Dorothee Sölle ist am 27.4.2003 verstorben. Anlässlich ihres 20. Todestages schreibt ihr Aline Ott, evangelische Theologin, einen Brief.
Liebe Dorothee,
man schreibt dich ohne Akzent, wie ich gerade erst gemerkt habe. Das ist schön. Passt zu dir. Melodisch, aber nicht zu viel Schnickschnack. Hattest du einen Spitznamen? Ich weiß es nicht, würde es gerne wissen, mit den Menschen reden, die du kanntest und die dich kannten. Kennen im besten Sinne des Wortes: sich gekannt und erkannt fühlen, durch deine blitzenden, leidenschaftlichen Augen hindurch bis in die Seele, das Sein, das, was dich ausmachte. Das Feuer, das bis heute durch die Seiten deiner Bücher zu mir hindurchzüngelt. In Gott denken schreibst du, dass diese hellaufe Begeisterung mit theologischen Wutanfällen zusammengehört.[1] Wut, wenn wieder starre Glaubenssätze, Ignoranz gegenüber ausbeutenden Strukturen oder nur männliche Gottesbilder für exklusiv christlich gehalten werden. Und ich fühle beides so sehr, Begeisterung und Wut, während ich mich durch die zu oft realitätsferne Theorieakrobatik meines ev. Theologiestudiums hangelte. Dabei bewundere ich dich und viele der christlichen Feministinnen vor mir für eure Zärtlichkeit, die viele von euch behalten haben. Klar in der Sache und weich im Herzen. Revolutionäre Geduld, wie du das auch nennst.[2] In ständiger Beziehung bleiben zu den Andersdenkenden.
Wie wohl bekäme es der Theologie als Ganzer, mehr von deiner revolutionären Geduld … zu haben.
Ich komme aus einer recht klassischen landeskirchlichen Sozialisation – und ich habe unglaublichen Hunger. Versteh mich nicht falsch: Ich habe viel guten Fisch auf den Teller bekommen. Aber ich habe nie gelernt zu angeln. Irgendwie und irgendwo gab es scheinbar einen Bruch zwischen den Generationen, durch den ich den Anschluss an euch feministische Vordenker:innen verloren habe. Und manchmal, so meine ich ohne Groll zu bemerken, haben wir inzwischen Sorge davor, mit der Bibel in der Hand erwischt zu werden. Sicher kann ich Gemeinschaft auch in Seebrücke-Ortsgruppen finden und Spiritualität beim Yoga erleben. Aber mir fehlte es lange an eigener lebendiger Frömmigkeit, bei der sich innere Begeisterung und theologische Wissenschaft treffen. Wie können wir weiter Theologie treiben, in einer Welt, die in den letzten Jahren für meine Generation in ungekannter Weise aus den Fugen geraten ist? Sicher nicht mit den alten Steinen.[3] Wie wohl bekäme es der Theologie als Ganzer, mehr von deiner revolutionären Geduld, deinem scharfen Blick für Missverhältnisse und Privilegien und der mystischen Sehnsucht zu haben.
Im Prozess entsteht eine herrschaftsfreie Theologie mit neuen Paradigmen, eine Theologie, die genau hinhört und zuhört.
