. Sie beziehen sich allesamt auf zentrale Strukturelemente des Kapitalismus.
Kulturell bemerkte gerade die katholische Kirche natürlich sehr schnell, dass, wie das Kommunistische Manifest in einer schönen Metapher festhält, im Kapitalismus „alles Ständische und Stehende verdampft“ und „alles Heilige“ irgendwann „entweiht“[1] wird. Der Kapitalismus bedrohte die Kirchen als Trägerinnen von ewig und unwandelbar angesehenen Traditionen, Bindungen und Ordnungen.
Kulturell: ein mächtiger und schließlich siegreicher Konkurrent.
Dass der Kapitalismus nach und nach die alten vormodernen, religiös legitimierten ständischen Ordnungen erodierte, dass er die Jahrhunderte alten normativen und sozialen Schalen der Religion, der Nation, der Geburtsfamilie und zuletzt selbst jene des Geschlechts in einem zuerst langsamen, dann nach und nach sich beschleunigenden Liquidierungsprozess verflüssigte, dass ihm wörtlich „nichts heilig“ ist, außer er sich selbst, das hat gerade die katholische Kirche früh notiert und heftig kritisiert.
Was die katholische Kirche hier lange verurteilte und später beklagte, das stellt sich freilich bisweilen auch als wirkliche Befreiung dar. Die Emanzipation der Frauen von männlicher Dominanz etwa, also die Auflösung der Zwangskopplung von Frauenbiographien an Männerbiographien, sie wäre ohne die vom kapitalistischen Modernisierungsprozess getriebene Integration der Frauen in den Arbeits- wie den Konsummarkt ein reichlich wirkungsloses idealistisches Postulat geblieben.
Der Kapitalismus befördert die Entweihung alles Heiligen, doch auch die Befreiung aus überkommenen sozialen Ordnungen.
Im Kapitalismus wuchs ein mächtiger und schließlich siegreicher Konkurrent heran, immer erfolgreicher bei der Prägung von Individuen und Sozialwesen, ebenbürtig an Kraft und Stärke und mindestens ebenso virtuos. Man erkennt diese Gegneridentifizierung nicht zuletzt daran, dass die Kirchen ihren eigenen Zentralbegriff in denunziatorischer Absicht auf die Zentralkategorie des Kapitalismus anwendeten und das Geld als den „Gott Mammon“ geißelten: eine echte, wenn auch eher ungewollte Anerkennung von Gleichrangigkeit.
Die ethische Kritik am Kapitalismus seitens der christlichen Kirchen entzündet sich bis heute am persönlichen Egoismus, am individuellen Streben nach Reichtum und Erfolg als Triebfeder kapitalistischer Dynamik. Was in praktischen allen religiösen Ethiken zurückgedrängt, eingedämmt, ja verurteilt wurde, die Orientierung zuerst und zuvorderst am eigenen, noch dazu ganz direkt materiell-quantitativ definierten Vorteil, wird im Kapitalismus zum Prinzip und zur Forderung an den Einzelnen, gerinnt schließlich in der Vorstellung vom Menschen als homo oeconomicus.
Ethisch: die Egoismusorientierung des Kapitalismus.
Es dauerte lange und bedurfte diffiziler Argumentationen und mehrerer Anläufe, um diese Orientierung am eigenen Nutzen in die bislang gültigen religiösen altruistischen Ethiken einzupassen. Die berühmteste und populärste Strategie bestand schließlich darin, den individuellen Egoismus über seine von ihm unbeabsichtigten, aber erhofften, manchmal auch tatsächlich eintretenden positiven Nebenfolgen für alle („Die Flut hebt alle Boote“; „Trickle-down-Effekt“) oder zumindest für einige („Schaffung von Arbeitsplätzen“) in einem utilitaristischen Kalkül ethisch zu rechtfertigen.
Ein anderer argumentativer Weg balancierte das individuelle berufliche Vorteilsstreben im Ganzen des eigenen Handelns mit demonstrativem individuellen Altruismus aus: Der durch den Egoismus erarbeitete materielle Erfolg sollte dann Basis individueller Wohltätigkeit werden. Man weist dann darauf hin, dass nicht wenige Reiche Teile ihres Vermögens wieder gemeinnützig für wohltätige Zwecke ausgeben. Dieser individuellen protestantischen Wohltätigkeitsethik steht auf katholischer Seite eine mehr der Institution als der Person vertrauende Variante gegenüber, etwa der „rheinische Kapitalismus“, der einen stattlichen Teil des Einkommens der Erfolgreichen über Steuern, Sozialabgaben und andere Mechanismen an als „bedürftig“ Definierte umverteilt.
Man spürt den Gegensatz von kapitalistischem Gewinnstreben und christlicher Ethik.