In deinem Buch Mystik und Widerstand habe ich Heimat gefunden. Es ist ein wertvolles intergenerationales Erbe, mit dir Gemeinschaft in Büchern zu haben. Und weniger einsam im Hunger nach mehr zu sein. Schon die banale Erkenntnis, dass ich mir Zeit für mich und meine Sehnsucht nach Gott nehmen kann, vielleicht sogar muss, war befreiend. Mystik also als ein Versuch, die Gottesliebe zu leben, zu verstehen und zu verbreiten.[4] Mit tiefsinniger Textarbeit und exegetischer Klarheit pflegst du die biblischen Texte in deine Ausführungen ein. An deiner Konzeption mag ich so gerne, dass sie grundlegend ist für alles: Mystik ist die unterlegte Musik meines wissenschaftlichen Studiums, meiner Gebete und meiner mit Edding beschrifteten Demo-Pappkartons. Ein Herzschlag, der die Gegenwart Gottes sucht und der mich ohne ein verzweckendes „Warum“ in Resonanz mit dem Heiligen bringt. Mein Gottesbild änderte sich im Laufe der Lektüre deines Buches radikal. Du sprichst von einer verbindenden, heilenden Macht in uns. Die Koordinaten von Christologie von unten oder oben, Fundamentaltheologie und all die anderen dogmatischen Festlegungen werden in die Luft geworfen, neu gemischt, und schweben sanft wie Konfetti in kleinen Kreisen zirkulierend wieder herab. Im Prozess entsteht eine herrschaftsfreie Theologie mit neuen Paradigmen, eine Theologie, die genau hinhört und zuhört und es ernst meint mit der Menschenwürde aller, der Wertschätzung des Lichtes in jedem. Gehalten von der Tradition und Erzählgemeinschaft der Menschen, die vor uns geglaubt haben. Mystik kann vielleicht am besten mit dem Erfahren von Ganzheit umschrieben werden, sagst du.[5]
Die Unverbundenheit von Frömmigkeit und Aktivismus schaffst du zusammenzudenken.
Gleichzeitig merke ich, dass die Welt heute eben das nicht ist: ganz und eine Einheit. Wir leiden an der Zersplitterung: Dem Angriffskrieg auf die Ukraine, Neuigkeiten über den Klimawandel, den Angriffen auf queere Gottesdienste und den persönlichen Geschichten von Scheitern, Fehlern, Ohnmacht. Wo Menschen und ihre Würde angegriffen wird, kann ich nicht anders als mich zu solidarisieren. Und gleichzeitig habe ich Angst davor, dass wir an den Ängsten und Aufgaben zerbrechen oder mehr geben, als wir Kraft haben. Wir als junge Generation müssen die Klimakatastrophe stoppen und aushalten, eine nie dagewesene Spaltung in arm und reich überbrücken, gleichzeitig feiern immer mehr rechte(-evangelikale) Parteien Wahlsiege und Dinge überschlagen sich. Ich will als gläubige Christin mitwirken, diese Ganzheit zu schaffen, wo sie verletzt ist. Achtsamkeit kultivieren – auch für mich. Das Wort Achtsamkeit ist heute schon ziemlich verbrannt, aber ich will es in deiner guten Manier verwenden. In einer Verbundenheit, die auch uns stärkt, durch Formen wie Exerzitiengebeten, Tanz, Gemeinschaft etc., wie du vorschlägst. Die Unverbundenheit von Frömmigkeit und Aktivismus schaffst du zusammenzudenken, poetisch und klug. Ein feuriges Sehnen nach Himmel auf Erden. Im Miteinander von Mystik und Widerstand finde ich prozesshaft und doch markant das, was für mich Christin sein bedeutet.
Eine Welt ohne Poesie hat das Geheimnis der Schneeflocke aufgegeben.
Der mystische Widerstand gegen unwürdige Verhältnisse ist oft auch das Aushalten, dass es keine einfachen oder schnellen Lösungen gibt. Das „und“ ernst zu nehmen, welches Mystik und Widerstand verknüpft, statt direkt ein „aber“ zu setzen. Es gilt wohl, das „Dazwischen“ aushalten zu lernen. In einer Welt, die immer stärker versucht Ambivalenzen auszublenden, ist es auch eine christliche Aufgabe, das zu stärken, was uns verbindet. Wir brauchen Mystik. Eine Welt ohne Poesie hat das Geheimnis der Schneeflocke aufgegeben.[6] Wenn die Sprache das Handwerk der Theologie ist, müssen wir geduldig üben, sie zu schärfen.[7] So kann Gott auch wieder erfahr- und verstehbar werden für andere. Eine Sprache der Erfahrungen möglichst vieler – reich, chronisch krank, dick, Schwarz oder trans. Die Erfahrungen von Unterschiedlichkeiten pflastern ein Stück Weg auf der Suche nach Ganzheit. Mehr Perspektiven bedeuten auch mehr Verbindungen und Anknüpfpunkte. Das mag ich an deinen Ausführungen: Wir sind verbunden. Trotz all der unterschiedlichen Kategorisierungen, die notwendig sind um sprachfähig zu werden über Hautfarben, körperliche Merkmale oder geschlechtliche Identitäten – wir sind eins.