Die radikalste Variante einer Einpassung der Egoismusorientierung des Kapitalismus in die bestehenden altruistischen religiösen Ethiken besteht schließlich dann darin, letztere radikal zu drehen und den beruflichen und finanziellen Erfolg als direkten Ausweis göttlicher Erwählung und Gnade zu definieren und damit zu legitimieren. Dieses Konzept hat sich im Katholizismus nie wirklich durchgesetzt, auch nicht im deutschen lutherischen Protestantismus, wohl aber in gewissen süd- und nordamerikanischen Freikirchen. Vielleicht mit Ausnahme dieses radikalen „Wohlstandsevangeliums“ steckt in all diesen Einpassungsversuchen des neuen kapitalistischen Egoismus in die alte altruistische religiöse Ethik aber immer der Stachel der Rechtfertigung: Man spürt den Gegensatz von kapitalistischem Gewinnstreben und christlicher Ethik und erkennt an, dass man sich für das kapitalistische Streben nach Gewinn, Reichtum und Vorteilen rechtfertigen muss.
Sozial: die strukturelle Ungerechtigkeit der kapitalistischen Wirtschaftsweise.
Bleibt noch eine dritte Kritikschiene, der Verweis auf die manifesten Ungerechtigkeits- und Verelendungseffekte, die der Kapitalismus in seiner Geschichte immer wieder produziert hat und bis heute produziert. Spätestens als die beginnende Industrialisierung Europas im 19. Jahrhundert unübersehbar Massenelend bei gleichzeitigem exorbitantem Reichtumszuwachs einiger weniger produzierte, wurde die strukturelle Ungerechtigkeit der kapitalistischen Wirtschaftsweise aus christlicher Perspektive verurteilt, ganz besonders durch die katholische Kirche.
Der Einsatz des Christentums für Barmherzigkeit und Gerechtigkeit ist überlebensnotwendig.
Es entstand eine ganze neue theologische Disziplin, die Christliche Soziallehre, die als ordnungsfixierte, tendenziell anti-liberale Sozialmetaphysik begann und sich nach dem II. Vatikanum zur menschenrechts- und gerechtigkeitsorientierten Sozialethik mit deutlich kapitalismuskritischer Grundtendenz auf regionaler wie globaler Ebene hin entwickelt hat. Es entstanden im europäischen Christentum beider großer Konfessionen zudem soziale Bewegungen, die sich für die Verarmten in konkreter Tat und schließlich auch politischem Engagement einsetzten. Auch forderte man, etwa in der entstehenden Christdemokratie, die Einhegung des kapitalistischen Egoismus durch rechtliche Vorgaben und Rahmenregelungen seitens des Staates und verteilt einen nicht unerheblichen Teil des Volkseinkommens über Steuern und Sozialabgaben um.
Diese drei kirchlichen Kritikstränge am Kapitalismus – an seinen Auflösungseffekten traditioneller Bindungen, seinem inhärenten Egoismusstreben und seinen Verelendungsfolgen für jene, die er nicht braucht – sind einschlägig und sie bleiben höchst relevant. Gerade das letzte provoziert den Einsatz der Christen und Christinnen für individuelle Barmherzigkeit und soziale Gerechtigkeit. Dieser Einsatz ist überlebensnotwendig.
Der Kapitalismus formt das Innerste.
Aber vielleicht ist es mit dieser herkömmlichen christlichen Kritik am Kapitalismus noch nicht getan. Denn der Kapitalismus ist nicht nur ein immer expansiveres ökonomisches System, er schreibt sich auch tief in uns ein, in alles, in Wissenschaft und Politik, in Sport und auch in Religion und selbst unsere Liebesbeziehungen und auch in uns selbst. Wettbewerb, Verdinglichung, Quantifizierung, Kommodifizierung, extrinsische Motivationsanreize und intrinsische Motivationssteuerung, dichte Rückkopplungsnetze, permanente Optimierung und überhaupt das Leben im Kalkül: Der Kapitalismus formt das Innerste. Ein Außen zu ihm ist theoretisch relativ leicht, politisch schon schwerer, aber faktisch nur sehr schwer möglich. Gerade die Oppositionsstellung übersieht leicht das Wichtigste: den realen Kapitalismus im Eigenen.
Freilich: Der Kapitalismus ist nicht göttlich. Er mag dominant und mächtig sein, allmächtig aber ist er nicht. Die Allmachtsbehauptung und jene Alternativlosigkeit ist schon eine seiner Macht- und Verführungsstrategien, so etwa, wenn er den Menschen als homo oeconomicus des permanent kalkulierenden Eigeninteresses definiert.
Und ist doch nicht allmächtig.
Es bleibt der schmale Grat zwischen Distanzierung und Affirmation, zwischen Entsolidarisierung und Sich-Einpassen ins kapitalistische Dispositiv, zwischen Kritikgewissheit bei gleichzeitiger Übernahme kapitalistischer Prinzipien und Muster. Was möglich ist: Man kann Ausschau halten nach Taktiken und Strategien, im Kapitalismus ihm nicht zu verfallen: Es wäre eine der zentralen Aufgaben des Christentums heute.
Literatur
Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt/M. 2007
Rainer Bucher, Christentum im Kapitalismus. Wider die gewinnorientierte Verwaltung der Welt, Würzburg 2019
Eva Illouz, Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, Frankfurt/M. 2008
Photo: Rainer Bucher
Rainer Bucher ist Professor für Pastoraltheologie an der Theologischen Fakultät der Universität Graz und Mitglied der feinschwarz-Redaktion.
[1] Marx Karl/Engels Friedrich, Kommunistisches Manifest, in: MEW (Berlin 1977), Bd. IV, 459–493, 465.