Vielleicht der gefährlichste Widerstand, der aus der Schönheit geboren wird.
Die Verbundenheit gibt es auch heute noch, liebe Dorothee, und sie hat Kraft. Schüler:innen- und Student:inneninitiativen wie „Churches for future“, „decolonize theology“, „Kritische Tage München“, „Mein Gott diskriminiert nicht“ und all vielen engagierte Studierendengruppen an Unistandorten, die sich für ein „mehr“ der Theologie einsetzen. Ich engagiere mich auch in so einer Initiative, bei #theoversity in Leipzig. Überall schreiben Studierende Hausarbeiten, die dich und deine theologischen Arbeiten rezipieren, thematisieren, weiterdenken. Die Gemeinde Spirit&Soul aus Berlin, die digitale Politische Nachtgebete organisiert, die Woltersberger Mühle, feministische Sozietäten mit hilfsbereiten Professorinnen und viele weitere sind Orte, an denen wir Glut und Funken miteinander teilen. Du hättest sicherlich keinen Personenkult um dich gewollt, aber der Geist, der deine theologische Begeisterung und heilige Wut trug, atmet weiter bei uns. Ich bin dankbar für die Kämpfe, die du für uns ausgefochten hast, ohne den Blick für das Schöne zu verlieren. Verbundenheit zu dir und den anderen feministischen Theolog:innen vor uns! Heute sind wir viel mehr in der Position nicht mehr nur auf androzentrische Theologie re-agieren zu müssen, sondern auf euren Schultern aktiv agieren zu dürfen und Neues voranzubringen. (Manchmal auch im „Dazwischen“ stehen zu bleiben und noch einmal zu erklären, warum Gleichberechtigung kein Trend ist. Aber das ist okay. Wir halten es mit deiner revolutionären Geduld.)
Ich freue mich über die Kraft und Schönheit von Verbundenheit – über unsere Generationen hinweg. Wie du sagst: Das ist vielleicht der gefährlichste Widerstand, der aus der Schönheit geboren wird.[8] Prost darauf in den Himmel!
[1] Dorothee Sölle: Gott denken: Einführung in die Theologie, Stuttgart 1990, S.9.
[2] Dorothee Sölle: Mystik und Widerstand. „Du stilles Geschrei“, München5 2003, S.250.
[3] Dorothee Sölle: Es muss doch mehr als alles geben. Nachdenken über Gott, Hamburg2 1994, S.56.
[4] Dorothee Sölle: Mystik und Widerstand. „Du stilles Geschrei“, München5 2003, S.15.
[5] A.a.O., S.14.
[6] Dorothee Sölle: Mystik und Widerstand. „Du stilles Geschrei“, München5 2003, S.173.
[7] Dorothee Sölle: Mystik und Widerstand. „Du stilles Geschrei“, München5 2003, S.149.
[8] Dorothee Sölle: Mystik und Widerstand. „Du stilles Geschrei“, München5 2003, S.14.
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Aline Ott ist ev. Theologin und Mitglied bei #theoversity. Sie promoviert zum Lukasevangelium bei Prof.in Claudia Janssen an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal.
Beitragsbild: Von Fotoburo de Boer – Noord-Hollands Archief, NL-HlmNHA 1478 43373K00 10, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=123768772